Loe raamatut: «MUSIK-KONZEPTE Sonderband - Josquin des Prez», lehekülg 5

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VI

Die Entstehung und Ausdifferenzierung der musikalischen Gattungen im 15. Jahrhundert hat die Musikgeschichte nicht nur anhaltend geprägt, sondern eine solche im eigentlichen Sinne (also von anhaltender, konkreter Erinnerung) erst möglich gemacht. Um 1500 hatte sich die Situation insofern verändert, als die Normengeflechte der Gattungen bereits weitreichend definiert waren – jeder einzelne Beitrag also notwendig als Auseinandersetzung mit diesen Normen und ihren Traditionen gelten musste. Dabei waren diese Normen nicht (oder nur sehr vage) Gegenstand expliziter Festlegungen, sondern stets Resultate der Kompositionen selbst, also der Gattungsbeiträge und ihrer Beziehungen untereinander.30 Es scheint, als habe Josquin um 1500 unmittelbar auf diese Wirklichkeit reagiert, in einer Reihe von Experimenten. Dazu zählt der Ausbau der liturgischen Stabat-Mater-Sequenz, also einer eigentlich ›kleinen‹ liturgischen Gattung (was hieß: strophisch, alternatim und eher dreistimmig), zu einer großangelegten Motette, die ihrerseits – in der Verwendung eines französischen Tenors – Gattungsgrenzen überschreitet, nämlich zur Chanson. Ein ähnlicher Status gilt für Scaramella va alla guerra, wo es nicht um Grenzüberschreitungen geht, sondern darum, die Gattungsgrenzen wie in einem ›sfumato‹ vollständig zu verwischen – nicht jedoch, um sie auszulöschen, sondern um ihrer auf andere Weise bewusst zu werden.

Gerade an diesem Punkt, also der experimentellen Ausreizung, ist aber auch das Gegenteil zu beobachten, der demonstrative Wille, den Gattungsgedanken normativ zu definieren. Wenn Cortesi 1510 Josquin als Messenkomponisten rühmte, gab es dafür bereits eine bemerkenswerte Grundlage. Denn der venezianische Drucker Ottaviano Petrucci hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Bücher mit Messen nur von Josquin herausgebracht, die 1502 und 1505 erschienen waren, gezählt wurden – und offenbar kommerziell so erfolgreich blieben, dass es zu Nachdrucken und 1514 sogar zur Herausgabe eines dritten Buches kam. Die Zahl der publizierten Messen war damit keineswegs besonders groß, die handschriftliche Überlieferung bei anderen Komponisten wie Pierre de La Rue oder Isaac blieb deutlich gewichtiger. Aber sie war, geschuldet der publizistischen Offensive, offenbar gesteigert wirksam (womit es primär nicht um Verbreitung, sondern um autoritative Normsetzungen geht).

Die genauen Hintergründe der Publikationen von Petrucci werden wohl unklar bleiben müssen. Aber sie sind sinnvollerweise nur anzunehmen unter der direkten Beteiligung des Komponisten, der die Inhalte des Unternehmens gesteuert und aller Wahrscheinlichkeit von seiner Verwirklichung auch kommerziell profitiert haben dürfte. Durch die Verbreitung der Drucke war nicht nur eine unmittelbare Rezeptionssteuerung möglich, sondern die vorsätzliche Trennung vom Autor. Das aus anderen Zusammenhängen bekannte Spannungsgeflecht von Normierung, Systematisierung und Subjektivierung, die den frühen Druck auszeichnen, war damit auch in der Musik spürbar.31Denn Josquin konnte die Distribution seiner Messbücher nicht planen, aber er dürfte dies auch nicht gewollt haben. Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, dass hier eine Art von kompositorischem Musterbuch einer Gattung beabsichtigt war, im Spannungsfeld von Normerzwingung, Subjektivität und rezeptiver Anonymität. Solche kanonisierenden Prozesse sind auch vor der Druckpraxis bekannt, so war Dufay in seinen späten Jahren um die Zusammenstellung seiner Werke bemüht. Doch durch den Druck richteten sie sich intentional auf eine ›anonyme‹ Öffentlichkeit, die nicht einmal notwendig an die Existenz eines professionellen Musikensembles, also einer Kapelle gebunden war.

