Loe raamatut: «Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 2»

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Oberhausen

Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet

Studienausgabe

Herausgegeben von Magnus Dellwig und Peter Langer

unter Mitarbeit von Otto Dickau, Klaus Oberschewen und Burkhard Zeppenfeld

Band 2: Oberhausen im Industriezeitalter

Verlag Karl Maria Laufen

Die Herausgeber und der Verlag bedanken sich bei den Sponsoren für die großzügige Unterstützung. Nur so konnte die Studienausgabe der Oberhausener Stadtgeschichte realisiert werden.


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Verlag Karl Maria Laufen

Oberhausen 2014

Alle Rechte vorbehalten

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Autoren und Herausgeber haben sich bemüht, alle Bildrechte zu klären. Sollte dies im Einzelfall nicht oder nicht zutreffend gelungen sein, wird um Nachricht an den Verlag gebeten.

Bildredaktion: Ingo Dämgen

Register: Saskia Eßer

ISBN 978-3-87468-326-5

ISBN des Gesamtwerkes: 978-3-87468-316-6

Überblick über das Gesamtwerk

Band 1: Oberhausen in vorindustrieller Zeit

Band 2: Oberhausen im Industriezeitalter

Band 3: Oberhausen in Krieg, Demokratie und Diktatur

Band 4: Oberhausen in Wirtschaftswunder und Strukturwandel

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Überblick über das Gesamtwerk

Grußwort

Vorwort der Herausgeber

■ BURKHARD ZEPPENFELD

Das Werden der Industriestadt Oberhausen

Von den Anfängen der industriellen Entwicklung bis zum „Take off“ in der Mitte des 19. Jahrhunderts

1. Wirklich eine Einöde: Die ökonomische Lage im Raum Oberhausen zu Beginn der industriellen Entwicklung

2. Die Gründung der St. Antony-Hütte oder: Wie westfälische Schinken die Hüttenindustrie des Ruhrgebiets begründeten

3. Pleiten, Flucht und schlechter Guss: Der lange Weg zur Rentabilität der St. Antony-Hütte

4. Konkurrenz verdirbt das Geschäft: Die Gründung der Hütte Gute Hoffnung im preußischen Sterkrade

5. Die Dritte im Bunde: Die Hütte Neu-Essen im Reichsstift Essen

6. Mit Gebetbuch und Pistole: Der Zusammenschluss dreier Eisenhütten

7. Ohne Konkurrenz: Die Entwicklung der JHH bis zur Ankunft der Eisenbahn

■ MAGNUS DELLWIG

Die Gemeindegründung und Stadtwerdung der Industriestadt Oberhausen

Vom Impulsgeber Eisenbahn 1846 bis zum Ausbau als industriell geprägte Großstadt 1914

