Loe raamatut: «MUSIK-KONZEPTE Sonderband - Josquin des Prez», lehekülg 2

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II In Mailand und Ferrara

In Mailand war oder besser: schien die Lage aus der Sicht der Sforza zunächst stabil. Ihre Hofhaltung einschließlich der musikalischen Darbietungen genoss großen Ruf;16 das galt v. a. für die Inszenierungen von Theateraufführungen und Festen, bei denen Leonardo da Vinci als Regisseur und Kostümausstatter brillierte. Unter dieser glänzenden Oberfläche aber bröckelte die Herrschaft des Herzogs und seines Bruders. Obwohl oder wahrscheinlich sogar: weil immer mehr ausgedehnte Lehen mit weitreichenden Hoheitsrechten an die führenden Mailänder Adelsfamilien vergeben worden waren, der direkte Zugriff der Sforza auf ihr Herrschaftsgebiet also stetig zurückging, nahm die Loyalität dieser Führungsschicht unaufhaltsam ab – aus Schwäche gemachte Zugeständnisse vermindern Autorität, anstatt sie zu erhöhen. So hielt ein Großteil der lombardischen Elite mehr oder weniger diskret nach politischen Alternativen Ausschau. Eine von diesen wurde im April 1498 schlagartig aktuell, als der französische König Karl VIII. unerwartet und erbenlos verstarb und damit dem Zweig der Orléans den Weg auf den Thron ebnete. Der neue König Ludwig XIII. hatte eine Visconti-Ahnin im Stammbaum, in deren Namen er Erbansprüche auf Mailand erhob. Damit war das ganze Haus Sforza in akuter Gefahr. Allein konnte sich Mailand unmöglich gegen die überlegene französische Militärmacht verteidigen, und mächtige Alliierte waren durch das als anmaßend empfundene Auftreten Ludovicos und Ascanio Marias nicht zu finden. So kam es, wie es kommen musste: 1499 und – nach einer kurzfristigen Rückkehr des Herzogs – 1500 wurde das mailändische Heer geschlagen und Ludovico il Moro in die französische Gefangenschaft geführt, in der er sterben sollte. Auch Ascanio Maria wurde vom Sieger nach Frankreich abgeführt, aus dieser misslichen Lage allerdings durch seinen Rang als Kirchenfürst schon 1502 erlöst – rechtzeitig, um an den beiden Papstwahlen im Herbst 1503 teilzunehmen und zu kandidieren, letzteres allerdings erfolglos. Durch den – vorübergehenden – politischen Untergang des Hauses Sforza war sein Einfluss unter dem Pontifikat seines alten Feindes Giuliano della Rovere alias Julius II. eng begrenzt. Er starb im Mai 1505 in Rom an der Pest.

Mit der politischen Katastrophe des Patrons war die Anbindung des Klienten des Prez nach den vorherrschenden Zeitmaßstäben aufgelöst. Ob er danach in die Dienste des Siegers Ludwig XII. trat, ist ungewiss, würde aber, wie bereits angesprochen, gleichfalls den moralischen Maßstäben der Klientel nicht widersprechen. Sicher bezeugt ist hingegen ein letzter kurzer Aufenthalt des Prez’ als Kapellmeister in Ferrara für einige Monate der Jahre 1503 und 1504. Damit tauchte der gefeierte Künstler in ein soziales und politisches Biotop ganz anderer Art ein. Die Familie Este, die mit der Herzogwürde in Ferrara und Modena regierte,17 war die älteste und vornehmste Adelsfamilie Italiens und stellte dadurch einen Sonderfall innerhalb der italienischen Elitenlandschaft dar, in der ansonsten weniger vornehme Sippen aus der lokalen Aristokratie dominierten. Die illustre Abkunft war denn auch das propagandistische Pfund, mit dem die Este wuchern mussten, um ihren rein militärisch und politisch zu Beginn des 16. Jahrhunderts stets gefährdeten Rang zu festigen. Gefährdet war diese Stellung v. a. dadurch, dass die Este als Inhaber des Lehens Ferrara der Lehenshoheit der Päpste unterstanden und damit einem riskanten Wechselspiel neuer Oberherren unterworfen waren, deren Interesse bei aller Konkurrenz untereinander einheitlich auf den Gewinn von Nepoten-Staaten gerichtet war.

