Der Aufrechterhaltung motivationaler Faktoren kommt für den Lernprozess bzw. deren Kompensation während des Lockdowns und des daraus resultierenden saLzH eine tiefere Bedeutung zu. Generell wirken sich Merkmale der Schülerinnen und Schüler selbst, der Lehrenden oder der Lernumgebung auf die Lernmotivation der Schülerinnen und Schüler aus (vgl. Huber/Helm 2020: 43). Sofern eine Motivierung durch das häusliche Umfeld aus unterschiedlichsten Gründen, z.B. durch hohe Arbeitsbelastung, fachliche oder sprachliche Schwierigkeiten der Erziehungsberechtigten, eine zu hohe Herausforderung darstellt, kommt der Ausgestaltung des saLzH seitens der Schule eine umso höhere Relevanz zu (vgl. u.a. Wildemann/Hosenfeld 2020: 9f., Karakayalı/Heller 2020: 8). So identifizierten Huber und Helm (2020) zwei Schülergruppen, bei der diejenige wenig lernmotiviert war, für die selbstorganisiertes und selbstständiges Lernen während der pandemiebedingten Schulschließung eine Herausforderung darstellte und die saLzH eher als Ferien wahrnahm (vgl. Huber/Helm 2020: 41). Lernunerfahrene Schülerinnen und Schüler werden solche Kompetenzen und Lernstrategien schwieriger zu nutzen wissen, da sie ihnen mangels Erfahrung schlichtweg fehlen.
Für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche besteht in Berlin altersunabhängig eine allgemeine Schulbesuchspflicht, die mit Ablauf des zehnten Schulbesuchsjahres abgegolten ist (§ 42 Abs. 4 SchulG Berlin). Die temporären Lerngruppen für Neuzugänge ohne oder mit geringen (deutschen) Sprachkenntnissen, auch Willkommensklassen, bilden eine vom Senat für Bildung, Jugend und Familie (SenBJF) errichtete, auf den Spracherwerb fokussierte Form der Schulerstintegration (vgl. SenBJF 2018). Im Schuljahr 2019/2020 waren dies 5708 Schülerinnen und Schüler in 523 Wiko-Klassen. Ziel der Wiko-Klassen ist es, durch eine fokussierte Sprachvermittlung des Deutschen einen möglichst schnellen Übergang in eine Regelklasse zu bereiten. Ein konkretes Curriculum besteht bisher für allgemeinbildende Schulen nicht, lediglich für die beruflichen und zentral verwalteten Schulen (vgl. Gamper et al. 2020; Wiażewicz et al. 2017). Bei besonderen Bedarfen, wie einer (Erst-)Alphabetisierung, kann ein gesondert ausgerichteter Unterricht, z.B. in Alphabetisierungsgruppen, angeboten werden (vgl. SenBJF 2018: 15). Auch während der Pandemie bestanden diese Beschulungsmodelle und waren ebenso von den regulären pandemiebedingten Maßnahmen im schulischen Bereich, wie Schließungen mit teils einhergehendem saLzH, Hybridunterricht u.ä. betroffen.
Nach Aussagen der Berliner Integrationsbeauftragten Katarina Niewiedzial in der Süddeutschen Zeitung (vgl. SZ 2021) seien für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler „die Anforderungen des Homeschooling kaum zu bewältigen“. Gestützt auf die Erfahrungen des ersten pandemiebedingten Lockdowns im Frühjahr 2020 finden sich bereits erste Anpassungsmaßnahmen seitens der SenBJF Berlin hinsichtlich der Beschulung dieser Gruppe. Im Handlungsrahmen für das Schuljahr 2020/21 (SenBJF 2020a) finden sich verschiedene Empfehlungen zur Konzeptentwicklung von Beschulungsmaßnahmen während der Pandemie, auch im Falle erneuter (Teil-)Schließungen der Schulen, z.B. für die Verschränkung von saLzH und Präsenzunterricht, oder zur Leistungsfeststellung. Im Dezember 2020 wurde der Handlungsrahmen um ein weiteres Schreiben ergänzt, das u.a. gesonderte Bedarfe der Gruppe der neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler berücksichtigt. So wird in den Ergänzungen zum Handlungsrahmen folgendes konstatiert: „Für Schülerinnen und Schüler mit keinen oder geringen Deutschkenntnissen sind Lernfortschritte im schulisch angeleiteten Lernen zu Hause kaum oder gar nicht möglich“ (SenBJF 2020b: 4), einhergehend mit der Empfehlung einer Gleichstellung zur Schülergruppe des Primarbereichs, mit einem Mindestumfang von drei Stunden täglich im Präsenzunterricht. Auch wird eine Verlängerung eines möglichen Nachteilsausgleichs für ehemalige Schülerinnen und Schüler der Wiko-Klassen, die im Übergang bzw. bereits in der Regelklasse sind, von zwei auf drei Jahre festgelegt. Dass eine Umstellung auf reinen Onlineunterricht den Bedarfen neu zugewanderter Schülerinnen und Schüler nicht ganz entspricht, geht auch aus den wenigen empirischen Studien (s. Kap. 2.1) hervor sowie aus der hier im Folgenden vorgestellten Untersuchung.