1. Die Bürgermeisterei Oberhausen – eine Gründung für die Industrie

2. Grundlagen und Prozesse der Stadtentwicklung – Wirtschaft und Raumbildung

3. Bevölkerung und soziale Schichtung

4. Kommunalpolitik für die Industrie, Kommunalpolitik für die aufstrebende Stadt

5. Stadt und Lebensqualität – die Stadtentwicklungskonzeption

6. Die Gemeindegrenzen – Entdeckung des Instrumentes der Stadterweiterung

7. Verkehr: Erstrangige Aufgabe in der Industriestadt

8. Finanzen – Verteilungspolitik im Entscheidungsfeld wirtschaftlicher Interessen

9. Umwelt und Wirtschaft – Baugenehmigungen und Gewerbekonzessionierung

10. Die „Städtetechnik“ – Versorgung und Entsorgung

11. Kirche, Schule und Kultur

12. Soziales, Gesundheit und Wohnen

13. Arbeitsmarktpolitik: Die Politik nimmt Einfluss auf die Arbeitsbeziehungen

14. Stadtwerdung und Stadtentwicklung in Oberhausen zwischen 1862 und 1914 – eine Bilanz

■ KLAUS OBERSCHEWEN

Arbeiterkämpfe um Lohn und Lebenszeit

Streiks und Auseinandersetzungen in Oberhausen 1872 bis 1912

■ HELMUT RÖNZ

Osterfeld in der Zeit der Industrialisierung

Von den Gründerjahren bis zur Eingemeindung nach Oberhausen 1870 bis 1929

■ OTTO DICKAU

Sterkrade

Ein Dorf im Aufbruch zur Industriestadt 1840 bis 1929

Zeittafeln

Zeittafel zur Geschichte von Alt-Oberhausen

Zeittafel zur Geschichte von Osterfeld

Zeittafel zur Geschichte von Sterkrade

Zeittafel zur Geschichte von Holten

Danksagung

Abkürzungen

Begriffserläuterungen

Anmerkungen

Register

Autoren

Abbildungsnachweis

Klappentext

Grußwort

2012 wurde Oberhausen 150 Jahre alt. Das war und ist ein guter Grund sich zu erinnern. Immer wieder haben mich im Laufe der Jahre Oberhausenerinnen und Oberhausener angesprochen, ob es nicht mal wieder Zeit würde für ein neues Oberhausen-Geschichtsbuch.

Immerhin ist das letzte 1965 erschienen, das ist fast ein halbes Jahrhundert her. Den Anstoß, von der Idee zur konkreten Umsetzung zu kommen, gab die Verabschiedung von Dr. Peter Langer als Leiter der Heinrich-Böll-Gesamtschule Mitte 2009. Damals habe ich ihn, den Vorsitzenden der Historischen Gesellschaft Oberhausen (HGO), gebeten, in seiner hinzugewonnenen Freizeit sich um ein neues Stadtgeschichtsbuch für Oberhausen zu kümmern.

Er hat die Aufgabe angenommen und sie gemeinsam mit seinem Mitherausgeber Dr. Magnus Dellwig sowie den Autorinnen und Autoren, dem Redaktions- und dem Herausgeberteam zum Erfolg geführt.

Pünktlich zum Jubiläumsjahr 2012 lag ein neues und umfassendes Werk über die Stadtgeschichte vor. Es gliedert sich in vier Bände:

■ Band 1 beschreibt die vorindustrielle Zeit bis zum 19. Jahrhundert. Er stellt die Stadtteile in den Mittelpunkt für eine Zeit, zu der es Oberhausen noch nicht gab.

■ Band 2 setzt 1758 an. Er schildert die Industrialisierung und die Stadtbildung von der Gründung der St. Antony-Hütte bis ins frühe 20. Jahrhundert.

■ Band 3 befasst sich mit dem Zeitraum von 1914 bis 1945 und stellt dabei die politische Geschichte in den Mittelpunkt.

■ Band 4 ist zeitlich gesehen der aktuellste Band. Er behandelt die Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei macht ihn die Vielseitigkeit der thematischen Zugänge zur Stadtgeschichte besonders lesenswert.

Beeindruckende 35 Autorinnen, Autoren und Interviewpartner haben die Stadthistorie aufgearbeitet und auf mehr als 1.800 Seiten dargestellt. Das ist bislang einmalig in der Geschichte der Städte im Ruhrgebiet. So ist ein überaus spannendes Bild von der Entwicklung Oberhausens entstanden, das eine große Verbreitung und Leserschaft verdient.

Mein ganz besonderer Dank gilt den zahlreichen Autorinnen und Autoren, die in ihrer Freizeit mit großem Zeitaufwand und noch größerem Enthusiasmus dieses umfassende Oberhausener Geschichtsbuch geplant, geschrieben und herausgegeben haben.

Die Erstveröffentlichung im September 2012 fand bei der geschichtsinteressierten Bürgerschaft derart großes Interesse, dass die neue Stadtgeschichte schon zu Weihnachten 2012 vergriffen war.

Den Herausgebern ist es daraufhin gelungen, finanzielle Förderer und den Oberhausener Verlag Karl Maria Laufen für eine Neuveröffentlichung als Studienausgabe zu gewinnen. Diese verfolgt den hohen Anspruch, allen Interessierten in Stadt und Wissenschaft das Werk zu attraktiven Konditionen erneut zugänglich zu machen. Ebenfalls ist beabsichtigt, Folgebände zu Themen von gesamtstädtischer Bedeutung zu veröffentlichen. Dafür danke ich allen Beteiligten im Namen der Stadt Oberhausen, ihrer Bürgerinnen und Bürger ausdrücklich.

Glück auf und viel stadtgeschichtliches Lesevergnügen!