Um sich in dieser bedrohlichen Konstellation zu behaupten, setzten die Este wie alle mittleren und kleineren Fürsten in hohem Maße auf Propaganda durch kulturellen Glanz. Dabei hatte die Musik als Mittel der Selbstdarstellung einen sehr hohen Stellenwert.18 Neben und wohl noch vor prestigeträchtigen Bau- und Freskenprojekten sollten repräsentative Aufführungen und Kompositionen der angesehensten Musiker Europas diesen singulären Rang der Familie und damit ihre Unantastbarkeit als Verkörperung der italienischen Kultur und ihres Primats in Europa unter Beweis stellen. So betrachtet war des Prez eine kostbare Trophäe, die dieses Ansehen weiter erhöhen sollte.

In Ferrara traf des Prez Lucrezia Borgia,19 die Tochter Alexanders VI., der im August 1503 an Malaria gestorben war, als Gemahlin des Erbprinzen, also als künftige Herzogin, wieder. Diese Heirat hatte ihr Vater 1502 mit skandalösen Zugeständnissen und politischer Erpressung an den Brautvater erkauft; die Braut selbst musste sich in ihrer neuen Rolle vom miserablen Ruf ihrer Familie reinwaschen, was ihr durch die Geburt ihrer Kinder, intensive karitative Tätigkeit und geschicktes Kultur-Sponsoring in den nachfolgenden Jahren erstaunlich gut gelang.20 Wie des Prez diese Verwandlung wahrnahm und sich sein Verhältnis zur »Kronprinzessin« Lucrezia gestaltete, ist nicht bekannt.

Auch über die Gründe für seinen Entschluss, Ferrara und damit Italien 1504 für immer zu verlassen, lassen sich nur Vermutungen äußern. Eine solche Vermutung wäre, dass das Erlebnis von so viel rasanter Veränderung, von Aufstieg und Sturz so vieler Mächtiger, das Land zwischen Alpen und Ätna als ein risikoreiches Ambiente auswies, das trotz aller dort zu gewinnenden Lorbeeren gegen das sehr viel ruhigere Milieu der Heimatgegend auszutauschen ratsam erschien. Sollte des Prez so gedacht haben, gaben ihm die nachfolgenden Ereignisse Recht. Julius II. überzog Italien ab 1506 mit Krieg, Spanien und Frankreich kämpften in Italien um die europäische Hegemonie, und der Herzog von Ferrara starb wie Ascanio Maria Sforza und des Prez’ Nachfolger in Ferrara, Jacob Obrecht, 1505 an der Pest.