Ob von vornherein eine Serie von Messbüchern geplant war, lässt sich nicht sicher sagen, erscheint aber keineswegs unwahrscheinlich. Das riesenhafte Projekt vereint eine denkbar große Vielfalt von Möglichkeiten, dies aber offenkundig in normierender Absicht. Nach einem Jahrhundert intensiver, in den Werken ausgetragener Gattungsüberlegungen wäre dies dann der Versuch eines Komponisten, so etwas wie die Deutungshoheit zu erringen. Das war augenscheinlich verbunden mit der Absicht, das Gattungsdenken dabei, anders als in den Experimenten, nicht bloß zu reflektieren, sondern kompositorisch zu sanktionieren. Ob dieser Vorgang normativ stabilisierend gemeint war, also tatsächlich im Sinne ›stilistischer‹ Musterbücher (als die sie dann verstanden wurden), oder projektiv stimulierend, also als Anregung, lässt sich kaum entscheiden. Die divergierende Fülle der Möglichkeiten verweist eher auf die zweite Variante. Entscheidend ist allerdings der Umstand, dass Josquin Gattungsnormen im Gattungszusammenhang ausloten wollte, in einem Kontext, der sich aristotelisch bestimmen lässt. Das immerhin würde dem Publikationsort Venedig, wo die Aristoteles-Rezeption auch um 1500 eine bestimmende Rolle spielte, zusätzliches Gewicht verleihen. Ob Josquin mit der venezianischen Gattungsdiskussion um 1500 vertraut war, lässt sich nicht einmal vermuten. Doch immerhin verraten die Messenbücher seinen Willen, die liturgische Gattung jenseits ihres liturgischen Kontextes kompositorisch auszuloten und beispielhaft vorzuführen – als Vergleich verschiedener Lösungen eines einzigen Urhebers, im Sinne von Quintilians ›antinomia‹, in der einzelne Entscheidungen zwar für sich gültig, in ihrer Gesamtheit aber widersprüchlich sein können. In seinen Messbüchern hat Josquin ein solches Verfahren erstmals demonstrativ nach außen getragen, willentlich über einen längeren Zeitraum. Das komparative Argument, das Gian di Artiganova in Ferrara geltend gemacht hat, war damit in ein einziges Œuvre – und am Ende sogar nur ein Segment darin – übertragen worden.

VII

Solche Spuren können, so scheint es, durchaus zu einer denkbaren Wirklichkeit Josquins führen, die von jenen Wirklichkeiten, die nach seinem Tod entstanden sind, tendenziell weit entfernt sind. Akzeptiert man dies, dann würde allerdings das Reflexionsniveau, mit dem der Komponist auf die Umbrüche der Zeit um 1500 produktiv reagiert, zum entscheidenden Merkmal seiner kompositorischen Tätigkeit. Das schließt den ästhetischen Eigenwert, die ›Süße‹, nicht aus, sondern dient im Gegenteil dazu, diese sogar ausdrücklich hervorzuheben. In dieser Eigenart, also der Selbstverständigung über und durch Musik, steht er in einer Reihe, die im 15. Jahrhundert vielleicht mit Ciconia begann und dann, im Werk von Dufay und Ockeghem, erstmals systematische Züge erkennen lässt. Nur anders als zuvor gab es für Josquin eine Geschichte, auf die er sich bereits ausdrücklich beziehen konnte, und eine solche, in die er, wie in Macchiavellis »occasione«, eingreifen wollte.32 Die wenigen Zeugnisse legen immerhin den Verdacht nahe, dass er dabei, wie Macchiavellis Principe, entschiedenen Vorsatz, erhebliches Selbstbewusstsein und umsichtige Nachdenklichkeit habe walten lassen.

Die Frage, ob und in welcher Weise es von solchen Mustern Wege in die spätere Josquin-Rezeption geben könnte, ist an dieser Stelle nicht zu beantworten. Immerhin scheinen frühe Josquin-Verehrer wie Glarean oder Luther durchaus noch sensibel für derartige Problemlagen gewesen zu sein. Irgendwann ist dann aber daraus die Bewunderung (oder, wie bei Mattheson, Verachtung) für das bloße Handwerk des »Contrapunktisten« geworden. Anlässlich des 500. Todestages des Komponisten sollte hier lediglich versucht werden, die manifeste historische Distanz wenigstens für einen Moment zu überbrücken – um ermessen zu können, was die Zeitgenossen möglicherweise an seiner Musik beeindruckt hat oder haben könnte. Das muss sich nicht mit späteren Wahrnehmungen decken, denn die Wirklichkeiten Josquins sind nach 1521 unübersichtlich vielfältig und damit inhomogen geworden. Die mit diesem Prozess verbundene Dynamik lässt sich allerdings in einem emphatischen Sinne als neuzeitlich beschreiben. Ob Josquin sich dessen bewusst war, lässt sich nicht beurteilen. Es ist aber nicht unmöglich, dass es so war. Das umfangreiche Musikkapitel, das der Benediktiner Teofilo Folengo (1491–1517) 1521 der wesentlich erweiterten Fassung seines pikarischen Romans Baldus einfügte, mündet in eine umfangreiche Apologie Josquins, möglicherweise bereits unter dem Eindruck seines Todes. Folengo, zu dieser Zeit in Brescia, nennt zwar eine Reihe von Komponisten, aber erst durch Josquin habe sich der Himmel geöffnet, deswegen sei er der Vater der Musik. Und zum Beleg führt er gleich eine ganze Reihe von konkreten Kompositionen an, auch und gerade aus den Messenbüchern.33 Sein Urteil war folglich noch an eine sehr detaillierte und daher beispielhaft belegte Wahrnehmung geknüpft.

