Loe raamatut: «KLfG Extrakt - Kanadische Gegenwartsliteratur»
Kanadische Gegenwartsliteratur
KLfG Extrakt
Herausgegeben von
Sebastian Domsch, Annegret Heitmann, Irmela Hijiya-Kirschnereit, Thomas Klinkert, Yvonne Pörzgen und Barbara Winckler
Kanadische
Gegenwartsliteratur
Herausgegeben von
Sebastian Domsch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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ISBN 978-3-96707-407-9
E-ISBN 978-3-96707-411-6
Umschlaggestaltung: Victor Gegiu
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020
Levelingstraße 6a, 81673 München
Inhalt
Einführung
Margaret Atwood
Dionne Brand
Leonard Cohen
Douglas Coupland
Esi Edugyan
Sheila Heti
Thomas King
Ann-Marie MacDonald
Alice Munro
Michael Ondaatje
Biogramme
Sebastian Domsch
Einführung
So.
In the beginning, there was nothing. Just the water. Coyote was there, but Coyote was asleep. That Coyote was asleep and that Coyote was dreaming. When that Coyote dreams, anything can happen.
I can tell you that.
Thomas King, Green Grass Running Water
Der Trickster ist eine der zentralen Figuren in der Mythologie der First Nations, der indigenen Völker Kanadas, ein archetypischer Schelmengott, anarchisch, unkontrollierbar, und letztendlich unkategorisierbar. Durch das Werk von indigenen Autor*innen wie Thomas King hat er längst auch Eingang in die kanadische Gegenwartsliteratur gefunden, und erscheint dort als ein treffendes Symbol eben dieser Literatur. Kings Figur des Coyote, eine klassische Version des Tricksters, unterläuft alle Versuche, Identitäten festzuschreiben, die auf Konzepten wie Nationalität, Ethnie, Sexualität, Geschlecht, Religion oder sozialer Klasse beruhen. Letztendlich kann dies wiederum verstanden werden als Teil eines größeren Projektes, sich von überkommenen, starren Kategorien loszuschreiben. Der Autor fügt sich damit in eine Nationen übergreifende postmoderne Denkbewegung ein, die jedoch im kanadischen Kontext des späten 20. Jahrhunderts noch eine ganz eigene, spezifische Relevanz erhält. Das US-amerikanische Verständnis von nationaler Identitätsbildung seit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 war zwar theoretisch inklusiv, aber weitgehend homogenisierend, mit dem zentralen Symbolbild des „Schmelztiegels“. Dies beinhaltete die grundsätzliche Möglichkeit für jeden, ein Amerikaner zu werden, und damit einen deutlichen Kontrast zu den herkunftsbestimmten Identitätskonzepten Europas, doch der Prozess betrachtete die Aufgabe eigener Identitäten – kulturell, sprachlich, religiös etc. – als notwendig für eine gelungene Assimilation. Demgegenüber setzte Kanada bereits wesentlich länger auf ein toleranteres Konzept von Vielfalt. Offiziell wurde diese Politik zum ersten Mal im Canadian Multiculturalism Act von 1971, der versuchte, die volle, gleichberechtigte Teilnahme an der kanadischen Gesellschaft von Menschen jeglicher Herkunft sowie das Zusammenspiel zwischen Menschen und Gemeinschaften verschiedenen Ursprungs zu fördern. Multikulturalismus statt Schmelztiegel, das heißt eben auch, dass Diversität akzeptiert werden muss.
