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Oberhausen

Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet

Herausgegeben von Magnus Dellwig und Peter Langer

Band 5: Beiträge zur Stadtgeschichte

Verlag Karl Maria Laufen


Die Herausgeber und der Verlag bedanken sich bei der Sparkassen-Bürgerstiftung für die großzügige Unterstützung. Nur so konnte der Band 5 der Oberhausener Stadtgeschichte realisiert werden.

© Verlag Karl Maria Laufen

Oberhausen, 2017

Alle Rechte vorbehalten

Autoren und Herausgeber haben sich bemüht, alle Bildrechte zu klären. Sollte dies im Einzelfall nicht oder nicht zutreffend gelungen sein, wird um Nachricht an den Verlag gebeten.

Satz: Ika Putranto, MA, Leiden, NL

ISBN 978-3-87468-372-2

Überblick über das Gesamtwerk

Band 1: Oberhausen in vorindustrieller Zeit

Band 2: Oberhausen im Industriezeitalter

Band 3: Oberhausen in Krieg, Demokratie und Diktatur

Band 4: Oberhausen in Wirtschaftswunder und Strukturwandel

Band 5: Beiträge zur Stadtgeschichte

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Grußwort

Vorwort der Herausgeber

MAGNUS DELLWIG

Essay: Kleine Geschichte der Kommunalpolitik in Oberhausen

PETER LANGER

1914-1918, Die Heimatfront in Oberhausen

KLAUS OBERSCHEWEN

„Niedergeknüppelt, aber nicht widerlegt”

DIRK-MARKO HAMPEL

Oberhausen 1945-1961 Ein Abriss

Abbildungsnachweis

Autoren

Grußwort

Liebe Oberhausenerinnen und Oberhausener,

für uns an der Stadtgeschichte Interessierte war das Erscheinen des vierbändigen Werkes „Oberhausen - eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet“ zum Anlass des 150. Jubiläums der Gemeindegründung im Jahr 2012 ein beachtlicher Höhepunkt. Lange Zeit mussten wir warten, lag die letzte Veröffentlichung mit ähnlichem Anspruch schon fast ein halbes Jahrhundert zurück: das Oberhausener Heimatbuch erschien 1965.

Es war folglich an der Zeit, den Versuch einer ganzheitlichen, umfassenden Darstellung des Werdens und Wirkens unserer Stadt nach den Ansprüchen der modernen historischen Forschung zu unternehmen. Das Ergebnis war und ist eine eindrucksvolle Lektüre von 1.900 Seiten.

Betrachtet man die gesamte Bandbreite der Epochen,Themen, Autoren und Darstellungsweisen, ist der Versuch für mich als Oberhausener und gelernter Historiker sehr gut gelungen.

Neben aller positiver Resonanz und einem großen Verkaufserfolg, auf welchen vor zwei Jahren die Neuauflage des Werkes als Studienausgabe folgte, haben sich die Herausgeber aber auch gefragt, welche weiteren Facetten der Darstellung harrten.

Denn es war unvermeidlich, dass bei einem knappen, ambitionierten Zeitplan nicht jedes Thema zur vollkommenen Zufriedenheit - insbesondere auch für die Herausgeber als „Auftraggeber“ - beschrieben werden konnte.

So entwickelten die Herausgeber Dr. Peter Langer und Dr. Magnus Dellwig mit ihrem Oberhausener Verleger Wilhelm Kurze einen fünften Band, den Sie, liebe Leserinnen und Leser, nun in Ihren Händen halten. Die vier Beiträge erbringen den eindrucksvollen Beweis dafür, dass es noch die eine oder andere bedeutende Lücke zu schließen galt.

Ich bin davon überzeugt, dass die Themen Geschichte der Kommunalpolitik, Erster Weltkrieg, Widerstand gegen den Nationalsozialismus sowie Wiederaufbau und Wirtschaftswunder in Oberhausen auf ein breites Interesse unserer Stadtgesellschaft treffen werden.

Durch diesen fünften Band wird die Oberhausener Stadtgeschichte noch vielfältiger und zu einer erst recht runden Sache. Dafür sage ich den Herausgebern, den Autoren, dem Verleger und allen Beteiligten einen herzlichen Dank.

Ich wünsche Ihnen bei der Lektüre viel Vergnügen und einige neue Erkenntnisse.