1 Stéphen de la Madeleine, »La vieillesse de Guillaume Dufay«, in: Revue et Gazette Musicale de Paris 3 (1836), S. 453–460. — 2 Anon. (Der Erzählende), »Das Alter Guillaume Dufay’s. Zerdolmetscht von dem Erzählenden«, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 39 (1837) (01.02.), Sp. 73–75, hier Sp. 74. — 3 Franz Xaver Haberl, »Wilhelm du Fay. Monographische Studie über dessen Leben und Werke«, in: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 1 (1885), S. 307–530, hier S. 429. — 4 François-Joseph Fétis, »Notice historique sur la vie et les ouvrages de Josquin Des Pres«, in: Revue Musicale 8 (1834), S. 241–243, 260–262 und 265–267. — 5 Stéphen de la Madeleine, »Les Psaumes de Josquin«, in: Revue et Gazette Musicale de Paris 4 (1837), S. 109–113 und S. 129–134; dazu auch James Haar, »The ›Conte Musical‹ and Early Music«, in: Philippe Vendrix (Hrsg.), La Renaissance et sa musique au XIXe siècle, O. O. [Paris] 2004 (= Éptiome Musical), S. 185–202, hier S. 198 f.; zudem John Neubauer, The Persistance of Voice. Instrumental Music and Romantic Orality, Leiden – Boston 2017 (= National Cultivation of Culture 14), S. 102 f. — 6 Art. »Josquin Desprez«, in: Hermann Mendel/August Reissmann, Musikalisches Conversations-Lexikon 5, 1880, S. 478 f., hier S. 478. — 7 Johann Mattheson, Critica Musica […]. Pars IV. Neuntes Stück, Hamburg: Auct. 1722, S. 350. — 8 Dazu v. a. Michael Meyer, Zwischen Kanon und Geschichte. Josquin im Deutschland des 16. Jahrhunderts, Turnhout 2016 (= Épitome Musical). — 9 Vgl. dazu die detaillierte Zusammenstellung bei Carlo Fiore, »Josquin before 1919. Sources for a Reception History«, in: Albert Clement/Eric Jas (Hrsg.), Josquin and the Sublime. Proceedings of the International Josquin Symposium at Roosevelt Academy, Middleburg, 12–15 July 2009, Turnhout 2011 (= Épitome Musical), S. 215–240, hier S. 226 ff. — 10 Wolfgang Caspar Printz, Historische Beschreibung der Edelen Sing= und Kling=Kunst/ in welcher Deroselben Ursprung und Erfindung/ Fortgang/ Verbesserung/ unterschiedlicher Gebrauch/ wunderbare Würckungen/ mancherley Finde/ und zugleich berühmteste Ausüber von Anfang der Welt biß auff unsere Zeit in möglichster Kürze erzehlet und vorgestellet werden […], Dresden: Mieths 1690, S. 115. — 11 Zum Bild David Fallows, Josquin, Turnhout 2009 (= Épitome Musicale), S. 247. — 12 Petrus Opmeer, Opus Chronographicum Orbis Universi […], Antwerpen: Verdussius 1611, S. 163 (»Quem secutus Hermannus Contractus, eam gloriam inter Phonasos promeruit, eam gloriam inter Symphonetas Iodocus Pratensis«). — 13 Zu Lasso wird ausdrücklich vermerkt, dass er nach Josquin an zweiter Stelle stehe: »successisset secundum locum à Iodoco Pratensis inter Symphonetas« (Opmeer, Opus Chronographicum [Anm. 12], S. 516). — 14 Opmeer, Opus Chronographicum (Anm. 12), S. 163 und 440. — 15 Dazu Meyer, Zwischen Kanon und Geschichte (Anm. 8), S. 16 ff. — 16 Gerardus Avidius, »Musae Iovis«, in: Franciscus Swertius, Athenae Belgicae sive nomenclator infer. Germaniae scriptorum […], Antwerpen: Tungris 1628, S. 496; die Süßigkeit der Musik wird im Gedicht gleich zweimal erwähnt (»dulcibus sonis«, »et dulce carmen concinit«). — 17 Thomas Leinkauf, Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600), Bd. 1, Hamburg 2017, S. 503. — 18 Hier zit. nach der Ausgabe Serafino d’Aquila, Opere volgari, Fano: Soncino 1516, Bg. BIII r.; vgl. auch Ursula Tröger, Marcilio Ficinos Selbstdarstellung. Untersuchungen zu seinem Epistolarium, Berlin – Boston 2016 (= Beiträge zur Altertumskunde 352), S. 368; zum Kontext des Tugendbegriffs hier v. a. Constanze Lessing, »›Per ignorantia dell’arte si oscurano le virtudi‹. ›Virtus‹ und Virtuosität in den ›Commentarii‹ des Lorenzo Ghiberti«, in: Thomas Weigel et al. (Hrsg.), Die Virtus des Künstlers in der