Klaus Wehling

Oberbürgermeister

Vorwort der Herausgeber

Liebe Leserin, lieber Leser,

in dem Ihnen vorliegenden Band 2 des vierbändigen Werkes Oberhausener – eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet, veröffentlicht anlässlich des 150. Jubiläums der Gründung der Bürgermeisterei Oberhausen 1862, erhalten Sie einen Einblick in die Vorgänge der Industrialisierung und der Verstädterung, die den Raum der Stadt Oberhausen in ihren Grenzen von 1929 erfasste, prägte und tiefgreifend veränderte.

Den Einstieg in die Oberhausener Industriegeschichte macht Burkhard Zeppenfeld mit der Geschichte der drei Eisenhütten in Osterfeld, Sterkrade und Lirich-Lippern. Anschaulich wird die Entwicklung geschildert von der Gründung der St. Antony-Hütte 1758, der ältesten Eisenhütte im Ruhrgebiet, über die Vereinigung mit den Hütten Gute Hoffnung (Sterkrade) und Neu-Essen (Lippern) in der Hüttengewerkschaft und Handlung Jacobi, Haniel und Huyssen 1808 bis zum Durchbruch der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts.

Im Mittelpunkt von Band 2 steht die Darstellung der Stadtwerdung Alt-Oberhausens durch Magnus Dellwig im Zeitraum von 1846, als die Köln-Mindener Eisenbahn durch die Lirich-Lipperner Heide mit ihren nur etwa 1.000 Einwohnern gebaut wurde, bis zum Ersten Weltkrieg, als die Stadt Oberhausen 1915 mit 103.000 Einwohnern die Schwelle zur Großstadt überschritt. Wechselseitig sowohl Grundlage als auch Folge dieses stürmischen Prozesses waren die rasant verlaufende Besiedlung des städtischen Raumes sowie die Herausbildung einer Fülle städtischer Einrichtungen. Diese reichten von der Gemeindeverwaltung bis zu technischen Einrichtungen, wie die Versorgung mit Wasser, Gas, Strom und Nahverkehr. Hinzu trat die Auffächerung eines vielfältigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Angesichts dieser vollständigen Veränderung des dünn besiedelten agrarischen Raumes zu einer dynamischen Industriegroßstadt steht in diesem Beitrag die so genannte „moderne Stadtgeschichte“ im Sinne einer umfassenden Strukturgeschichte des städtischen Lebens im Mittelpunkt der gewählten Darstellungsweisen von Stadtgeschichte.

Die Bedeutung großer Streikbewegungen von 1872 bis 1912 für die Herausbildung von Gewerkschaften als zentraler Organisation der Arbeiterbewegung in der Industrie- und Arbeiterstadt Oberhausen und im gesamten Ruhrgebiet erläutert Klaus Oberschewen.

Mit Blick auf die Zusammenfassung der drei vormals selbstständigen Städte Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld im Jahr 1929 schließt Band 2 ab mit der Geschichte Sterkrades und Osterfelds. Die Entwicklung der beiden nördlichen Oberhausener Stadtbezirke wird dargestellt von ihrer Erfassung durch die Hochindustrialisierung um 1840 (Sterkrade) durch Otto Dickau bzw. um 1870 (Osterfeld) durch Helmut Rönz bis zu ihrer Vereinigung mit Oberhausen 1929.

Als Herausgeber möchten wir noch auf Folgendes hinweisen: Am Ende der vier Bände finden Sie jeweils eine Reihe von Begriffserläuterungen. Auf die dargestellten Begriffe wird im Text mit einem grauen Dreieck (▶) aufmerksam gemacht. Sodann möchten wir darauf hinweisen, dass die Autorinnen und Autoren für die mitunter wertenden Aussagen in ihren Beiträgen allein verantwortlich sind.

Die schriftliche Darstellung historischer Prozesse wird nie den Geschmack aller treffen. Es wird stets andere Meinungen geben. Das ist gut und notwendig, wenn neue Sehweisen vorgestellt und diskutiert werden. Die hier versammelten Autorinnen und Autoren wünschen sich eine sachliche und offene Auseinandersetzung, denn sie haben nach Zeit und Umständen das Möglichste geleistet.