Herzlichst

Ihr


Daniel Schranz

Oberbürgermeister

Vorwort der Herausgeber

Liebe Leserin, lieber Leser,

die Herausgeber freuen sich mit dem Verleger, Ihnen nunmehr im Herbst 2017 den fünften Band des Werkes „Oberhausen, eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet“ vorlegen zu können. Anlässlich des 150. Jubiläums der Gründung der Bürgermeisterei Oberhausen 2012 veröffentlicht, war das vierbändige Werk im Herbst 2012 nach wenigen Wochen vergriffen. 2014 gewannen wir Herausgeber dann den Oberhausener Verleger Wilhelm Kurze mit seiner Verlagsbuchhandlung Karl Maria Laufen für die Neuauflage als Studienausgabe. Damit waren einige Neuerungen verbunden. Zur Fehlerkorrektur trat ein wertiges Softcover, ergänzende Veröffentlichungen der Einzelbände als E-Books, und vor allem der Anspruch, die Stadtgeschichte fortzuschreiben.

Werfen wir den Blick kurz zurück auf die Besonderheiten des bisher schon vorliegenden Werkes: Da selbst vier Bände von diesem Umfang eine Stadtgeschichte niemals vollständig erzählen können, ist eine Konzeption entstanden, die jeder Epoche mit einem eigenen Zugang gerecht zu werden versucht. Damit folgen wir Herausgeber den Grundsätzen von Multiperspektivität, Mehrdimensionalität (Ereignisgeschichte und Längsschnitte, Politik, Wirtschaft, Alltag und Kultur) sowie Zielgruppenbezug, wie sie die moderne Geschichtswissenschaft aufgibt: In vorindustrieller Zeit (Band 1) wurde Oberhausen noch nicht als räumliche Einheit erlebt. Drei Herrschaften und zahlreiche Siedlungen bildeten die Bezugspunkte des Lebens bis ins 19. Jahrhundert. - Deshalb kommt hier die Geschichte jedes relevanten Stadtteils zu Wort. Im Industriezeitalter (Band 2) entstand in atemberaubender Geschwindigkeit eine Großstadt, in öder Heide um Bahnhof und Industrieanlagen, anstatt um Kirche und Marktplatz. - Diese seltene Besonderheit im deutschen Städtewesen prägte Oberhausens Stadtwerdung mit allen Facetten von den Infrastrukturen, den Stadtvierteln über den Alltag bis zur Kommunalpolitik. Im Zeitalter der Weltkriege (Band 3), das Historiker auch das des „Weltbürgerkriegs“ nennen, beherrschten die Wechsellagen der Politik das Leben der Menschen so elementar wie vermutlich seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr. - Ein überzeugender Grund, die politische Stadtgeschichte in den Mittelpunkt zu stellen. Band 4 schließlich bildet die Zeitgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg ab. Die Vielfalt der modernen Lebensbereiche,Wirtschaft und Politik, Kultur und Kirchen, Umwelt, Geschlechter und Migration, aber auch das komplexe Wechselverhältnis Oberhausens mit seiner Region Ruhrgebiet werden erforscht und dargestellt.

„Oberhausen, eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet“ bietet Ihnen mit seiner Kombination aus Heimatforschung und moderner Stadtgeschichtsschreibung, mit seiner Verknüpfung von Ereignis- und Strukturgeschichte, mit den anregenden Perspektiven von mehr als 30 Verfassern und Gesprächspartnern einen umfassenden Blick auf diese außergewöhnliche Stadt. Das Buch bietet eine geschichtswissenschaftlich breit reflektierte lokale „Universalgeschichte“, die seriöserweise nicht mehr den Anspruch erheben darf, „die“ Geschichte Oberhausens zu sein, sehr wohl aber die zentralen Lebensbereiche der Menschen in ihrer jeweiligen Zeit im Wesentlichen zu erfassen, nämlich in Bezug darauf, was uns an der Geschichte für unsere Gegenwart und für unsere Orientierung auf die Zukunft interessiert.