1 Vgl. v. a. Jacques Barbier, Josquin des Prez, Paris 2010; David Fallows, Josquin, Turnhout 2009; Paul A. Merkley/Lora L. M. Merkley, Music and Patronage in the Sforza Court, Turnhout 1999; am kritischsten zu den Quellen und speziell Daten die Ausführungen bei Fallows. — 2 Zu den in Anm. 1 genannten Titeln: Lora Matthews, »Josquin des Prez and Ascanio Sforza. A singer in the cardinals’s retinue«, in: Essays in honour of Terence Bailey, Ottawa 1998, S. 359–369. — 3 Vgl. Volker Reinhardt, Leonardo Da Vinci. Das Auge der Welt. Biographie, 2. Aufl., München 2019, S. 57–140. — 4 Grundlegend zu diesem: Marco Pellegrini, Ascanio Maria Sforza. La parabola politica di un cardinale principe del Rinascimento, 2 Bde., Roma 2002. — 5 Vgl. Volker Reinhardt, Pontifex. Die Geschichte der Päpste. Von Petrus bis Franziskus, 2. Aufl., München 2018, S. 478–488. — 6 Nach Informationen von Ivo Bizozzero, noch unveröffentlicht. — 7 Im Folgenden wie auch zum Pontifikat Alexanders VI.: Volker Reinhardt, Der unheimliche Papst. Alexander VI. Borgia 1431–1503, München 2005. — 8 Überblick bei: Gary Ianziti, »Sforza«, in: Die großen Familien Italiens, hrsg. von Volker Reinhardt, Stuttgart 1992, S. 501–515. — 9 Vgl. Gregory Lubkin, A Renaissance Court. Milan under Galeazzo Maria Sforza, Berkeley 1999. — 10 Vgl. Pellegrini, Ascanio Maria Sforza (Anm. 4). — 11 Im Folgenden nach Reinhardt, Der unheimliche Papst (Anm. 7), S. 60–71. — 12 Zu den Borgia-Legenden vgl. Michael Mallett, The Borgia. The Rise and Fall of a Renaissance Family, London 1970. — 13 Übersicht zur Politik dieser Jahre bei Guido Lopez, La roba e la libertà. Leonardo nella Milano di Ludovico il Moro, Milano 1982. — 14 David Abulafia (Hrsg.), The French Descent into Renaissance Italy 1494–95. Antecedents and Effects, Aldershot 1995. — 15 Reinhardt, Pontifex (Anm. 5), S. 502–513. — 16 Vgl. William F. Prizer, »Music at the Court oft the Sforza. The Birth and Death of a Musical Center«, in: Musica Disciplina 43 (1989), S. 141–193. — 17 Vgl. Trevor Dean, Land and Power in late medieval Ferrara. The Rule oft he Este, 1350–1450, Cambridge 1988; June Salmons/Walter Moretti (Hrsg.), The Renaissance in Ferrara and its European Horizons. Il Rinascimento a Ferrara e il suo orizzonte europeo, Cardiff – Ravenna 1984; Werner L. Gundersheimer, Ferrara. The Style of a Renaissance Despotism, Princeton 1973. — 18 Lora L. M. Merkley/Paul A. Merkley, »Aspects of sacred music and the network of patrons at court during the time of Ercole d’Este«, in: Cappelle musicali fra corte, stato e chiesa nellItalia del Rinascimento, Firenze 2007, S. 193–230; Paul A. Merkley, »Josquin des Prez in Ferrara«, in: The Journal of Musicology 18/4 (2001), S. 544–583. — 19 Ende aller Legenden und seriöse Fakten in: Friederike Hausmann, Lucrezia Borgia. Glanz und Gewalt. Eine Biographie, München 2019. — 20 Vgl.William F. Prizer, »Isabella d’Este and Lucrezia Borgia as Patrons of Music. The Frottola at Mantua and Ferrara«, in: Journal of the American Musicological Society 38/1 (1985), S. 1–33.

PHILINE HELAS*

Das Porträt des Komponisten und Musiktheoretikers

Ein neues Bildthema in Italien im 15. Jahrhundert

So vielfältig die Berührungspunkte zwischen der Musik und den bildenden Künsten auch sind, wir wissen von keinem einzigen Künstler oder Kunstwerk, der oder das sich sicher mit Josquin des Prez verbinden ließe. Zahlreich sind hingegen die Publikationen, die sich mit den unterschiedlichen Relationen von Kunst und Musik in der Renaissance befassen.1 Der vorliegende Beitrag kann sich hier nur auf einen Aspekt konzentrieren: Die Darstellung des Komponisten und Musiktheoretikers im 15. und frühen 16. Jahrhundert, ausgehend insbesondere von jenen Bildern, die im unmittelbaren Umfeld von Josquin des Prez entstanden.