italienischen Renaissance, Münster 2006 (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 15), S. 55–72. — 19 Die beste Zusammenfassung der Vorgänge bei Ludwig Finscher, Art. »Josquin Desprez« (2003). In: MGG Online [letzter Zugriff: 14.03.2021]. — 20 Dazu auch Laurenz Lütteken, Musik der Renaissance. Imagination und Wirklichkeit einer kulturellen Praxis, Kassel etc. 2011, S. 124 f. — 21 Paulo Cortese, De Cardinalatu, Castrum Cortesium: Nradi 1510, hier Buch II, Bg. 73v. (die Bogenzählung der Ausgabe unterliegt offenkundigen Druckfehlern); zum Kontext auch Inga Mai Groote, »›Kernrepertoire‹ und regionale Traditionen. Die Motettenüberlieferung in einigen Handschriften um 1500 und das Gattungsverständnis«, in: Laurenz Lütteken (Hrsg.), Normierung und Pluralisierung. Struktur und Funktion der Motette um 1500, Kassel etc. 2011 (= Troja 9), S. 127–151, hier S. 130; zur Komplexität des Doctrina-Begriffs Philipp Büttgen et al., »Einleitung«, in: dies. (Hrsg.), Vera Doctrina. Zur Begriffsgeschichte der Lehre von Augustinus bis Descartes, Wiesbaden 2009 (= Wolfenbütteler Forschungen 123), S. 7–21. — 22 Dazu auch David Fallows, »Josquin’s Most Widely Distributed Secular Works«, in: Die Tonkunst 15 (2021), S. 29–33. — 23 Vgl. die Ausgabe in Josquin Des Prez, Collected Works, Bd. 29: Secular Works for Five Voices, hrsg. von Patrick Macey, Utrecht 2016, S. 56–59; zur Autorisierung und Datierung (nach 1504) vgl. den Criticial Commentary (ebd., 2017), S. 326 ff. — 24 Klaus Krüger, Grazia. Religiöse Erfahrung und ästhetische Evidenz, Göttingen 2016 (= Figura 5), S. 60 ff. — 25 Zum gesamten Zusammenhang Katelijne Schiltz, »Dido’s afscheid. Polyfone Dulces exuviae zettingen (15e-16e eeuw)«, in: Mark Delaere/Pieter Bergé (Hrsg.), Als Orpheus zingt …: De klassieke oudheid in de West-Europese muziek – Opstellen voor en door Ignace Bossuyt, S. 48–61; sowie Laurenz Lütteken, »›Dulces exuviae‹. Vergil in Mantua und das Problem der musikalischen ›Renaissance‹«, in: Andreas Kablitz/Gerhard Regn (Hrsg.), Renaissance – Episteme und Agon. Für Klaus W. Hempfer anläßlich seines 60. Geburtstages, Heidelberg 2007, S. 451–473. — 26 Hier benutzt ist die Edition in Josquin Des Prez, Collected Works, Bd. 28: Secular Works for Four Voices, hrsg. von David Fallows, Utrecht 2005, S. 27–30. — 27 Zum Grundproblem Rachel Eisendraht, Poetry in a World of Things. Aesthetics and Empiricism in Renaissance Ekphrasis, Chicago – London 2018, hier S. 24 ff. — 28 Vgl. Wolfgang Brassat/Michael Squire, »Die Gattung der Ekphrasis«, in: Wolfgang Brassat (Hrsg.), Handbuch der Rhetorik der Bildenden Künste, Berlin etc. 2017, S. 63–87, hier S. 74 ff.; grundsätzlich auch David Rosand, »Ekphrasis and the Generation of Images«, in: Arion 1/1 (1990), S. 61–105; zur komplexen Ausgangslage bei Botticelli Angela Dressen, »From Dante to Landino. Botticelli’s ›Calumny of Apelles‹ and its Sources«, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 59 (2017), S. 324–339, hier S. 325 ff. — 29 Immerhin betonte Geldenhauer in seinem Trauergedicht nicht nur, dass Josquin die Zierde der Musen sei, sondern auch der Kirche (»Templorum decus/ Musarum decus« [Anm. 16]), was vielleicht auf sein Bemühen zielt, den Bezug zur Antike zu klären. — 30 Dazu schon Rosalie L. Colie, The Resources of Kind. Genre Theory in the Renaissance, hrsg. von Barbara Kiefer Lewalski, Berkeley etc. 1973 (= Unas Lectures 1). — 31 Dazu etwa Andreas Thier, »Rechtstheoretische Meistererzählung und die Herausforderung der Geschichte: Beobachtungen zum Werk von Thomas Vesting über den ›Buchdruck‹«, in: Der Staat 56 (2017), S. 277–291, hier S. 284 ff. — 32 Niccolò Macchiavelli, Il principe, Florenz: Giunta 1532, Bg. 56 r. — 33 Teofilo Folengo, Opus Merlini Coccai Poete Mantuani Maccaronicum […], Toscolano 1521, f. 196r.