In diesem Sinne evoziert Kings Roman „Green Grass, Running Water“ wie auch eine Reihe anderer kanadischer Erzählungen verschiedene Aspekte der kanadischen Geschichte, Mythologie und Kultur, verweigert sich aber der Vorstellung, es gäbe eine einzelne, klar definierbare nationale Identität, und unterläuft eine solche Vorstellung mit den Mitteln der Parodie und Allegorie sowie durch die Darstellung von Identität als vorläufig und performativ. Das soll nicht heißen, dass die Suche nach einer kanadischen Identität – und damit verbunden nach einer Nationalliteratur, die diese Identität zum Ausdruck bringt – kein Thema für kanadische Autor*innen gewesen wäre. Ganz im Gegenteil, bestimmt diese Frage doch im hohen Maße die gesamte kanadische Literaturgeschichte. Doch sie tut dies eben nicht notwendig in einer homogenisierenden oder mythologisierenden Weise. Die Autorin Margaret Atwood, die wie keine andere zu einem Symbol des (literarischen) Kanadas geworden ist, schrieb bereits 1995 in ihrem Buch „Strange Things: The Malevolent North in Canadian Literature“:
A great deal has been made, from time to time, of the search for ‘the Canadian identity’; sometimes we are told that this item is simply something we have mislaid, like the car keys, and might find down behind the sofa if we are only diligent enough, whereas at other times we have been told that the object in question doesn’t really exist and we are pursuing a phantom. Sometimes we are told that although we don’t have one of these ‘identities’, we ought to, because other countries do.
Kanadische Autor*innen haben sich also durchaus immer wieder und immer weiter an der Frage abgearbeitet, was das Kanadische ausmacht, und was kanadische Literatur sein könnte, aber sie tun dies von ganz unterschiedlichen Ausgangspositionen aus, mit ganz unterschiedlichen Grundannahmen, und kommen daher auf einen breiten Reichtum an Antworten. Dabei gibt es verschiedene größere Themenkomplexe, die sich in unterschiedlichen Phasen im Verlauf des letzten Jahrhunderts bis in die Gegenwart etabliert haben. Die Pluralität Kanadas ist gerade deshalb einzigartig, weil sie eine mehrfache ist, die sich grob in drei Bereiche aufgliedern lässt. Historisch gesehen am längsten wahrgenommen hat das moderne Kanada die Pluralität, die sich aus den beiden europäischen Kolonialisierungskulturen ergeben hat, der Britischen und der Französischen.
Ein Faktor, der bereits sehr früh in der Geschichte Kanadas allzu einfach homogenisierenden Tendenzen entgegenstand, ist daher die (mindestens) Zweisprachigkeit des Landes mit Englisch und Französisch. Auch auf dem Gebiet der späteren Vereinigten Staaten hatten eine Reihe europäischer Sprachen um die Vorherrschaft gerungen (so war etwa das erste dort gedruckte Buch in deutscher Sprache erschienen), doch Englisch setzte sich sehr bald durch und das Land vermeidet bis heute eine ganz offene Beschäftigung mit der Frage der offiziellen beziehungsweise der Amtssprache, obwohl oder gerade weil große Teile im Süden zunehmend de facto bilingual werden. Kanada hat im Gegensatz dazu seit dem späten 19. Jahrhundert auf politischer Ebene um diese Frage gerungen, was schließlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer offiziellen Zweisprachigkeit führte. Darüber hinaus ist mittlerweile Inuktitut die dritte Amtssprache im Territorium Nunavut, und in den Nordwest-Territorien besitzen zusätzlich neun Sprachen der Ureinwohner offiziellen Status. All dies schwächt die ausgrenzende Kristallisation eines Identitätsbegriffs um eine einzelne, dominante Sprache, wie sie sich erst jüngst in Brexit-England im Slogan „Speak English or Leave“ äußerte. Und es stärkt natürlich die Bandbreite einer Nationalliteratur, die sich all dieser Sprachen und ihres Ausdruckspotenzials bedienen kann.
Ein wesentlicher, aber eben auch sehr vielseitiger und problematischer Aspekt der Selbstdefinition von kanadischer Kultur und Literatur ist das Verhältnis zum dominanten Nachbarn im Süden, den Vereinigten Staaten von Amerika. Gerade die vielen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Ländern, die viel mehr als nur eine Sprache teilen, und der rege Austausch von Ideen und Personen machen eine Abgrenzung so notwendig wie problematisch. William Gibson wurde in Conway, South Carolina geboren und wuchs auch in den Staaten auf, emigrierte aber als junger Mann nach Kanada, um sich des Wehrdienstes in Vietnam zu entziehen. Seinen ersten Roman, „Neuromancer“ (1984), der die Konzepte „cyberspace“ und „cyberpunk“ international popularisierte, schrieb und veröffentlichte er als kanadischer Staatsbürger.