I Das Bildnis eines Musikers von Leonardo da Vinci (ca. 1485–1490)

Das weder signierte noch datierte Bildnis wird von der kunsthistorischen Forschung nicht ganz einhellig Leonardo da Vinci zugeschrieben und um 1485–90 datiert.2 (Abb. 1) Es zeigt einen jungen Mann mit dichtem, hellem, lockigem Haar im Dreiviertelprofil vor dunklem Hintergrund. Die Vorschläge seiner Identifizierung nahmen eine neue Richtung an, nachdem 1904 bei einer Restaurierung eine Notenschrift auf dem Blatt in seiner Hand entdeckt wurde.3 Basierend auf der Lektüre der Wortfragmente »Cant …« »Ang …« wurde zunächst Franchino Gaffurio (1451–1522), Kapellmeister des Mailänder Doms ab 1484 und Komponist eines »Cantum Angelicum«, vorgeschlagen, später Josquin des Prez, dann Atalante Migliorotti und schließlich Gaspar van Weerbeke.4 Suzanne Clercx-Lejeune, welche die Identifizierung mit Josquin vorschlug, stützte sich u. a. auf die Interpretation des Notenblattes: Sie ergänzte die lesbaren Buchstaben Cont, Catuz und A Z als »Contratenor« »Cantuz« »Altuz« und die Tonfolge als Hexacord. Diese findet sich häufig in seinen Werken, insbesondere in der Motette Illibata Dei Virgo nutrix, die wiederum ein Akrostichon des Namens verbirgt und somit als ein Selbstporträt des Komponisten zu interpretieren wäre.5


Abbildung 1: Leonardo da Vinci, Bildnis eines Musikers, um 1485-1490, Öl und Tempera auf Holz, 45 x 32 cm, Mailand, Pinacoteca Ambrosiana, Inv. 99 (aus: Leonardo da Vinci. Painter at the court of Milan, London 2011, hrsg. von Luke Syson und Larry Keith, S. 94)

Die Biografie von Josquin lässt sich nicht lückenlos rekonstruieren. Sicher ist, dass er im Juni 1484 zur Entourage von Ascanio Maria Sforza (1455–1505), Sohn des Herzogs von Mailand Francesco I. Sforza (1401–1466), zählte, der im März 1484 zum Kardinal erhoben worden war. Im August dieses Jahres hielt er sich noch in Mailand auf, dann folgte er wohl seinem Mäzen nach Rom, wo er im Juli 1485 seinen Dienst quittierte. Dann ist er wieder am 11. Februar 1489 in einem Dokument in Mailand fassbar, in dem er als herzoglicher Sänger bezeichnet wird. Ab Juni 1489 wirkte er in der päpstlichen Kapelle in Rom.6In den Jahren, in denen das Porträt vermutlich entstand, kann er sich also sehr gut wie Leonardo im Umfeld des Mailänder Hofes bewegt haben.7 Insbesondere die Hochzeit von Gian Galeazzo Sforza (1469–1494) und Isabella d’Aragona (1470–1524), die zwischen dem 25. Januar und dem 2. Februar 1489 mit großem Aufwand in Tortona und Mailand gefeiert wurde, hätte ein Anlass sein können, Sänger, Musiker und vielleicht auch einen Komponisten anzuwerben.8 Wir wissen beispielsweise nicht, wer die Gesänge, die sowohl beim Festbankett als auch bei dem abschließenden Auftritt des Orpheus zu hören waren, komponierte und vortrug.9 Auch Leonardo war wahrscheinlich in die Vorbereitungen zu diesen Festlichkeiten involviert.

Doch selbst bei einer Identifizierung des auf dem Porträt des Dargestellten als Josquin des Prez bliebe offen, wer das Bild in Auftrag gegeben hätte: Der Komponist selbst, der um 1485 etwa 30-jährig bereits einiges an Ruhm und Vermögen angesammelt hatte?10Er könnte den nordischen Porträtmodus des Dreiviertelprofils vor schwarzem Hintergrund gewünscht haben, wie es etwa der Timotheos von Jan van Eyck (ca. 1390–1441) aus dem Jahr 1432 und das Bildnis des Gilles Joye (1424/25–1483) von Hans Memling (ca. 1433–1494) von 1472 zeigten, die ihrerseits als frühe Musikerporträts gelten.11Und wenn ja – für sich selbst? Oder um sich dem nominellen Herzog von Mailand, Gian Galeazzo Sforza, oder dessen Onkel Ludovico Sforza, genannt il Moro (1452–1508), der de facto die Macht in Mailand ausübte, anzupreisen? Oder wäre das Bild bereits eine Reaktion auf eine erfolgreiche Präsentation am Mailänder Hofe gewesen?