CHRISTIANE WIESENFELDT

Zwischen Ordo und Varietas

Strategien des Wiedererzählens in Josquins Messenschaffen

Josquin des Prez’ Messenschaffen ist schon quantitativ schwer zu definieren. Geprägt von Echtheitsdebatten unterliegt es einem dauernden Wandel, und die zunehmende Reduktion des als authentisch identifizierten Werkkorpus durch Stilanalytiker und forschende Interpreten macht es immer schwieriger, von einem Œuvre klarer Kontur zu sprechen. Immerhin ist Konsens, dass sein Messenschaffen eine geradezu enzyklopädische Breite hat und eine Fülle von unterschiedlichen, höchst artifiziellen Modellen bedient, die qualitativ ein recht deutliches Bild ihres Schöpfers zeigen.1 Dieser Anschein von qualitativer Homogenität mag darin begründet sein, dass in den Messen schon früh Gemeinsamkeiten in der Konzeption, im Klangarrangement, im Modus des Beginnens, Schließens und Zäsurierens, in metrischen Konzepten, in der Cantus-firmus-Behandlung usw. beobachtet worden sind. Dazu zählen der Zusammenhang von Metrum und Umfang wie das schon 1952 von Carl Dahlhaus bemerkte »umgekehrt proportionale Verhältnis der Geschwindigkeit des Zeitmasses zur Zahl der Takte (Kyrie und Gloria)«.2 Dazu gehören auch eine homogene Abschnittsbildung der textreichen Sätze Gloria und Credo in einer zwei- oder dreiteiligen Grundform3, die hohe Tendenz zur satztechnischen Binnenkontrastierung vieler Sätze4, schließlich die allen Messsätzen gemeinsame Finalisierungstendenz im Sinne einer Beschleunigung oder Steigerung5 und vieles mehr.

Frühe Deutungen versuchten, diesem zwischen Geschlossenheit und Differenz angelegten Messenschaffen Josquins mit der Diagnose einer (romantischen) Spannung zu begegnen, eine Lesart, die Schule machen sollte. So formulierte schon Dahlhaus:

»Beim zusammenfassenden Rückblick zeigt sich, dass trotz der Vielheit wechselnder Gestalten im Ganzen wie in den Teilen einfache Formgedanken, die Prinzipien der Regelmässigkeit (›ordo‹) in der Vielfalt (›varietas‹), des Gleichmasses im Widerspiel mit dem Kontrast, der Abstufung und der Steigerung, wirksam sind.«6

Das stete Changieren zwischen Ordo und Varietas präge, so die Idee, gleichermaßen das Ganze wie auch den Einzelsatz. Meint dies mehr als die Banalität, dass jede Komposition – will sie mehr sein als eine lehrreiche Fingerübung im Papageienprinzip – zwischen Ruhe und Dynamisierung, zwischen Regelhaftigkeit und Abwechslung und zwischen Balance und Kontrast zu vermitteln hat, so fragt sich, was genau damit gemeint sein kann. Allein der offensichtliche Bezugspunkt dieser Idee – die romantisch-sinfonische Einheit in der Mannigfaltigkeit – führt kaum weiter.