Konstruktive Kritik ist immer erwünscht und wird unter stadtarchiv@oberhausen.de entgegengenommen. Anonym verfasste Kommentare werden allerdings nicht beantwortet. Die Mitglieder der Redaktion und alle Autorinnen/​Autoren wünschen den Leserinnen und Lesern eine interessante und erkenntnisreiche Lektüre.

Oberhausen, November 2014

Magnus Dellwig

Peter Langer

Burkhard Zeppenfeld

Burkhard Zeppenfeld

Das Werden der Industriestadt Oberhausen

1. Wirklich eine Einöde: Die ökonomische Lage im Raum Oberhausen zu Beginn der industriellen Entwicklung

Als „wüste Haide“, „Einöde“ oder „trostlose Gegend“ beschrieben Reisende die Region, in der später die erste Eisenhütte des Ruhrgebiets entstehen sollte. Damit stellt sich die Frage: Wie sah die Region, die sich heute „Wiege der Ruhrindustrie“ nennt, vor dem Beginn des industriellen Zeitalters aus? Und weiter: Wovon lebten die Menschen in der Zeit, als sie noch nicht in die Zechen oder Hüttenwerke strömten?

Mehrere Beschreibungen geben in der Zeit zum Beginn des 19. Jahrhunderts ein anschauliches Bild von der Landschaft rund um das spätere Oberhausen. Sie lassen ahnen, wie beschwerlich der Alltag der wenigen Bewohner gewesen sein muss. 1794 fuhr Christian Friedrich Meyer von Borbeck nach Wesel und traf auf eine unwirtliche Landschaft, die er in seinen 1797 veröffentlichten „Ansichten einer Reise durch das Clevische und einen Theil des Holländischen“ beschrieb:

„In der Gegend von Starkrat fangen die großen, wüsten Haiden an, welche bis eine Stunde vor Wesel fortlaufen, und den nicht mindesten Menschenfleiß zu ihrer Verbesserung anzeigen. Gleich einer Wüste Arabiens, allwo die nach Mekka wallfahrende muhamedanische Karavane nichts, als unbebaute wüste Blößen antrifft, so trifft man in dieser Gegend äußerst selten etwas anders als Reisenden. Der schlechte Sandgrund dürfte wohl bisher einen jeden abgehalten haben, eine vernünftige, zweckmäßige Verbesserung in der Benutzung zu befangen.“1

Ähnlich äußerte sich auch Pierre-Hippolyte-L. Paillot in seinem Tagebuch eines Emigranten. Paillot, der 1794 als Flüchtling vor der Französischen Revolution an den Rhein und an die Ruhr kam, fiel der Unterschied zwischen seiner Heimat, dem ökonomisch weit entwickelten Norden Frankreichs, und der öden Gegend nördlich der Ruhr besonders auf. Entsprechend drastisch fällt seine Beschreibung einer Fahrt von Duisburg nach Dorsten aus, bei der er durch die Gegend des späteren Oberhausens gekommen sein muss:

Abb. 1: Titelblatt des Bandes „Ansichten einer Reise durch das Clevische und einen Theil des Holländischen …“ von Christian Friedrich Meyer (1797)

„Etwa eine Stunde nach der Überfahrt [über den Rhein, B. Z.] fuhren wir durch eine weite Heidelandschaft, die sich bis Dorsten zog. Allein ein kleiner Weiler [möglicherweise Sterkrade, B. Z.] konnte diese Eintönigkeit durchbrechen. Dort war ein schönes Wirtshaus, in dem wir einen Halt zum Abendessen machten. Da es das einzige auf dieser Straße war, standen dort sehr viele Wagen, die den Weg sogar versperrten. In der Nähe waren mehrere Schmieden, die ich mir gern angesehen hätte, wenn ich Zeit gehabt hätte, aber wir brachen sofort auf und fuhren wieder durch diese Heide, die einem nur Wehmut einflößen konnte. Bis ins unendliche waren nur vereinzelte, absterbende Bäume zu sehen, sowie Sandhaufen, die vom Winde weggeweht wurden und die sich zwischen einigen Wacholderbäumen und dürrem Gras ausstreckten. Selten sahen wir ein paar Strohhütten, von armen Bauern bewohnt, die das Gras mähten, um daraus ihr Feuer zu machen. Wir fuhren die Höhen hinauf in der Hoffnung, einen angenehmeren Horizont zu entdecken. Es blieb, wie es war. So weit das Auge reichen konnte, war keine Spur von Ackerbau zu sehen. Das war wirklich eine Einöde.“2