In jedem Fall handelt es sich um eine neue Bildfindung im Genre der Porträtmalerei: Der Dargestellte ist durch das Notenblatt charakterisiert, doch lässt nichts darauf schließen, dass er ein Sänger wäre, seine Lippen sind geschlossen und sein Blick gilt nicht den Noten, sondern geht in die Ferne. Ebenso wenig ist er durch ein Instrument als Musiker ausgewiesen. Dieser Darstellungsmodus suggeriert, dass das Notenblatt hier als ein Attribut eingesetzt ist, welches den jungen Mann als Schöpfer dieser Musik und damit als Komponisten identifiziert. Sucht man nach vorgängigen Darstellungen des Komponisten, wird deutlich, dass dieser – im Gegensatz zum Musiker oder Sänger – im europäischen Mittelalter keine ausgeprägte bildliche Tradition hat.12 Leonardo scheint der Erste zu sein, der mit einem Notenblatt nicht auf die Evokation eines Klanges, sondern eher auf das verschriftlichte Musikstück an sich und damit das intellektuelle Potenzial der Musik fokussiert. Zugleich wäre es eines der ersten Porträts, in dem der Beruf des Dargestellten durch ein Attribut repräsentiert wird. Anzunehmen ist auch, dass Leonardo, dessen vielfach zitierte Zeilen über den Vergleich von Malerei und Musik von seiner Auseinandersetzung mit deren medialen Möglichkeiten zeugen, hier diesen Paragone reflektierte, das zerknitterte Notenblatt etwa auf die Vergänglichkeit der Töne verwiese.13 Unabhängig davon, wen das Bildnis darstellt: Es geschieht in einem Moment, in dem Persönlichkeiten wie Josquin des Prez zu neuartiger Wertschätzung gelangen.14 Auch wenn dieser in den zeitgenössischen Dokumenten nicht als Komponist, sondern als Sänger bezeichnet ist15, so wird doch in dem ironischen Kommentar von Baldassare Castiglione über die Macht der Meinung deutlich, dass man ihn – zumindest in Italien – als Komponisten schätze: »Als man in der Gegenwart der Frau Herzogin eine Motette sang, gefiel sie überhaupt nicht und wurde keineswegs für gut gehalten, bis man erfuhr, dass sie eine Komposition des Josquin de Préz war.«16

II Das Bildnis des Komponisten und Musiktheoretikers in der Buchmalerei


Abbildung 2: Jacopo da Bologna, in: Squarcialupi-Codex, Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Med. Pal. 87, fol. 7v (aus: William Gibbons, »Illuminating Florence. Revisiting the composer portraits of the Squarcialupi Codex«, in: Imago musicae 23 [2006], S. 25–45, Abb. 5, S. 33)