Dahlhaus bringt noch einen weiteren wichtigen Punkt früh in die Diskussion ein: »Die Unterschiede der Messen sind oft zu eng mit den Möglichkeiten, die in der Gestalt der Themen enthalten sind, verbunden, als dass aus ihnen eine Entwicklung abgelesen werden könnte«.7 Formdenken in Josquins Messen findet – so die Idee – vom Cantus firmus aus statt. Thematik als formkonstitutive Keimzelle zu verstehen, ist zwar eine (erneut romantische) Denkform, die den für die Struktur jeder Messe bedeutenden Text und dessen Gliederungsansprüche vernachlässigt. Weitergedacht jedoch, legt Dahlhaus mit seinem Fokus auf die Voraussetzungen des Cantus firmus genau den Finger in die analytische Wunde, ist doch in der Messenforschung die Spannung zwischen den beiden Formkonstituenten Text und Melodievorlage – also stabiler und variabler Formgröße – noch nicht hinreichend produktiv gemacht worden worden. Geht der Musikforscher bei der Analyse von Vokalmusik gemeinhin von der Annahme aus, Komponisten ließen sich in ihrer Formbildung primär vom zu vertonenden Text leiten, so stellt sich spätestens bei dem immer selben Text – wie der seit Jahrhunderten standardisierten Messliturgie – die Frage, ob dieser Text zu Josquins Zeit um 1500 und vielleicht auch schon vorher nach Zigtausenden von Vertonungen überhaupt noch das formkreative Potenzial hatte, zu neuen Höhenflügen zu inspirieren. Zu fragen wäre auch, ob der immer neue, vielleicht auch deswegen bisweilen multiple, erfundene oder gar versteckte Cantus firmus als anregende Gliederungs- und Strukturoption mit zumal eigener textueller Vorprägung für das kreative Fortleben der Gattung sogar überlebensnotwendig wurde.

Dahlhaus lag bemerkenswerterweise zweimal ebenso richtig wie falsch: Richtig war seine Beobachtung, Gleichartiges und Differentes in Einzelwerken wie der Werkgruppe als konstitutiv zu begreifen, falsch war deren argumentatives Wurzeln in (romantischen) Konzepten der Einheit in der Mannigfaltigkeit, die für die Messe um 1500 keine Griffigkeit behaupten dürfen und entsprechend analytisch unscharf bleiben. Und richtig und wichtig war seine Forderung, der formgebenden und -differenzierenden Kraft des Cantus firmus mehr Aufmerksamkeit zu schenken, falsch war indes die konstitutionslogische Überbetonung einer (wieder romantischen) Keimzellen-Idee unter Zurückstellung der Bedeutung des Messtextes.8 Beide Denkfiguren lassen sich indes – konzentriert auf ihre satztechnische Faktizität – neu beleben und konzeptionell verkoppeln, und zwar über die in der mittelalterlichen Literatur verhandelte Wertedebatte um Materia und Artificium am Beispiel des Wiedererzählens bekannter Stoffe. Wiedererzählen meint nach diesem vormodernen Verständnis, das terminologisch auf orale Tradierungen zurückgeht, keine reproduzierende, nachgeordnete und damit zweitrangige Form des Umgangs mit einem bekannten Plot. Im Gegenteil, schon um 1200 äußerte der englische Dichter Geoffrey von Vinsauf: »Es ist schwierig, einen bekannten und verbreiteten Stoff zu bearbeiten. Aber je schwieriger, desto lobenswerter. Jedenfalls viel wertvoller, als einen neuen Stoff zu erfinden, der noch unbenutzt ist.«9 Während in der Neuzeit für die Künstler die Ausformung des Artificiums für das eigene Schaffen immer wichtiger wurde, fußt das kulturelle Gedächtnis in der Vormoderne auf der Materia, die – eingekleidet in ein sich wandelndes Artificium – wiederholt, wiedererzählt wird und somit stets gegenwärtig bleibt. In die Musikwissenschaft wurde der in der Mediävistik ertragreich diskutierte Begriff, der einen stabilen Stoff und seine wechselnde Bearbeitung in ein neues Verhältnis und Deutungsspektrum setzt, bislang noch nicht eingeführt. Dabei scheint das Konzept des Wiedererzählens besonders für die Deutung des Messkomponierens produktiv zu sein, da hier stets derselbe Text verhandelt wird, ja es wohl keine andere Gattung der Musikgeschichte gibt, die das Wiedererzählen desselben Textes über Jahrhunderte hinweg bis heute in dieser Intensität pflegt. Ebenso wäre zu fragen, ob sich der Materia-Begriff für das Komponieren mit festen Melodievorlagen in Form des Cantus firmus fruchtbar machen lässt. Für Josquins Messenschaffen erlaubt dieser Zugriff vielleicht, die Spannung von vertontem Text und Cantus firmus in Bezug auf die Formgebung sowie das Changieren zwischen Ordo und Varietas besser zu verstehen.