Kanadische Gegenwartsautor*innen haben mehrfach durch ihre Erzählungen Archetypen geschaffen, die weltweit als Ausdruck eines historischen Moments oder einer ganzen Generation wahrgenommen wurden – allerdings zunächst häufig verstanden im Kontext der Vereinigten Staaten. 1991 prägte Douglas Coupland mit seinem gleichnamigen Roman den Begriff der „Generation X“ und wurde zu einem ihrer wichtigsten Sprachrohre; seine Geschichte aber handelt von drei jungen Leuten, die ihren Lebensstil in Palm Springs, Kalifornien verwirklichen. Margaret Atwood lieferte 1984 mit ihrem Roman „The Handmaid’s Tale“ die definitive dystopische Vision und Kritik patriarchalischer Machtstrukturen, aber sie siedelte das repressive Regime „Gilead“, inspiriert von einem Studienaufenthalt, in Cambridge, Massachusetts an. Man kann diese Entscheidung natürlich auch als einen subtilen Akt des quasi-postkolonialen „Zurückschreibens“ verstehen, der dem angeblich rein auf Freiheitsidealen aufgebauten Nachbarn eine tief verwurzelte Intoleranz vorwirft, die sich bis auf seine fundamentalchristlichen Ursprungsmythen zurückführen lassen.
Die Mitte des 20. Jahrhunderts sah die Bestrebungen, eine Vorstellung von kanadischer Literatur überhaupt erst einmal zu konzeptualisieren und zu institutionalisieren, zunächst in Abgrenzung vom südlichen Nachbarn. Dies betraf sowohl die Seite der Literaturproduktion als auch der Literaturrezeption. Schulen und Universitäten bemühten sich seit den 1960er Jahren um die Aufnahme kanadischer Autor*innen in die Lehrpläne. Gleichzeitig wurde die staatliche Förderung für Literatur erhöht. Doch obwohl dies durchaus zu einem beachtlichen Anwachsen der kanadischen Verlags- und Literaturszene führte, war die Dominanz US-amerikanischer und auch britischer Literatur nicht leicht zu überwinden. Noch 2002 stellte ein vom Canada Council for the Arts angefertigter Bericht fest, dass nur wenige Studierende in der Lage waren zehn kanadische Autor*innen zu nennen.
Rückblickend kann man sagen, dass dies vielleicht auch daran gelegen haben mag, dass bis weit ins 20. Jahrhundert ein zentraler und eben auch genuin kanadischer Bereich der Gesellschaft, Kultur, und damit auch Literatur systematisch ausgegrenzt wurde: die indigene Bevölkerung. Erst seit sich in den 1970er Jahren eine offizielle Politik des Multikulturalismus etablierte, gelang es indigenen Stimmen, im politischen und kulturellen Diskurs zunehmend gehört zu werden. Mittlerweile haben diese Stimmen aber ein größeres Gewicht erhalten und tragen ebenfalls wesentlich zur Komplexität der Vorstellung von kanadischer Identität und kanadischer Literatur bei. Autoren wie Thomas King und Drew Hayden Taylor, aber auch Autorinnen wie Aviaq Johnston und Lee Maracle und viele mehr haben nationale wie internationale Anerkennung und vor allem auch Leser gefunden.
Historisch gesehen in den Fokus gerückt ist schließlich die Erkenntnis, dass sich die Einwanderungskultur Kanadas nicht nur aus dem „alten Europa“ speist, sondern von überall aus der Welt, von Südasien über Sri Lanka und Afrika bis zur Karibik. Das moderne Kanada ist als Einwanderungsland entstanden, und es bleibt ein Einwanderungsland. Doch auch hier gilt, dass die literarische Repräsentation der gesellschaftlichen Wirklichkeit sehr lange hinterherhinkte, sodass man erst in den letzten Jahrzehnten davon sprechen kann, dass die Vorstellung von kanadischer Literatur ganz selbstverständlich auch die Erfahrungen nicht-europäischer Einwanderer sowie nicht als „weiß“ wahrgenommener Kanadier umfasst, und dass diese Erfahrungen ihren Ausdruck erhalten.
Erst mit dem Zusammenspiel verschiedener postkolonialer europäischer Kulturen, den überaus reichen und diversen Kulturen der verschiedenen indigenen Völker, der Inuit und der Métis (Nachkommen von Cree und Europäern) und der fortgesetzten Einwanderung von überall aus der Welt, ergibt sich wirklich die einzigartige Vielfältigkeit, derer sich Kanada heute rühmen kann.