Die ältesten Porträts von Komponisten finden sich in dem in Florenz um 1410–15 geschaffenen Squarcialupi Codex, einer Sammlung von Musikstücken des 14. Jahrhunderts.17 Hier erscheint jeweils, im Modus des Autorenporträts, in einer Initiale der Autor der folgenden Musikstücke.18 Die 14 Persönlichkeiten sind individuell dargestellt, es wiederholen sich aber die Attribute: Portativorgel, Zither sowie Bücher bzw. Schriftrollen. Es ist weder davon auszugehen, dass es sich um Porträts handelt, noch dass die Attribute spezifisch für die jeweilige Person ausgewählt wurden. Während die Portativorgel zu diesem Zeitpunkt bereits als ein Attribut der Personifikation oder Allegorie der Musik eingeführt ist und als solches auch im bas-de-page der Francesco Landini (ca. 1325–1397) gewidmeten Seite erscheint, verweist die Zither auf die Ikonografie des König David.19 Weder die Bücher noch die Blätter lassen Noten erkennen, im Fall von Egidius und Guilielmus de Francia lässt die Tatsache, dass sie zu singen scheinen, auf solche schließen. Besonders im Fall des zweiten Komponisten scheint der Künstler über die Darstellbarkeit musikalischer Komposition zu reflektieren: (Abb. 2) Jacopo da Bologna (ca. 1340–1386) hat ein Buch unter den Arm geklemmt und deutet mit einer Hand auf seinen Mund, mit der anderen auf den Beginn der Notentextes außerhalb der Initiale, als ob er explizit auf das Unvermögen der Malerei verweisen wollte, Töne zum Klingen zu bringen.

Diese Serie von Komponistenbildnissen bleibt zunächst singulär. Nur gelegentlich begegnen solche in anderen Zusammenhängen in Handschriften: Guillaume Dufay (ca. 1400–1474) und Gilles Binchois (ca. 1400–1460) finden sich etwa in einem in Frankreich 1442 geschaffenen Versepos Le Champion des Dames von Martin le France dargestellt. Beide sind durch ein Instrument charakterisiert, das sie jedoch nicht spielen: der erste durch eine Portativorgel, die auf die sakrale Musik verweist, der zweite durch eine Harfe, die für die säkulare Musik steht.20 Beide waren für Philipp den Guten tätig, hier ist also sowohl der Status des Musicus am burgundischen Hof reflektiert wie auch ihre Rolle als Musiktheoretiker.

In einer in Florenz wohl zwischen 1470 und 1490 geschaffenen Musikhandschrift, in der auch Kompositionen von Josquin vertreten sind, folgen dem Frontispiz zwei reich dekorierte Seiten.21 Auf der linken Seite ist Jubal/Tubalkain, der mythische Erfinder der Musik zu sehen,22 auf der rechten in der Initialminiatur das Bildnis eines Mannes, der mit Stift und Papier in der Hand im Begriff ist zu schreiben. Hier können wir nur vermuten, dass dieser in idealisierter Weise Johannes Martini (1430/40–1497) darstellen soll, den Komponisten des Stückes, dessen Noten den übrigen Bereich der Seite füllen. Dieser könnte realistischer in einer anderen Musikhandschrift porträtiert sein: dem Chorbuch 51 der Cappella Sistina, das wahrscheinlich um 1474 in Neapel hergestellt wurde.23

III Die Selbstdarstellung des Musiktheoretikers: Franchino Gaffurio (1480–1507)

Im Falle des eingangs erwähnten Franchino Gaffurio, Komponist und Musiktheoretiker, der in Mailand zu hohem Ansehen gelangte, sind sogar mehrere bildliche Zeugnisse erhalten. Seine Werke gehören zu den frühesten Drucken mit Noten und musiktheoretischen Schemata, deren Produktion aufwendiger als die eines Textes war. Man kann davon ausgehen, dass er Einfluss auf die Illustrationen dieser Bücher nahm, es sich mithin bei der Wiedergabe seiner Person um eine Selbstdarstellung handelte.