»Keiner der mittelalterlichen Erzähler, der lateinischen, romanischen, deutschen, hat beansprucht, eigenmächtig ersonnene Geschichten zum besten zu geben, keiner eine erste und ausschließliche Urheberschaft an seiner historia, seinem conte, seinem mære geltend gemacht. Erfundene Geschichten wurden auch von niemandem erwartet. Originäre Erfindung kam als ein Vermögen, das sich in Attraktivität und Prestige einer Erzählung ausgezahlt hätte, nicht in Anschlag. Im Gegenteil, beansprucht und erwartet wurde die Überliefertheit des Erzählten.«10

Der Einleitungspassus aus Franz-Josef Worstbrocks einschlägigem Aufsatz »Wiedererzählen und Übersetzen« von 1999 stellt das in der Musikwissenschaft für gelungenes Komponieren (auch) mittelalterlicher Musik etablierte Originalitäts-Narrativ sogleich auf den Kopf. Was hier bis in spätmittelalterliche Kunstproduktionen des frühen 16. Jahrhunderts als gültig entworfen und von weiteren Literaturwissenschaftlern – wie Ludger Lieb (200511), Burkhard Hasebrink (200912) und Thomas Klinkert (201513) – in den nächsten Jahren fortgeschrieben wird, hat nichts mit Einfallsreichtum und schöpferischer Innovation zu tun, sondern definiert gelungene Dichtung und Literatur ganz im Gegenteil zunächst einmal als Wiedererzählung, als Retextualisierung. Anders als in der neuzeitlichen Dichtung wurde das Erfinden neuer Texte als weniger kunstvoll betrachtet, vielmehr galt das Finden und Bearbeiten von bereits vorhandenen Texten (»bene tractare«) als innovativ.

Für die Analyse von Texten bedeutet dies, so Worstbrock, dass eine Unterscheidung zwischen der Materia, die für das Gleichbleibende, Identische, und dem Artificium, das für die Differenz steht, zu treffen ist: »Das Artificium ist der schöpferische, eigenkünstlerische Bereich des Wiedererzählers, der ohne die Vorgabe überlieferter Materia nicht ins Spiel kommt.«14 Daraus folgt konsequent: »Der Wiedererzähler ist nach alledem im mittelalterlichen Verständnis kein Autor, sondern der Artifex.«15

Die Probleme, dieser Dichotomie analytisch tatsächlich habhaft zu werden, hat Ludger Lieb an verschiedenen Beispielen demonstriert und somit offengelegt, dass das Modell keineswegs zu verallgemeinern ist, sondern nur auf eine bestimmte, wenn auch große Gruppe von Texten zutrifft. Nach Lieb funktioniert das Wiedererzählen einer Materia dann besonders gut, wenn 1. der Stoff unabhängig von seinen Bearbeitungen eine große Bekanntheit besitzt, also als stabil im kollektiven Gedächtnis gelten kann, 2. der Stoff klar und einfach gehalten ist, ihm also Nebenhandlungen und Variationen weitgehend fehlen, und 3. seine Gebrauchsfunktion eindeutig ist.16 Ebenso kritisiert Lieb an Worstbrocks Konzept, dass es – obwohl es die Materia aufwertet – die Artificium-Perspektive höher stellt, indem diese doch wieder das sei, was den Autor (im modernen Sinne) ausmache.17 Denn, so Lieb:

»Grundsätzlich ist die Prämisse, die Wiederholung habe ihre Funktion nur im Hinblick auf die Variation, zu kritisieren, weil sie nur unter der (typisch neuzeitlichen) Bedingung gilt, dass immer der gleiche Inhalt langweilig (unattraktiv) werde und man deswegen, wenn man schon wiederhole, wenigstens variieren müsse.«18