Während jeder der vier ersten Bände chronologisch eine Epoche behandelt und dabei einer eigenständigen Konzeption folgt, welche den besonderen Lebens- und Entwicklungsbedingungen im Oberhausener Raum zur jeweiligen Zeit gerecht wird, behandelt Band 5 ausgewählte inhaltliche Schwerpunkte. Der Zeitrahmen von der Idee im Jahr 2009 über die Aufnahme der Redaktionstätigkeit 2010 bis zum Abschluss der Arbeiten im Sommer 2012 erwies sich für ein Werk von etwa 1.900 Druckseiten als sehr anspruchsvoll. Daher gelang es nicht, alle gewünschten Themen in der angestrebten Tiefe darzustellen. Somit verfolgten wir Herausgeber diese Themen als Merkposten weiter, um die „Lücken“ durch eine weitere Veröffentlichung zu schließen. Unser Verleger Wilhelm Kurze ermunterte und unterstütze tatkräftig, so dass wir in Band 5 vier Beiträge präsentieren, durch die das bisher vierbändige Gesamtwerk eine wertvolle Ergänzung erfährt:

 

Magnus Dellwig stellt in einer Längsschnittstudie die kommunalpolitische Kultur in Oberhausen von der Gemeindegründung 1862 bis zur Oberbürgermeisterwahl 2015 dar. Dabei liegt das Augenmerk auf längerfristigen Strukturen und deren Ursachen sowie auf der jüngsten Entwicklung im 21. Jahrhundert. Geschichts- wie politikwissenschaftliche Zugänge werden verknüpft.

Mittels Feldpostbriefen stellte Peter Langer in Band 3 bereits den Ersten Weltkrieg dar. Nun folgt eine umfassende Behandlung der Lebensumstände wie der Arbeitsbeziehungen in Oberhausen von 1914 bis 1919 vor dem Hintergrund des relevanten Forschungsstandes.

Klaus Oberschewen gibt uns einen anschaulichen Einblick in Widerstand gegen den Nationalsozialismus, indem die individuelle Entwicklung und das konkrete Handeln einzelner Persönlichkeiten des Oberhausener Widerstandes schlaglichtartig präsentiert werden.

Dirk-Marco Hampel schießt die empfindlichste Leerstelle von Band 4, nämlich die unmittelbare Nachkriegszeit in der Folge des Kriegsendes 1945. Eindrucksvoll und ausführlich gewährt er uns Einblick in die ernährungs- und Wohnungssituation, in die Arbeitsverhältnisse und den Wiederbeginn von geordneter Verwaltung und demokratischem politischen Leben sowie in die Zeit des Wirtschaftswunders bis 1960.

Die Herausgeber von „Oberhausen – eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet“ wünschen Ihnen eine anregende und erkenntnisreiche Lektüre.

Oberhausen, im September 2017

Magnus Dellwig

Peter Langer

Magnus Dellwig
Essay: Kleine Geschichte der Kommunalpolitik in Oberhausen
Einführung

Als alleinig durchgeführte Personenwahl ohne Neuwahl des Rates stellte die Oberbürgermeisterwahl vom 13. September 2015 einen Urnengang unter einzigartigen Bedingungen dar. So bemerkenswert sein Ausgang mit 52,5% der Stimmen für Daniel Schranz (CDU) und 37,7% für Apostolos Tsalastras war und ebenso einschneidend diese Entscheidung für die Kommunalpolitik der Wahlperiode bis 2020 sein wird: Ebenso plausibel ist es angesichts der Geschichte von Kommunalpolitik in Oberhausen, dass dieses Wahlergebnis noch keine Vorentscheidung für die Begründung eines möglicherweise neuen längerfristigen Trends bedeutet. – Denn zu deutlich als von struktureller Natur stellt sich das Wahlverhalten in Oberhausen im langfristigen Zeitverlauf bis zur Kommunalwahl von 2014 dar. Ob es bei der Kommunalwahl 2020 dann zur Begründung eines längerfristigen Trends in Kontinuität zur Wahl des Oberbürgermeisters kommen kann, darüber werden sowohl die Kommunalpolitiker durch ihre Arbeit bis 2020 als auch die Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Urteil über die Qualität jener Arbeit bei der Kommunalwahl 2020 entscheiden. Diese spannende Konstellation gibt längst nicht den einzigen, jedoch einen besonderen Anlass, sich mit der Geschichte der Kommunalpolitik in Oberhausen im großen Längsschnitt seit Gründung der Gemeinde 1862 eingehender zu befassen.