Selbstverständlich sind die Entwicklungen hin zu einem inklusiven, multikulturellen Land frei von Vorurteilen oder struktureller Benachteiligung weder in irgendeiner Weise abgeschlossen, noch haben sie sich ohne Reibungen, Widersprüche, Rückschläge oder Probleme ergeben. Bereits die Frage nach der Mehrsprachigkeit und dem Verhältnis zwischen dem frankophonen und dem anglophonen Teil haben immer wieder zu Gewalt und auch Hass geführt, die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung ist noch nicht einmal vollständig aufgearbeitet, von ihrer Beseitigung oder gar Wiedergutmachung ganz zu schweigen. Die letzten Internate für die kulturelle Assimilierung autochthoner Kinder, in denen diese gewaltsam von ihren Eltern getrennt waren, wurden erst 1996 abgeschafft. Und Rassismus gehört auch heute noch zur Alltagserfahrung vieler Menschen in Kanada. Dass aber überhaupt Fortschritte gemacht wurden auf diesem Weg, ist eben nicht zuletzt auf die Stimmen derjenigen – häufig wütend, unnachgiebig, kämpferisch, aber auch durchaus hoffnungsvoll – zurückzuführen, die ihn begleitet, oder ihn überhaupt erst für eine breitere Bevölkerung sichtbar gemacht haben. Und die Literatur ist dabei nun einmal ein wichtiges, wenn nicht sogar das zentrale Ausdrucksmittel. Wenn sich also Kanada auf der Frankfurter Buchmesse unter dem Motto „Singular Plurality“ präsentiert, dann beschreibt dies durchaus korrekt sowohl die Tatsache, dass Kanada unweigerlich durch seine Vielfältigkeit geprägt ist, als auch dass sein Weg, damit umzugehen anders ist als der anderer Länder; um aber zu erfahren, wie es um die Wirklichkeit hinter diesem utopischen Anspruch steht, was tatsächlich bereits erreicht ist und wo es nach wie vor fehlt, dafür muss man die kanadische Literatur der Gegenwart lesen und den Geschichten und Gedichten lauschen, die aus allen Winkeln dieses unendlich großen Landes berichten, und aus allen Bereichen dieser wahrhaft vielfältigen Gesellschaft.
Ein vielleicht überraschendes Ergebnis eines solchen Lauschens ist die Erkenntnis, dass kanadische Literatur der Gegenwart Weltliteratur ist, eine Literatur von globalem Format und Wirkung, prestigeträchtig ausgezeichnet, hochaktuell und kontrovers. In der Tat liegt der Erfolg der kanadischen Literatur im 21. Jahrhundert nicht zuletzt in ihrer transnationalen und multikulturellen Ausrichtung. Kanadische Themen der Gegenwart sind auch gleichzeitig globale Themen, von Bürgerrechten über Geschichtsrevisionismus, von Erinnerung und Trauma über Postkolonialismus und Postmoderne bis zu Migration und Diaspora, von der Erhaltung der Umwelt über die Erhaltung indigener Kultur bis zur Frage nach zeitgemäßen Gesellschaftsformen, gerade auch angesichts des technischen Fortschritts und der mit ihm einhergehenden globalen Biopolitik.
Ein ganzes Land durch seine Literatur zu erfahren, ist ein unheimlich bereicherndes Erlebnis, eine magische Fernreise vom Lesesessel aus, die uns zu einer großen Anzahl von spannenden Menschen bringt und uns an ihrem mal komischen und mal tragischen Leben teilhaben lässt, die Landschaften und Kulturen von der fernsten Vergangenheit bis in die aktuelle Gegenwart hinein vor unserem geistigen Auge erstehen lässt – aber es ist auch eine ungeheure Herausforderung angesichts des unüberschaubaren Reichtums an Texten und Autor*innen. Insofern lässt sich dieser Band in gewisser Weise wie ein Reiseführer verstehen, wenn auch keiner, der Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.