Wie dargestellt wurde, bilden die Schülerinnen und Schüler aus Vorbereitungsklassen eine besonders vulnerable Gruppe, da sie in der Bildungslandschaft hinsichtlich ihres Bedarfs bisher häufig „übersehen“ wurden. Um den Fokus auf diese Gruppe zu lenken, wurden Schülerinnen und Schüler aus einer Wiko-Klasse und einer Alpha-Klasse sowie ihre Lehrkräfte hinsichtlich ihrer Erfahrungen und Einschätzungen zum Lernen in Distanz während der pandemiebedingten Schulschließungen interviewt.
Am problemzentrierten Leitfadeninterview (vgl. Riemer 2016: 165) nahmen insgesamt zwölf Schülerinnen und Schüler sowie ihre Klassenlehrkräfte teil. Von den zwölf Schülerinnen und Schülern befanden sich zum Erhebungszeitpunkt neun Schülerinnen und Schüler in einer Wiko-Klasse und drei Schülerinnen und Schüler in einer Alpha-Klasse. Die Erhebung sprachbiografischer Daten der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler ermöglicht einen Überblick über sprach- und lernbiografische Voraussetzungen der Klassen (s. Tab.1). So wurden das Alter, das Herkunftsland sowie die Familiensprachen1 und weitere erworbene Sprachen, die Beschulungserfahrungen und die bisherige Aufenthaltsdauer in Deutschland erhoben.
Sprachbiografische Daten Wiko-Klasse (W) und Alpha-Klasse (A) | ||||
Kennung | Aufenthalt in Deutschland zum Erhebungszeitpunkt (Jahr; Monat) | Alter zum Erhebungszeitpunkt | Sprachen (L1, L2, L32 – Trennschärfe der Sprachzuordnung nicht immer klar gegeben) | Herkunftsland |
W1 | 1;0 | 16 | Spanisch (L1), Englisch (L3) | Kolumbien |
W2 | 1;6 | 14 | Mandinka (L1), Englisch (L2) | Gambia |
W3 | 7;0 | 15 | Arabisch (L1) | Syrien |
W4 | 1;0 | 15 | Arabisch (L1), Englisch (L3) | Jemen |
W5 | 2;0 | 16 | Türkisch (L1), Deutsch (L2), Englisch (L3) | Türkei3 |
W6 | 1;8 | 15 | Wolof (L1), Englisch (L2) | Gambia |
W7 | 2;0 | 17 | Maninka (L1), Fula (L1), Französisch (L2), Susu (L3), Englisch (L3) | Guinea |
W8 | 2;0 | 15 | Türkisch (L1), Englisch (L3) | Türkei |
W9 | 0;6 | 15 | Arabisch (L1), Französisch (L2), Englisch (L3) | Algerien |
A1 | 1;7 | 18 | Kurmancî (L1), Arabisch (L1) | Syrien |
A2 | 1;4 | 19 | Arabisch (L1) | Syrien |
A3 | 2;0 | 21 | Arabisch (L1) | Libanon |
Tab. 1: Sprachbiografische Daten Willkommens- und Alpha-Klasse
Die befragten Schülerinnen und Schüler in der Wiko-Klasse (W1-W9) sind zum Erhebungszeitpunkt zwischen 14 und 17 Jahre alt und durchschnittlich seit 2 Jahren in Deutschland. Die Herkunft der Gruppe setzt sich sehr heterogen zusammen. Alle Schülerinnen und Schüler der Wiko-Klasse haben vor ihrer Einreise nach Deutschland eine weitestgehend durchgängige Beschulung erhalten4. Von den neun interviewten Schülerinnen und Schülern der Wiko-Klasse wurden zwei Interviews nicht berücksichtigt, da bei den Teilnehmerinnen W6 und W8 die Verbindung unterbrochen wurde. Die drei Schülerinnen und Schüler der Alpha-Klasse (A1-A3) sind 18, 19 und 21 Jahre alt und stammen aus Syrien und dem Libanon. Die Schule im Herkunftsland haben alle unregelmäßig bis zur 3. bzw. 5. Klasse besucht. Entsprechend gering sind die Vorkenntnisse der Befragten im Schriftspracherwerb. Ein Alpha-Schüler/eine -Schülerin gibt an, das Lesen im Arabischen autodidaktisch erworben zu haben, ein anderer/eine andere kann ein wenig Arabisch schreiben, während der/die dritte Schüler/Schülerin im Deutschen zum ersten Mal Schreiben lernt.