Stattdessen plädiert Lieb für eine Umkehrung der Deutung und damit nicht zuletzt für eine konsequente Lesart der Worstbrock’schen Aufwertung:

»Für das Materia-Artificium-Konzept und das Wiedererzählen müsste man daher erwägen, ob es nicht sinnvoll wäre, die Hierarchie zu verkehren: Nicht das Artificium ist etwas, das durch die vorgegebene Materia ›ins Spiel kommt‹, sondern die Materia kommt durch das Artificium ins Spiel. Das Artificium ist der Aspekt des ›Wieder-Schöpfens‹, der eine Materia zur Geltung und zur Wirkung bringt«.19

Die Potenz der Materia – weniger in ihrer eigenen Stabilität, die schwanken kann, denn ihrer Wirkmacht – ist demnach entscheidend für ein nachhaltiges Interesse an ihrem Wiedererzählen. Letzteres gilt als genuine Leistung des Dichters, er ist somit ein »Wieder-Schöpfer«20, der zwischen Materia und Artificium erfolgreich vermitteln muss.

Hasebrink betont sodann die »Konfliktstrukturen und Brüche«, die jedes stoffliche Wiedererzählen mit sich führe und eine immer neue »Inszenierung von Gegenwärtigkeit« sowie eine »Steigerung des Gedächtnisses« erzeuge.21 Daraus resultiere eine Ästhetik, die »zwischen Präsenzeffekten und Sinnzuschreibungen oszilliert«.22 An diese Überlegungen schließt Klinkert an, wenn er das Prinzip des Wiedererzählens als literaturhistorisches Paradigma über die mittelalterlichen Texte hinaus begreift und an verschiedenen Beispielen bis in die Moderne durchdekliniert: Bedeutet Wiedererzählen im Hochmittelalter »die Überlieferung eines Sinns, der von vorgeordneten Autoritäten garantiert wird, und zugleich die Fokussierung der künstlerisch-dichterischen Bearbeitung, der Leistung des Verfassers als Artifex«, so werden im spätmittelalterlichen Wiedererzählen zunehmend »Leerstellen und Lücken von vermeintlich geschlossenen Sinnwelten« sichtbar.23 Die Stabilität bzw. Autorität des Stoffes wird offener und damit brüchig, zugleich werden neue Sinndimensionen der Materia erkennbar und angeboten. In der Frühen Neuzeit verschieben sich durch den Buchdruck und damit einen Registerwechsel in den Kommunikationsakten die Gewichte weiter hin zur künstlerischen Inszenierung dieser Ambivalenzen: Ironische Brechungen, die Suche nach Sinn oder Wahrheit oder auch das Motivspiel mit Imitation und Präsenz rücken nach vorn (als Beispiel dient Klinkert der Don Quijote von Cervantes von ca. 1605–15).

Dieser sich im Spätmittelalter schon andeutende, sich endgültig im 16. Jahrhundert vollziehende Wandel in der Stabilität und Autorität der Materia dürfte sich in den Dekaden um 1500, als Josquin seine Messen komponierte und dafür auf die jahrhundertealten, ratifizierten Texte des liturgischen Formulars zurückgriff, in einer spannungsreichen Phase befunden haben. Dies wohl kaum, weil die zu vertonenden Texte an sich problematisiert wurden oder eine kirchenkritische Sinnfrage an die erzählte Passionsgeschichte ernsthaft in Betracht gezogen worden wäre. Das Wiedererzählen biblischer Prätexte gehörte schon immer zum Kerngeschäft der Künstler, ja überhaupt darf man die Christentumsgeschichte mit allen angelagerten Themenkomplexen als quantitativ und qualitativ bedeutendsten Fundus des Wiedererzählens begreifen: Wohl kaum eine Geschichte ist so häufig wiedererzählt worden, allein die vier Evangelien bieten ein Musterbeispiel des Verhältnisses von Identität und Variation bei gleichbleibender Materia. Die musikalische Phase um 1500 ist vielmehr deshalb noch vielschichtiger als jene der zeitgenössischen Literatur, weil sich im Umgang mit der musikalischen Materia – dem der Messe zugrunde liegenden Cantus firmus – neue Dimensionen einer Flexibilisierung abzeichnen, die für das gesamte 16. Jahrhundert prägend sein werden, während die textliche Materia stabil bleibt.

Tasuta katkend on lõppenud.