Noch bei der Kommunalwahl im Jahr 2009 erzielte die SPD als mit großem Abstand stärkste politische Kraft in Oberhausen ein Wahlergebnis von 44 %. – Die CDU erreichte 30 %. Und selbst bei dem unter den für eine etablierte Mehrheitspartei ungünstigen Bedingungen einer reinen Ratswahl durchgeführten Urnengang von 2014 waren es 39 %. Bei Prognosen zu den Wahlaussichten der Parteien auf Bundesebene erreichte die SPD in den Jahre 2012 bis 2914 stets einen Wert von lediglich 25 bis 30 %. Somit betrug die Differenz der Oberhausener zu den regionalen wie nationalen Wahlergebnissen 10 bis sogar 20 %, was einer qualitativen Dimension für die politische Struktur und die politische Kultur vor Ort gleichkommt. Spiegelbildlich verhält es sich mit der politischen Zustimmung zur CDU in der Kommune 2009 (30 %) sowie 2014 (32,8 %) und wiederum im Bund 2012 bis 2014 (um 40 %). Die Differenz zwischen diesen Werten für die Volksparteien bedeutet im politischen Geschehen, dass Welten die Verhältnisse im Bund und in der Oberhausener Kommunalpolitik trennen.

Wie ist dies möglich? Vor allem, wie sind diese Unterschiede in den politischen Kulturen zu erklären?

Und zugleich: Wie konnte es angesichts jener zuvor tief verankerten politischen Kultur zur Wahl von Oberbürgermeister Daniel Schranz kommen?

Auf diese Frage soll nachfolgend eine Antwort gegeben werden.

Doch zu allererst sind einige grundsätzliche Vorbemerkungen nötig, die keineswegs nur Selbstverständlichkeiten beinhalten: Der Autor benennt gleich hier als die Grundlagen seiner Darstellung, dass erstens eine rationale Erklärung für das Phänomen einer vom Bund stark abweichenden lokalen - wie regionalen - politischen Kultur in Oberhausen - und in weiten Teilen des Ruhrgebietes - gefunden werden kann. Zweitens fußt diese Erklärung auf langfristigen Bindungen der Wählerschaft an politische Parteien. Drittens basieren jene Bindungen auf tiefgreifenden strukturellen Einflüssen, die sowohl aus der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung der Stadt als auch aus der mit dieser Entwicklung verknüpften Ausgestaltung der kommunalen Öffentlichkeit hervorgehen. Viertens sind es damit weniger Zufälligkeiten oder die Einflüsse einzelner bedeutender Persönlichkeiten - deren Gewicht im Weiteren nicht geleugnet werden soll - als vielmehr die tiefen Furchen der Strukturgeschichte, ohne welche die kommunale Gegenwart Oberhausens – um so mehr die Stadtgeschichte bis zum Jahr 2014 - nicht erklärt, kaum verstanden werden kann. Und da aus all dem wesentliche Orientierungshilfen für das Verständnis der Zukunftsoptionen erwachsen, soll nunmehr der Versuch unternommen werden, das Werden der politischen Kultur Oberhausens „in the long run“ nachzuzeichnen. Dabei werden zwangsläufig Vereinfachungen vorgenommen werden müssen, um dieses Projekt nicht zu einem Mammutvorhaben werden zu lassen. Deshalb lesen Sie das Folgende bitte als Essay - und nicht als unzulängliche Kurzfassung einer politik- oder geschichtswissenschaftlichen Dissertation. Wem der Geist danach steht, dieses später einmal nachzuholen, dem wünscht der Autor viele neue Erkenntnisse oder Fehlerkorrekturen im Detail, schon aus Überzeugung von der Tragfähigkeit der eigenen Forschungsergebnisse jedoch möglichst wenige Korrekturen grundlegender Art.

Nebenbemerkung:

Aus Gründen der Lesbarkeit wird nachfolgend auf die durchgängige Verwendung der weiblichen und der männlichen Substantivform verzichtet. Das bedeutet keineswegs eine Geringschätzung des Anliegens und der Werte von Gender Mainstreaming. Diese Grundhaltung mögen die Leserin und der Leser auch an der häufigen Verwendung androgyner Substantive – wie Menschen, Beschäftigte, Bürgerschaft – erkennen.