Die Daten wurden mittels problemzentrierter Leitfadeninterviews erhoben, um eine stärkere Steuerung des Gesprächsverlaufs und damit einhergehend eine Fokussetzung seitens der interviewten Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte zu gewähren (vgl. Bortz/Döring 1995: 283). Bei den Interviews handelt es sich um eine qualitative ad hoc-Stichprobe und nicht um eine Zufallsstichprobe, die repräsentativ für die Grundgesamtheit aller befragten Personengruppen ist.
Die Grundlage für die Leitfragen1 bildete die theoretische Auseinandersetzung, geleitet durch die in Kapitel 2 festgestellten Herausforderungen und Bedarfe für die Gruppe der neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler während des saLzH. Dieses theoretische Fundament wurde in vier übergeordnete Bereiche überführt: Veränderungen des Unterrichts, Verlagerung auf digitale Formate, erlebter (sprachlicher) Lernfortschritt und der soziale Austausch und die damit verbundenen Kontaktmöglichkeiten. Das Interview mit den Lehrkräften fokussierte neben den genannten Bereichen den Umgang mit digitalen Methoden und den Aspekt des sozialen Miteinanders in der Klasse und diente vorrangig dem Erheben von Hintergrundinformationen und -einschätzungen.
Die problemzentrierten Leitfadeninterviews mit den Schülerinnen und Schülern sowie mit den Lehrkräften erfolgten in zwei Erhebungsformen – als Gruppen- bzw. Einzelinterview. In der Wiko-Klasse wurde das Interview mit den Schülerinnen und Schülern als Gruppeninterview durchgeführt. Bei der Befragung der Schülerinnen und Schüler der Alpha-Klasse sowie bei der Befragung der beiden Lehrkräfte fand das Interview hingegen als Einzelgespräch statt. Das in Gruppeninterviews auftretende Phänomen der stillschweigenden Übereinkunft (vgl. Riemer 2016: 166) spiegelt sich auch in den vorliegenden Daten wider, weshalb aus den Antworthäufigkeiten (s. Tab. 3) keine Schlüsse über die Relevanz der einzelnen Themenbereiche in den jeweiligen Gruppen generell gezogen werden sollten. Sie dienen lediglich zur Veranschaulichung der Verteilung der verschiedenen Analysekategorien.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation und den damit erschwerten Erhebungsbedingungen wurden die Interviews mittels eines Cloud-basierten Webkonferenzsystems durchgeführt. Nach der Zustimmung der freiwilligen Teilnahme aller anwesenden Schülerinnen und Schüler wurden die sprachbiografischen Daten (s. Tab. 1) abgefragt. Im weiteren Verlauf entwickelte sich entlang der Leitfragen eine Diskussion mit kurzen Erzählphasen der Schülerinnen und Schüler, die von Nachfragen und Zusammenfassungen der Interviewerinnen geprägt war (s. Kap. 4).
Pandemiebedingt und aufgrund der geringen mündlichen und schriftsprachlichen Kompetenzen im Deutschen einhergehend mit einer eingeschränkten Medienkompetenz hinsichtlich unbekannter digitaler Formate wurden die Fragen durch die Interviewerinnen an die Schülerinnen und Schüler der Alpha-Klasse über einen Instant-Messaging-Dienst auf Arabisch gestellt. Hierbei erfolgte die Erhebung asynchron, d.h. die Antworten der Schülerinnen und Schüler erfolgten teils mit zeitlichem Verzug.
Die erhobenen Audio- und multimodalen Daten wurden in ein vereinheitlichtes schriftliches Format übertragen. Die Transkription der Sprachdaten erfolgte entlang der Vorgaben nach Dresing/Pehl (2015). Die Entscheidung für diese Transkriptionskonvention wird mit ihrem starken Fokus auf den Inhalt begründet. Bei der Übersetzung der Sprachdaten der Alpha-Klasse ins Deutsche wurde auf die Interlinearglossierung verzichtet, da die Schülerinnen und Schüler in einem arabischen Dialekt gesprochen haben, der in schriftlicher Form nicht existiert. Daher wird auf der Basis lateinischer Schrift, soweit für das Verständnis nicht hinderlich, wortgemäß übersetzt.