Selbstverständlich stellt dieser Band die Breite der kanadischen Gegenwartsliteratur nur durch eine sehr selektive Auswahl vor. Etwas anderes wäre wohl auch kaum möglich bei einem florierenden Buchmarkt, der 300 Buchverlage umfasst, die in über 80 Städten in den 10 Provinzen und 3 Territorien ansässig sind. Diese, vom unabhängigen Kleinstverlag bis zum kanadischen Ableger internationaler Branchenriesen, produzieren pro Jahr rund 8500 Neuerscheinungen in allen Formaten, das heißt Druck, Digital und Audio. Dies erschöpfend darzustellen, ist schlicht unmöglich. Es ging bei der Auswahl allerdings auch nicht um eine Rangliste, weder was die kommerziell erfolgreichsten Autor*innen anging, noch die „besten“, eine Kategorie, die ohnehin hochgradig problematisch ist. Natürlich finden sich hier Namen, die in einer Bestandsaufnahme der kanadischen Gegenwartsliteratur einfach nicht fehlen dürfen, darüber hinaus sollte es aber auch den Raum für Neuentdeckungen geben, gerade bei den jüngeren Autor*innen, aber auch bei älteren, wie etwa durch den vielleicht überraschenden Blick auf den 2016 verstorbenen, weltberühmten Musiker Leonard Cohen als Literat.
Um mit den „Superstars“ anzufangen, ein markantes Phänomen in der kanadischen Gegenwartsliteratur ist in der Tat das Aufkommen von Autor*innen, die internationale Berühmtheit und zum Teil sogar Kultstatus erlangen. Dabei handelt es sich allerdings keineswegs um Erfolge über Nacht. Autor*innen wie Margaret Atwood oder Alice Munro schreiben seit vielen Jahrzehnten und haben sich ein umfangreiches und beeindruckendes Œuvre aufgebaut. Auch waren sie bisher nicht wirklich unbekannt. Michael Ondaatje erzielte zunächst 1992 einen beachtlichen Erfolg mit seinem Roman „The English Patient“, der 1996 durch die sehr erfolgreiche Verfilmung noch deutlich gesteigert wurde und ihm zu internationaler Bekanntheit verhalf. Atwood gehörte bereits seit ihren frühen Büchern zu den prominentesten Stimmen Kanadas, und Munro war schon lange einer der großen „Geheimtipps“ der kanadischen Gegenwartsliteratur. Doch ihr Literaturnobelpreis sowie die jüngsten Ehrungen für Atwood und vor allem die prominente Fernsehverfilmung ihres dystopischen Romans The Handmaid’s Tale haben eine neue Qualität von Bekanntheit mit sich gebracht. Atwood und Munro sind damit zu Botschaftern für den Weltrang der kanadischen Literatur geworden, und sie sind natürlich auch hier vertreten, ebenso wie Michael Ondaatje und Douglas Coupland, der bereits in den 1990ern zum Kultautor wurde und seitdem zum bisweilen prophetisch erscheinenden Seismografen für zeitgenössisches Lebensgefühl avanciert ist.
Thomas King steht in diesem Band als prominentestes Beispiel für die zeitgenössische Literatur der First Nations und für die produktive Synthese, die sich aus den traditionellen mündlichen Erzählverfahren und Mythologien der indigenen Bevölkerung mit modernen und postmodernen literarischen Verfahren ergeben kann. Gerade aufgrund dieser Synthese eignet er sich auch hervorragend als Einstieg in die Erfahrungs- und Ausdruckswelt der indigenen Kulturen und ihr ambivalentes Verhältnis zur Kolonialgeschichte und zur dominanten, europäisch geprägten kanadischen Gegenwartskultur.
Wie bereits eingangs am Werk von Thomas King gezeigt, zeichnen sich die kanadischen Autor*innen, deren Werk in diesem Band vorgestellt wird, immer wieder durch das Überschreiten von Grenzen aus. Häufig handelt es sich dabei um geografische Grenzen, wie im Fall der von ghanaischen Einwanderern abstammenden Esi Edugyan oder des singhalesisch-holländisch-stämmigen Michael Ondaatje, deren Figuren zwischen Kanada, den Vereinigten Staaten, Deutschland und Afrika angesiedelt sind. Entsprechend der gegenwärtigen Entwicklung finden sich in diesem Band Beiträge zu einer Reihe von Stimmen, für die die Erfahrung von Einwanderung ebenso ein Teil ihrer Identitätsbildung ist wie die Begegnung mit der und die Integration in die kanadische Gesellschaft. Neben den bereits Genannten gehört dazu auch Dionne Brand, die 1953 auf Trinidad und Tobago geboren wurde, und die 1997 einen Governor General’s Award erhielt und 2017 in den Order of Canada aufgenommen wurde.