Preußen und das Kaiserreich1

Oberhausen ist 2012 150 Jahre alt geworden. Somit beginnt die Geschichte der Kommunalpolitik 1862 mit der Gründung der Bürgermeisterei Oberhausen. Doch um zu verstehen,wie der Start der Gemeindeverordneten in ihre Arbeit verlief, richtet sich unser Blick auf die fünf Jahre zuvor, in welchen die Industrie und wenige vorausschauende Grundbesitzer auf der einen, die Mehrzahl der Bauern und Adeligen auf der anderen Seite heftig um ein Novum der Verwaltungsgeschichte stritten: um die Bildung einer Gemeinde, deren Wurzeln, deren Lebenskraft allein aus ihrer Industrie erwachsen sollten. Indem sich die Befürworter der neuen Gemeinde durchzusetzen vermochten, war zugleich über die zukünftige Zusammensetzung der Oberhausener Gemeindeverordnetenversammlung entschieden. Unter den Bedingungen des preußischen Dreiklassenwahlrechtes, das den politischen Einfluss der Bürger an ihrer Steuerkraft maß, waren die Folgen der Gemeindegründung für die drei maßgeblichen gesellschaftlichen Gruppen klar:


Abb. 1: Rathaus Oberhausen, erbaut 1873

Die Arbeiterschaft würde im Wesentlichen überhaupt kein Wahlrecht erlangen, da ihre Löhne unterhalb der Pflicht zur Zahlung der Klassensteuer - einer Besteuerung des Gesamteinkommens aus Erwerbsarbeit - lagen. Das zahlenmäßig sehr kleine industrielle Großbürgertum - bis um 1900 kaum mehr als 100 Haushaltsvorstände - würde die politische Arbeit vor Ort beherrschen, weil es über Jahrzehnte die Mehrheit der Gemeinde-, später der Stadtverordneten stellen oder in wirtschaftlicher Abhängigkeit halten sollte. Dazu trug maßgeblich bei, dass bei der Vergabe von Stadtverordnetenmandaten nach dem Dreiklassenwahlrecht nicht allein die Steuerleistung natürlicher Personen, sondern auch dieselbe von Kapitalgesellschaften als Klassensteuer entrichtende juristische Personen Berücksichtigung fanden. Das niedere und mittlere Bürgertum der Handwerker, Händler, Angestellten und der akademisch gebildeten Freiberufler würde die Minderheit der frühen Kommunalpolitiker stellen und versuchen, über die Bereitschaft zur Kooperation mit der Industrie Einfluss im Sinne von Mitgestaltung zu gewinnen. Dieser Grundlage politischer Kultur in Oberhausen während des guten ersten halben Jahrhunderts der Stadtgeschichte, bis 1919mit der Weimarer Demokratie das gleiche Wahlrecht Einzug hielt, entsprachen die zeitgenössischen Begrifflichkeiten: Die „Hüttenfraktion“ bestimmte oder verhinderte, was ihr zu kostspielig erschien. Die „Bürgerfraktion“ tat sich mit konstruktiven Vorschlägen, vorrangig zur Entwicklung der Innenstadt, technischer Infrastruktur oder des Bildungswesens hervor.

Parteipolitisch bedeuteten diese Gruppenzuordnungen zwar nicht immer, aber überwiegend: Hüttenfraktion gleich Nationalliberal, Bürgerfraktion seit 1880 immer mehr katholisches Zentrum. Sozialdemokraten gelang wegen des Wahlrechts der Sprung in den Stadtrat bis 1918 nicht. Dennoch saßen dort ab 1900 einige handverlesene Arbeiter, die als Mitglieder der gut bezahlten Arbeiterelite und als Katholiken über das Zentrum, als Protestanten über die Nationalliberalen in den Rat einzogen. Für uns Menschen des 21. Jahrhunderts nahezu unbegreiflich mutet der Stellenwert an, den die Konfessionszugehörigkeit im politischen Leben einnahm. Das lag daran, dass die beiden christlichen Konfessionen markant unterscheidbare soziale Milieus bildeten, deren Mitglieder dadurch wiederum stark unterschiedliche Sichtweisen auf die Gesellschaft und demnach auch verschiedene Interessen in ihr herausbildeten.


Abb.2: Tabelle: Berufsstruktur der Stadtverordneten

* Darunter drei Mitglieder der Kreisamtsleitung der NSdAP.

** An Stelle von Berufsbezeichnungen sind nur Parteifunktionen, so stellvertretende Kreisleiter und SA-Offiziersränge, angegeben.