In der erstmals 1480 in Neapel gedruckten Version seines Werkes Theoricum opus musice discipline ist eine ganzseitige Illustration als Frontispiz enthalten.24 Zu sehen ist ein orgelspielender Mann, der durch die Inschrift »Introductioni musices f. gafori« am oberen Bildrand identifiziert wird. Gaffurio ist auf den ersten Blick als praktizierender Musiker dargestellt, auf den zweiten aber auch als Theoretiker, da die Orgelpfeifen und der Bildhintergrund mit musiktheoretischen Angaben versehen sind. Der Mailänder Druck der Pratica musicae von 1496 ist gerahmt von einer Bordüre, in der sich seitlich musizierende Putten und in der unteren Zierleiste mittig ein Wappenschild zwischen zwei Personengruppen befinden.25 In einem auf Pergament gedruckten und sorgfältig kolorierten Exemplar ist hier der Adressat Ludovico il Moro kenntlich gemacht.26 (Abb. 3) Links davon sieht man einen Knabenchor mit seinem Leiter vor einem aufgeschlagenen Choral, rechts eine Gruppe von Schülern vor ihrem Lehrer, der auf einer Kathedra mit der Inschrift »F. Gaforus« sitzt.27 Gaffurio präsentiert sich damit gleichermaßen als Mann der Praxis wie der Theorie. In der Illustration, welche sein 1500 vollendetes, aber erst 1518 in Mailand gedrucktes Werk De harmonia musicorum instrumentorum opus ziert, verschiebt sich die Gewichtung.28 Nun präsentiert er sich als Lehrer auf einer mit seinem Namen »Franc[…]hin« versehenen Kathedra. Seine Zuhörerschaft, teils in Rückenansicht gesehen, schließt den Betrachter des Buches gleichsam mit ein. Orgelpfeifen und ein Zirkel im Hintergrund erläutern seine Kompetenzen, die zudem von einem umlaufenden Schriftband gerühmt werden. Dieser Holzschnitt hat sein Vorbild in der Zierseite der aufwendig gestalteten Handschrift dieses Textes, die 1507 fertiggestellt war. (Abb. 4) Der Autor widmete sie später dem französischen Gesandten in Mailand, Jean Grolier (1479–1565), wohl in der Hoffnung auf die Finanzierung des Druckes.29 Hier ist er in dem Bildfeld, das die halbe Seite einnimmt, durch das rote, den Gelehrten vorbehaltene Gewand ausgezeichnet. In der Initialminiatur darunter ist er als schreibender Autor dargestellt. In der oberen Bordüre in einem schmalen Bildfeld erscheint er erneut als Leiter eines Chores, von dem wir nur die Köpfe der Singenden sehen, die sich um ein Notenbuch versammelt haben. Die Noten weisen ihn weniger als Komponisten aus, als dass sie wie häufig in der Malerei den Gesang evozieren, der sich darüber hinaus v. a. über die Mundbewegungen visualisieren lässt.30 Nicht nur durch die Größe des Bildes, das Gaffurio erhöht vor seinen Schülern zeigt, auch durch die Dopplung als Lehrender und Autor liegt das Gewicht hier deutlich auf der Repräsentation des Musiktheoretikers. Dies gilt auch für das Bildnis, das sich in einem 1500 fertiggestellten Kodex seiner Schriften in der Initiale befindet und ihn ohne jedes Attribut zeigt.31 (Abb. 5) Diesem kann wohl am stärksten der Charakter eines Porträts zugesprochen werden, und es bestätigt die lange, schmale Nase, die ihn auch in den Holzschnitten charakterisiert. Diese Gesichtszüge schließen ihn im Übrigen als Modell von Leonardos »Musiker« aus.32 In seiner Selbstdarstellung bleibt Gaffurio damit der traditionellen Darstellung des Gelehrten verbunden.


Abbildung 3: Franchino Gaffurio, Practica Musicae, Mailand, Guillermus Le Signerre für Johannes Petrus de Lomatio, 30. September 1496, Pergamentdruck; 42 x 27,5 cm, Dresden, SLUB, Ink.2426, Copyright SLUB / Deutsche Fotothek, Regine Richter


Abbildung 4: Franchino Gaffurio, Harmonia instrumentalis, 1507, ÖNB, Cod. Ser. n. 12745, fol. 4r. online unter: https://digital.onb.ac.at/rep/osd/?10FFE1B7


Abbildung 5: Bildnis des Franchino Gaffurio (?) in: Franchino Gaffurio, Harmonia instrumentalis, 1500, Lodi, Biblioteca Comunale Laudense, Ms. 28. A. 9, fol. 5r, Copyright Biblioteca Comunale Laudense