Bei den angesprochenen Grenzüberschreitungen handelt es sich aber auch um Gattungsgrenzen, etwa die noch immer misstrauisch beargwöhnte Frontlinie zwischen Autobiografie und Fiktion, auf der Sheila Heti zur Grenzgängerin wird, oder sogar die zwischen Literatur und Popmusik, wie sich in der erstaunlichen Karriere von Leonard Cohen zeigt. Allen Autor*innen gemeinsam aber ist, dass sie uns nicht nur einen oder auch mehrere Steinchen zu dem komplexen Mosaik namens „Kanada“ bieten, sondern darüber hinaus sich mit Themen beschäftigen, die uns alle angehen und berühren – und die nicht zuletzt spannende und erbauliche, manchmal auch verstörende oder verärgernde, immer aber lesenswerte Literatur darstellen. Die jeweiligen Beiträge sollen dafür einen Überblick über das schriftstellerische Werk liefern, der sich an der biografischen Chronologie orientiert, der aber auch gewichtend, analysierend und wertend ist. Dies ist kein Lexikon kanadischer Gegenwartsliteratur, sondern ein Über- und Einblick, der Orientierung verschaffen, Lust zum Lesen machen, aber auch Anreiz zum Nachdenken und Kritisieren liefern soll.
Sebastian Domsch
Mechthild Stüber / Reingard M. Nischik
Margaret Atwood
Die Kanadierin Margaret Atwood gilt heute weit über den englischsprachigen Sprachraum hinaus als eine herausragende, führende Schriftstellerpersönlichkeit des 20. und 21. Jahrhunderts. Einflussreich auch als Literatur- und Kulturkritikerin mit Breitenwirkung in den Print- und elektronischen Medien hat Atwood ab den 1960er Jahren maßgeblich die Renaissance der kanadischen Literatur mitbefördert und sich nachhaltig für die Entwicklung einer eigenständigen und international erfolgreichen kanadischen Literatur eingesetzt.
In ihrer frühen Abhandlung „Survival“ (Überleben, 1972) arbeitet Atwood ein Grundmotiv kanadischer Literatur, in Abgrenzung zur englischen und amerikanischen Literatur, heraus: „Das zentrale Symbol für Kanada (…) ist zweifelsohne das Überleben. (…) Für die Entdecker und Siedler bedeutete es das nackte Überleben in einer feindlichen Umwelt (…). Für Frankokanadier wurde es zur kulturellen Selbstbehauptung gegenüber der englischen Kolonialmacht (…). Und im jetzigen Kanada wird es zur Selbstbehauptung gegenüber den Vereinigten Staaten.“
Überleben heißt für Atwood auch, als Frau eine Lebensform zu finden, die frei ist von Unterdrückung und Fremdbestimmung. So wird die Suche nach Lebensentwürfen, die diese Voraussetzungen erfüllen, zu einem Leitthema in ihrem Werk. Es prägt Atwoods Gedichte ebenso wie ihre Short Stories, wird aber vielleicht am sinnfälligsten in ihren Romanen gestaltet. Als Erzählerin beruft sich Atwood weitgehend auf die Tradition der großen englischen Schriftstellerinnen und deren psychologischen Realismus. Erstmals erprobte sie diesen in ihrem Erstlings-Roman „Die essbare Frau“, der 1965 entstand und 1969 publiziert wurde, zu einer Zeit also, als die Frauenbewegung auf dem nordamerikanischen Kontinent größere Bedeutung erlangte. Der Roman ist von vielen sogleich als Produkt dieser Bewegung aufgenommen und gefeiert worden.
Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die Gefahr läuft, vom bürgerlichen Leben aufgezehrt zu werden. Marian MacAlpin ist Anfang 20 und hat gerade das College absolviert. Sie arbeitet für ein Marktforschungsunternehmen und widmet sich in der Freizeit ihrem Freund Peter, einem angepassten Aufsteiger, der im Begriff ist, als Rechtsanwalt Karriere zu machen. Er will Marian, nicht zuletzt aus Karrieregründen, heiraten, und diese stimmt zu; doch je näher der Hochzeitstermin rückt, desto mehr fühlt sie sich in die Enge getrieben. Durch die zufällige Begegnung mit dem Studenten Duncan, einem neurotischen Egozentriker, der am Rande der bürgerlichen Existenz lebt und Marian zunehmend fasziniert, gerät sie in eine Lebenskrise. Sie wird von einem Essensekel befallen, der zusehends stärker wird. Erst als ihr bewusst wird, dass er in ihrer Furcht gründet, von den stark geschlechterdifferenten Konventionen verschlungen zu werden, kann sie ihn überwinden. Bei einem letzten Treffen mit Peter serviert sie ihm einen selbstgebackenen Kuchen in Form einer Frau und setzt damit ein ironisches Zeichen ihrer beginnenden Emanzipation.
Atwoods ‚protofeministischer‘ Roman über die einengende Lebenswirklichkeit und das Aufbegehren einer jungen Frau im Kanada der 1960er Jahre besticht durch seinen spielerischen, humorvollen Erzählton. Die durchweg markanten Figuren sind aus ironischer Distanz gezeichnet; sie haben skurrile Züge und geraten in extreme Situationen und Milieus. Ihre Versuche, aus spießbürgerlichen Lebensweisen zu entkommen, sind von eingängiger, erfrischender Komik gekennzeichnet.
Hatte Atwood mit ihrem Roman-Debüt ein an Geschlechterproblemen orientiertes, gleichwohl humorvolles Gesellschaftsporträt vom Toronto der 1960er Jahre vorgelegt, so behandelt sie in ihrem zweiten Roman, „Der lange Traum“ (1972), die Entfremdung und den Selbstfindungsprozess einer jungen Frau in einem ganz anderen Ton, der über weite Strecken zu einer düsteren lyrischen Prosa verdichtet ist. Die Geschichte selbst ist handlungsarm.
Eine namenlose Ich-Erzählerin fährt mit ihrem Freund und einem befreundeten Ehepaar in ihre Heimat in der französischsprachigen Provinz Quebec im Norden Kanadas. Ziel ist eine einsame Insel, auf der die Familie der Protagonistin einst gelebt hatte und wo der Vater jetzt auf mysteriöse Weise verschollen ist. Die wenigen Tage, die die Besucher auf der Insel verbringen, werden zu einer schweren Belastungsprobe, denn ihr Aufenthalt in der Wildnis offenbart, dass die Beziehungen der beiden Paare schon lange brüchig geworden sind. Während sich die Freunde immer mehr zerstreiten, begibt sich die Ich-Erzählerin auf die Suche nach ihrem Vater. Als sich der Verdacht von dessen Tod bestätigt, verlässt sie nicht mit den anderen die Insel, sondern bleibt dort, um in der Natur ihrer eigenen verlorenen Identität nachzuspüren.
Die Autorin benutzt diese Geschichte als Folie für die Beschreibung eines weiblichen Selbstfindungsprozesses. Die Rückkehr in die Wildnis und die Suche nach dem Vater werden zur Suche nach der eigenen, authentischen Lebensgeschichte, nach der Vergangenheit und dem verdrängten Selbst. Atwood entfaltet diese Vergangenheit nach und nach und in Andeutungen. In Rückblenden, Reflexionen und Traumbildern werden die zuweilen traumatischen Erfahrungen der Protagonistin erkennbar, die zur Selbstentfremdung geführt haben und die auch die Beziehung zu ihrem Freund nachhaltig stören. Ihre psychische Deformation wird mit dem gesellschaftlichen Kontext in Zusammenhang gebracht, der durch Amerikanisierung und Naturzerstörung gekennzeichnet ist. Im Gesellschaftsbild dieses Romans manifestiert sich Atwoods kritische Sicht auf die USA. Die dominante Machtposition der Vereinigten Staaten und die drohende Gefahr des wirtschaftlichen und kulturellen Ausverkaufs Kanadas werden als zunehmende Bedrohung der kanadischen Natur sinnfällig: So registriert die Ich-Erzählerin schon während der Autofahrt in den Norden und erst recht während des Aufenthaltes auf der entlegenen Insel den Einbruch und das Fortschreiten der Zivilisation vor allem in ihren negativen Aspekten. Hinweise auf Industrialisierung und Technologisierung sowie auf den wachsenden Massentourismus verdeutlichen dies. Atwood setzt diese äußeren Veränderungen in Beziehung zu Veränderungen individueller Befindlichkeiten und zeigt, dass die fortschreitende Zerstörung der Natur einhergeht mit der Entfremdung des Individuums.