*** Standartenführer der SS

Zitiert nach Dellwig 1996, S. 725, Anlage 24. Quellen: Reif: Die verspätete Stadt, Tabelle 44, S. 514; StdA OB: VB 1934, 1938; GA vom 18. November 1929

Die katholische Bevölkerungsmehrheit von knapp zwei Dritteln der Oberhausenerinnen und Oberhausener bestand aus den wenigen Ortsansässigen und aus denjenigen Zuwanderern, deren Heimat vornehmlich Rheinland und Westfalen sowie Schlesien waren. Die katholische, meist ländliche Zuzugsbevölkerung bildete das Gros der Arbeiterschaft, gerade im Bergbau, der Handwerker und Händler. Der protestantischen Bevölkerungsminderheit dagegen gehörte die weit überwiegende Mehrheit des Großbürgertums an. Fast alle großindustriellen Manager sowie viele mittlere Eigentümerunternehmer waren evangelisch. Sodann war eine Mehrheit der Angestellten sowie der Facharbeiterschaft, gerade in den Metallindustrien, evangelisch. Und nicht zuletzt kamen seit 1890 zahlreiche Zuwanderer in den Bergbau aus den deutschen Ostprovinzen zwischen Elbe und Memel, die bis auf Schlesien fast ausschließlich protestantischer Konfession waren. So kam es, dass sich wichtige politische Grundüberzeugungen mit der Konfessionszugehörigkeit verbanden. Evangelisch bedeutete vornehmlich national-konservativ, preußisch-patriotisch, großbürgerlich oder am bürgerlichen Lebensstil orientierte Stammarbeiterschaften mit hohen Anteilen verheirateter Facharbeiter und angestellter Führungskräfte.

 

Abb. 3: Stadtverordnete im Ratssaal, Mai 1930

Evangelisch konnte im Gegensatz zu diesen Bevölkerungsgruppen aber auch bedeuten: Man zählte zu der Mehrzahl derjenigen Menschen, die jung, ledig, örtlich extrem mobil und damit auch mental nicht an den Wohnort gebunden waren, und sich ferner der sozialistischen Arbeiterschaft, der SPD und den Gewerkschaften gegenüber aufgeschlossen zeigten. Diese große Gruppe der Oberhausener spielte jedoch bis 1919 für die Kommunalpolitik keine Rolle, da ihr mit Einkommen von unter 900 Reichsmark jährlich das Wahlrecht versagt blieb. Welche quantitative Bedeutung der sozialistischen Arbeiterschaft zukam, zeigte sich im westlichen Ruhrgebiet erstmals 1878, als der Kandidat der SPD im Wahlkreis Duisburg, zu dem auch Oberhausen zahlte, überraschend das Direktmandat errang. – Der davon ausgehende Schock für das staatstragende Bürgertum war so gewaltig, dass für alle weiteren Reichstagswahlen des Kaiserreiches bei Bedarf Wahlbündnisse zwischen Nationalliberalen und Zentrum zustande kamen und tatsächlich erfolgreich einen erneuten sozialdemokratischen Sieg vor Ort verhinderten. Dessen ungeachtet stieg die SPD mit 31 % der Stimmen bei der Reichstagswahl 1912 in der nationalen Politik zur stärksten Fraktion auf. Das gesellschaftliche Milieu der sozialistischen Arbeiterschaft befand sich im Kaiserreich noch in einer besonderen Situation, die in der Kommunalpolitik sehr augenfällig wurde: Eine Integration in die Gesellschaft, eine Akzeptanz als Gesprächspartner durch das Bürgertum fanden nicht statt. So entstanden Arbeitervereine, Gewerkschaften, sogar Parteischulen und insgesamt ein Klassenbewusstsein, das sich durch Abgrenzung vom Rest der Gesellschaft und zugleich durch die Überzeugung auszeichnete, die eigentliche Gesellschaft, nämlich deren Mehrheit zu sein. – Erst die soziale Integration in die pluralistische Gesellschaft der Bundesrepublik machte den Weg frei für Godesberg 1959, für die Öffnung von der klassenbewussten Arbeiterpartei zur gesellschaftspolitisch fortschrittlichen, dabei pluralistischen statt ideologisch orientierten Volkspartei.