Bis in die 1820er Jahre hinein änderte sich nicht viel am Zustand dieser Landschaft. So konnte auch die westfälische Dichterin Annette von Droste-Hülshoff in ihren 1824 verfassten „Westfälischen Skizzen und Landschaften“ über die Gegend nur feststellen:

„Eine trostlose Gegend! Unabsehbare Sandflächen, nur am Horizonte hier und da von kleinen Waldungen und einzelnen Baumgruppen unterbrochen. Die von Seewinden geschwängerte Luft scheint nur im Schlafe aufzuzucken. Bei jedem Hauche geht ein zartes, dem Rauschen der Fichten ähnliches Geriesel über die Fläche und säet den Sandkies in glühenden Streifen bis an die nächste Düne, wo der Hirt in halbsomnambuler Beschaulichkeit seine Socken strickt und sich wenig um uns kümmert, wie sein gleichfalls somnambuler Hund und seine weidenden Heidschnucken.

Schwärme badender Krähen liegen quer über dem Pfad und flattern erst auf, wenn wir sie fast greifen können. […] Aus einzelnen Wacholderbüschen dringt das klagende möwenartige Geschrill der jungen Kiebitze, die wie Tauchervögel im Schilf in ihrem stacheligen Asyle umschlüpfen und bald hier bald drüben ihre Federbüschel hervorstrecken. Dann noch etwa jede Meile eine Hütte, vor deren Tür sich ein paar Kinder im Sande wälzen und Käfer fangen und allenfalls ein wandernder Naturforscher, der neben seinem überfüllten Tornister kniet und lächelnd die zierlichen versteinerten Muscheln und Seeigeln betrachtet, die wie Modelle einer früheren Schöpfung verstreut liegen – und wir haben alles genannt, was eine lange Tagesreise hindurch eine Gegend belebt, die keine andere Poesie aufzuweisen hat, als die einer fast jungfräulichen Einsamkeit und einer weichen traumhaften Beleuchtung.“3

Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschten also in der Region des späteren Oberhausens Heide- und Waldflächen vor, die von moorartigen Gebieten durchbrochen wurden. Die Region war weitgehend unbesiedelt, von einigen kleineren Orten wie Sterkrade, Osterfeld und Holten abgesehen. Die dort wohnenden Menschen lebten vor allem von Holz-, Streu- und Weidenutzung oder Plaggenwirtschaft – eine landwirtschaftliche Betriebsweise, bei der Rasenteile vermischt mit Viehmist zur Düngung des Bodens verwendet wurden. Teilweise hatten sie sich für diese Arbeiten genossenschaftlich organisiert. Nur bei Holten und nach Süden zur Ruhr in den Bereichen um Lirich, Lipppern, Styrum und Alstaden nahm der Anteil der Ackerflächen etwas zu. Hier konnte von Bauern und Köttern Ackerbau betrieben werden, auch wenn es sich in Emschernähe um schwere, nicht besonders fruchtbare Böden handelte.4 Als weitere Erwerbsmöglichkeit kam die Viehhaltung hinzu, die jedoch durch die wenig fruchtbaren Böden ebenfalls sehr eingeschränkt war. Aus den agrarischen Tätigkeiten resultierten kleinere Gewerbe wie die Schnapsbrennerei – besonders aus den Beeren des weit verbreiteten Wacholderstrauches – und die Brauerei. Auch mehrere Mühlen konnten in der Umgebung als agrarisches Nebengewerbe existieren.