Die Entfremdung von Mensch und Natur liefert schließlich auch das Erklärungsmodell für das Verhältnis zwischen Mann und Frau: Es ist beschädigt, weil Männer – selbst deformiert (hier vor allem David) – tendenziell sowohl die Natur als auch die Frau zu beherrschen und zu zerstören suchen. Atwood exemplifiziert dies an der Protagonistin. Sie beschreibt deren Unterdrückung, das gestörte Verhältnis zwischen Kopf und Körper, das für ihr schizoides, ja teilweise sogar schizophrenes Erleben verantwortlich gemacht wird: „Ich teilte mich. Die andere Hälfte, die weggeschlossene, war die einzige, die leben konnte; ich war die falsche Hälfte, losgelöst, erloschen. Ich war nichts als ein Kopf.“ Die Rückkehr zu einem authentischen und ganzheitlichen Selbst vollzieht sich über eine mythische, surreal beschriebene Vereinigung der Ich-Erzählerin mit der Natur. Sie, die einst werdendes Leben abgetrieben und dies jahrelang vor sich und anderen verdrängt hat, imaginiert sich in den Zustand eines Tieres, um Teil der Natur zu werden. Nach dieser Erfahrung, die sie als wahnhaft, aber auch als Versöhnung von Geist und Körper erfährt, kann sie sich mental auf die Rückkehr in die Zivilisation und Alltagswirklichkeit vorbereiten.
„Der lange Traum“ lässt sich als literarische Umsetzung von Atwoods im gleichen Jahr erschienenen literarischen Programmschrift „Survival“ lesen. Beide Texte artikulieren Atwoods kritische Sicht auf die USA und ihr Bekenntnis zu einer genuinen kanadischen Identität in enger Verflechtung mit ihren feministischen und damit humanistischen Überzeugungen. Der Roman demonstriert Atwoods Sprachkunst und poetische Ausdruckskraft, die in dieser stilistisch komprimierten Intensität auch die Lyrikerin durchscheinen lässt.
Auf wiederum ganz andere Weise setzt sich Atwood in ihrem dritten Roman, „Lady Orakel“ (1976), mit dem Themenkomplex weibliche Identität auseinander. Diesmal begibt sich die Protagonistin nicht auf die Suche nach ihrer Identität; vielmehr entzieht sie sich der bewussten Auseinandersetzung, indem sie in eine literarische Ersatzwelt flüchtet.
Geschildert wird das Doppelleben der Joan Forster, die stets auf dem Sprung ist, sich in die Welt ihrer Bücher davonzumachen. Angefangen hatte es damit, dass sie historische Trivial- und Liebesromane unter dem Pseudonym Louisa Delacourt verfasste. Jetzt bringen ihr die Schundromane Geld ein, ermöglichen ihr aber vor allem, sich einen imaginären Raum zu schaffen, in dem sie ihr fiktives Leben inszenieren kann. Auch als Joan unter eigenem Namen Beachtung als Literatin findet, schreibt sie gleichzeitig als Louisa Delacourt weiter. Es wird ihr zur Obsession, das Leben immer wieder neu zu erfinden, und je trister sich ihr lebensweltlicher Alltag gestaltet, desto mehr benötigt sie abenteuerliche Fiktion zur Kompensation. Am Ende wird die Grenze zwischen Realität und Imagination fließend: Um aus ihrem unübersichtlich gewordenen Leben zu entkommen, fingiert und inszeniert Joan ihren eigenen Tod und verschwindet als Louisa Delacourt nach Italien.