Abb. 4: Marktstraße, um 1900

Katholisch bedeutete oft gläubig und „ultramontan“, also im Zeitalter des Nationalismus wurde dieser zugunsten des internationalen Katholizismus und zugunsten der regionalen rheinischen oder westfälischen Identität relativiert. Katholisch waren zugleich viele Bergarbeiterfamilien und ledige Bergarbeiter, auf die der von der Amtskirche geprägte Lebenszusammenhang aus Kirchgang, Traditionen, katholischem Vereinswesen, katholischer Zentrumspartei und katholischen Gewerkschaften einen stärkeren Einfluss ausübte als auf das vergleichbare Milieu der Protestanten. Das vielfach in sich abgeschlossene „soziale Milieu“ des Katholizismus erleichterte es dem Zentrum, einen hohen Anteil von zeitweise über 70 % der Katholiken als Wählerinnen und Wähler an sich zu binden. So begünstigte das soziale Milieu des Katholizismus, mitsamt seinen Abgrenzungsbedürfnissen gegenüber dem evangelischen Staat und der evangelischen Elite in der Gesellschaft, zugleich einen im öffentlich-politischen Leben alltäglich erlebbaren konfessionellen Gegensatz, der seinerseits die politische Polarisierung im Kaiserreich förderte.


Abb. 5: Tabelle: Dreiklassen-Wahlrecht in Oberhausen 1874 - 1912, zur Stadtverordnetenversammlung 1874 bis 1912

* Ohne die 1910 eingemeindeten Gebiete.

Quelle: Reif: Die verspätete Stadt, Tabelle 46, S. 515. Zur Anzahl der Personen in den Einkommensteuerklassen über 3000 und über 6500 Mark ebd. Tabelle 45, zur Wahlbeteiligung ebd. Tabelle 47. Zitiert nach Dellwig 1996, S. 726, Anlage 25.

Nachhaltigen Einfluss auf die im Gemeinde- und später seit 1874 im Stadtrat diskutierten Themen, geschweige denn auf die Beschlussfassungen, erhielten die wenigen Vertreter der Bevölkerungsmehrheit aus der Arbeiterschaft im Rat der Stadt nicht. Umgekehrt jedoch wirkte, oder besser funktionierte die Integration in das politische Leben der Stadt. Die sesshafte und zunehmend lokalpatriotische Arbeiterschaft unterstützte jenen Konsens zwischen Hütten- und Bürgerfraktion, der etwa seit 1895 im Interesse der übergeordneten Stadtentwicklung gefunden worden war, als die kommunale Mehrheit der Industrie gegenüber den anwachsenden Stadtbürgern merklich dünner wurde: Um Oberhausen zur Großstadt mit Lebensqualität, und das hieß mit Infrastrukturen und einer attraktiven City zu entwickeln, einigte man sich auf kostspielige Investitionen, an deren Spitze die erste kommunale Straßenbahngründung in einer deutschen Stadt überhaupt im Jahr 1894 stand. Möglich wurde dies durch die Übereinstimmung der Interessen: Die oft selbstständigen Bürger aus Handel und freien Berufen wünschten das Wachstum der Innenstadt als Dienstleistungszentrale der Stadt; die Großindustrie dagegen brauchte immer mehr Beschäftigte - vor allem qualifizierte Angestellte, Meister, Führungskräfte - die nicht mehr nur in fußläufiger Distanz zu den Werkstoren wohnen konnten. Beidem diente die Straßenbahn! Die Verständigung des Oberhausener Bürgertums auf jenes Stadtentwicklungskonzept steigerte fortan die Kompromissbereitschaft und die Konsensorientierung von Nationalliberalen wie Zentrum, von Hütten-wie Bürgerfraktion auf vielen Feldern kommunaler Politik von Steuern über Bildung bis zum Verkehr und zu den Bauaktivitäten.