Zur Auswertung der erhobenen Daten wurde eine strukturierte qualitative Inhaltsanalyse durchgeführt. Mithilfe der aus dem Interviewleitfaden entwickelten deduktiven Kategorien wurde das Datenmaterial in einem ersten Schritt geordnet und strukturiert. Anschließend wurden diese bestehenden Hauptkategorien datenbasiert durch induktive Subkategorien spezifiziert, d.h. eine deduktiv-induktive Kategorienbildung liegt vor (vgl. Kuckartz 2018: 95f.). Tabelle 2 zeigt die deduktiv erstellten Hauptkategorien in Zusammenhang zu den theoretischen Annahmen (s. Kap. 2) sowie zu den aus den Interviewdaten induktiv gebildeten Subkategorien. So bilden die aus den theoretischen Annahmen über die Verlagerung auf digitale Formate abgeleiteten Hauptkategorien einerseits die Vor- und Nachteile von saLzH sowie von Präsenzunterricht als auch die technische Ausstattung und das soziale Miteinander im Klassenraum ab. Hierbei ergaben sich aus den Antworten der Schülerinnen und Schüler wiederum z.B. zu der Hauptkategorie Vorteile Präsenzlehre/Nachteile saLzH u.a. die Subkategorien Verständnis der Inhalte, räumliche Situation und soziale Kontakte.
Theoretische Annahmen | (Deduktive) Hauptkategorien | (Induktive) Subkategorien |
Veränderung des Unterrichts (s. 2.2) | Vorgehensweise | – |
Verlagerung auf digitale Formate (s. 2.1.1, 2.1.2, 2.1.4) | saLzH Vorteile | Synchrone Lernbegleitung |
Ökologischer Aspekt | ||
Soziale Kontakte in der Schule (z.B. Mobbing) | ||
Präsenzlehre Nachteile | – | |
Vorteile Präsenzlehre/ Nachteile saLzH | Verständnis der Inhalte | |
Motivation | ||
Soziale Kontakte | ||
Extrinsische/intrinsische Ablenkung | ||
Räumliche Situation | ||
Technische Ausstattung | ||
Sprachkontakt | ||
Freude/Spaß | ||
Kein Feedback | ||
Technische Ausstattung | Kein Computer vorhanden | |
Computer vorhanden | ||
Erlebter (sprachlicher) Lernfortschritt (s. 2.1.3) | Lernfortschritt erschwert/nicht erschwert | Fehlender Kontakt zur deutschen Sprache |
Selbsteinschätzung zu sprachlichen (Teil-)Bereichen | ||
Soziale Teilhabe = Deutsche Sprache | ||
Sozialer Austausch und Kontaktmöglichkeiten (s. 2.1.3) | Kontakt zur deutschen Sprache | Deutsch mit L1-Deutsch-Sprechenden |
Deutsch mit anderen Lernenden |
Tab. 2: Deduktiv-induktives Kategoriensystem
Die Interviewdaten wurden nach den in Tabelle 2 aufgezeigten Kategorien analysiert und geclustert. Eine Übersicht zur Häufigkeit der in den Daten analysierten Codes zu den sieben Hauptkategorien lässt sich in Tabelle 3 nachvollziehen. Sie zeigt, dass die Schülerinnen und Schüler beider Gruppen in den Interviews am häufigsten über die Vor- und Nachteile von saLzH gegenüber Präsenzlehre sprachen. Nach Klasse differenziert betrachtet, trifft dies für die Vorteile von saLzH insbesondere auf die Schülerinnen und Schüler der Wiko-Klasse zu. Die Schülerinnen und Schüler der Alpha-Klasse sprachen auch häufig über die Wahrnehmung ihres Lernfortschritts und ihre Kontakte zur deutschen Sprache während der Schulschließung. Auch die Vorgehensweise wird häufiger von den Alpha-Schülerinnen und -Schülern thematisiert. Diese Unterschiede können auch auf die unterschiedliche Durchführung bei der Erhebung zurückzuführen sein (s. Kap. 3.3). Im Folgenden werden die Ergebnisse aus den Interviewdaten unterteilt nach den Hauptkategorien genauer dargestellt.
Thematisierte Hauptkategorien | Häufigkeit | Wiko-Klasse | Alpha-Klasse |
Vorgehensweise | 11 | 2 | 9 |
saLzH Vorteile | 11 | 10 | 1 |
Präsenzlehre Nachteile | – | – | – |
Vorteile Präsenzlehre/Nachteile SaLzH | 25 | 13 | 12 |
Technische Ausstattung und räumliche Situation | 9 | 4 | 5 |
Lernfortschritt erschwert/nicht erschwert | 16 | 5 | 11 |
Kontakt zur deutschen Sprache | 16 | 6 | 10 |
Tab. 3: Häufigkeitsverteilung der Kategorien nach Antworten