Abb. 6: Triebwagen Oberhausener Straßenbahn, um 1900

Weimarer Republik 2

Im November 1918 war für das Deutsche Reich der Erste Weltkrieg verloren, der Kaiser dankte ab, die parlamentarische Republik wurde ausgerufen. 1919 folgten in Oberhausen die ersten Kommunalwahlen nach dem gleichen Wahlrecht, und nun auch für Mann und Frau! Wahlrecht und Novemberrevolution von 1918 bewirkten eine völlig veränderte Zusammensetzung der Oberhausener Stadtverordnetenversammlung. Das katholische Zentrum, bislang zweitstärkste Fraktion nach den konservativ-protestantisch-bürgerlichen Nationalliberalen, stieg über die gesamte Geschichte der Weimarer Republik zur stärksten Kraft vor Ort auf und erreichte meist um 32 bis 35 %, in der Spitze 37 % der Stimmen. Ursache dieser Vorrangstellung des Zentrums während der Jahre der ersten deutschen Republik waren nicht allein die große, Identität stiftende Bedeutung des konfessionellen Gegensatzes in Kaiserreich und Republik in Verbindung mit einem gut 60-prozentigen Bevölkerungsanteil der Katholiken. Als ebenso bedeutsam erwies sich der „moderne“ Charakter des Zentrums als erster Volkspartei der deutschen Geschichte: Arbeiter und Bürgertum, Frauen noch zahlreicher als Männer gaben ihre Stimme jener Partei, die insbesondere im Rheinland vieler Orts dominierte. Der Kulturkampf Bismarcks gegen die Ansprüche der katholischen Bevölkerung auf Autonomie in Kultur und Bildung während der 1870er Jahre zeigte lange währende Folgen für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Katholiken im mehrheitlich protestantischen Preußen. Spiegelbild dieser Sonderstellung des Zentrums im Parteienspektrum war schließlich die Zersplitterung der Parteienlandschaft in den beiden weiteren großen gesellschaftlich-politischen Milieus: der sozialistisch orientierten Arbeiterschaft einerseits, dem national-konservativen protestantischen Bürgertum andererseits.


Abb. 7: Wallfahrt der Sterkrader Katholiken nach Kevelaer 1928

Schon anders als bei der Wahl zur in Weimar tagenden, Verfassung gebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919, als die Mehrheits-SPD in Oberhausen noch 35 % der Wählerstimmen errang und damit nur 2 % hinter dem Zentrum zurückblieb, fielen die Zustimmungswerte der SPD bereits bei der Kommunalwahl am 2. März 1919 auf 22,3 % zurück. Im Gegenzug errangen die jetzt erstmals kandidierenden Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) einen Wähleranteil von 6,6 %, der sich 1920 noch erhöhte. - Diese Konstellation der parteipolitischen Zersplitterung in der sozialistischen Arbeiterschaft sollte für die Folgejahre der Republik das Verhältnis von SPD und der 1924 die Nachfolge der USPD antretenden KPD bestimmen. Abgrenzung erlangte dabei gegenüber Kooperation den Vorrang. Das gesamte sozialistische Lager behauptete in Oberhausen von 1919 bis 1932 einen Stimmenanteil von rund 35 %.


Abb. 8: Tabelle: Stadtverordnetenwahlen 2.März 1919 in Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld


Abb. 9: Tabelle: Stadtverordnetenwahlen 4. Mai 1924 in Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld

Die Ursachen dieser dramatischen Verschiebungen im ersten Nachkriegsjahr bildeten – neben einer bei der Wahl zur Nationalversammlung wahrscheinlich höheren Wahlbeteiligung mit entsprechend positiven Mobilisierungseffekten für die SPD - die für die sozialistische Arbeiterschaft vielfach enttäuschenden Erfahrungen der Revolution:

- keine Verstaatlichung der Schwerindustrien, insbesondere des Bergbaus,

- kein Zurückdrängen der immer noch monarchisch gesinnten alten Eliten in Bürokratie, Militär und Wirtschaft,

- außer der Einführung des Acht-Stunden-Tages hinter den Erwartungen zurückbleibende Reformen der Betriebsverfassung, die sich insbesondere auf die Stärkung der im Krieg neu geschaffenen Betriebsräte oder –ausschüsse richteten.

Und dann folgte im März 1920 das schockierende Erlebnis, dass die Reichswehr - auf Befehl des sozialdemokratischen Kriegsministers Noske und gemeinsam mit meist nationalistischen Freikorps - Befehl und Freibrief zur Niederschlagung des von der Roten Ruhr-Armee geführten Ruhrkampfes erhielt. Dabei stellte dieser zu Beginn doch vornehmlich das solidarische Handeln der sozialistischen Arbeiterschaft zur Niederschlagung des verfassungsfeindlichen Kapp-Putsches nationalistischer Militärs in Berlin und München dar. Diese Entwicklungen wirkten sich dramatisch bei den Reichstagswahlen vom 6. Juni 1920 aus, als 16,9 % Stimmen für die SPD nun 10,5 % für die USPD und 10,9 % für die KPD gegenüberstanden.