Das Handwerk war ebenfalls weitgehend agrarisch orientiert. Zusätzliche Verdienstmöglichkeit dürften den Handwerkern aber auch die verschiedenen Adelssitze und das Kloster in Sterkrade geboten haben. Für Holten ist ab 1740 vorübergehend das Tuchmachergewerbe bedeutend. Maximal 51 Arbeiter saßen 1787 als Heimarbeiter für Manufakturbetriebe aus dem Duisburger Raum an Webstühlen, vermutlich im Nebengewerbe. Mit der Industrialisierung der Weberei ging die Zahl der betriebenen Webstühle aber schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder rasch zurück. 1820 waren für Holten nur noch zehn Tuchmacher verzeichnet.5 Der amtliche Zeitungsbericht der Stadt Holten stellte dann im Mai 1831 fest: „Die Tuchfabriken in dem Städtchen Holten sind ihrer gänzlichen Auflösung nahe […]“6

2. Die Gründung der St. Antony-Hütte oder: Wie westfälische Schinken die Hüttenindustrie des Ruhrgebiets begründeten

Abb. 2: Freiherr Franz von Wenge zu Diek (1707 – 1788), nach einem Gemälde von Ernst Linnenkamp

In diese öde Landschaft brach Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue Entwicklung ein.7 Voraussetzung dafür war die Nutzung eines unter der „Wüste“ und dem Moor lagernden Bodenschatzes, dem Raseneisenerz. Raseneisenerz ist ein Sumpferz, das in Niederungen von Flüssen und in Mooren vorkommen kann. Es bildet sich, wenn eisenhaltiges Grundwasser starken Schwankungen ausgesetzt ist und Eisenteilchen sich an Böden oder Wurzeln anlagern. Reichert sich das Eisen mit der Zeit an, entstehen bis zu wenige Dezimeter dicke Schichten, die über 50 Prozent Eisen enthalten können. Das Raseneisenerz befindet sich oberflächennah, das heißt etwa einen Spaten tief unter dem Boden, und verteilt sich über große Flächen. Sein Abbau greift weitflächig in die Bodenbeschaffenheit der Landschaft ein. Für die landwirtschaftliche Bodennutzung ist der Abbau dennoch lukrativ: Einerseits schafft er für die auf recht unfruchtbaren Böden arbeitenden Bauern eine zusätzliche Verdienstmöglichkeit. Andererseits wird der Boden nach Gewinnung des Erzes für eine landwirtschaftliche Nutzung fruchtbarer.8

Um diesen Schatz an Erz zu heben, bedurfte es eines Pioniers, der die Chance erkannte und zu erheblichen Investitionen fähig und bereit war. Dieser Pionier war Franz Ferdinand Nicolaus Lambertus Otto Joseph von Wenge (1707 – 1788). Im August 1707 auf Gut Portendieck, dem Stammsitz der Familie, in Schonnebeck bei Essen geboren, wendete sich Franz Ferdinand von Wenge einer geistlichen Karriere zu.9 Am 6. November 1736 wurde er in das ▶ Domkapitel von Münster, der Regierung des Fürstbistums, berufen. Das Fürstbistum Münster galt zu dieser Zeit als eines der am stärksten aufgeklärten und fortschrittlichsten geistlichen Fürstentümer in Deutschland. Aus seiner Tätigkeit als Domkapitular bezog von Wenge regelmäßige Einkünfte aus kirchlichen Besitztümern. Hierzu zählte auch das ▶ Archidiakonat Winterswijk am Niederrhein,10 in dessen Nähe schon Mitte des 18. Jahrhunderts mehrere Eisenhütten betrieben wurden: seit 1689 die Rekhemer Hütte in Doetinchen, seit 1729 die St. Michaelis Eisenhütte in Liedern bei Bocholt und ab 1754 eine Eisenhütte in Ulft. Alle drei Hütten arbeiteten mit Holzkohle und Raseneisenerz als örtlichen Rohstoffen. Auch bei Haus Broich in der Nähe von Mülheim soll zu Beginn des 17. Jahrhunderts bereits Eisen in Rennöfen geschmolzen worden sein.

Vielleicht kam von Wenge auf diese Weise mit der Eisenverhüttung in Kontakt, ansonsten sind seine Motive eine Eisenhütte zu errichten nicht überliefert.11 Auch dürfte bekannt gewesen sein, dass Raseneisenerz auch an den Ufern von Emscher und Lippe lagerte. 1740 betätigte sich von Wenge erstmals montanindustriell, als ihn am 11. November die Essener Fürstäbtissin mit dem „Bleiberg auf Isingerfeld bei Steele“ zur Erzgewinnung belehnte. Weitere Nachrichten über diese industrielle Betätigung von Wenges gibt es jedoch nicht.12

Kurz nach der Jahreswende 1740/​41 wendete sich von Wenge dann den Erzvorkommen im Vest Recklinghausen zu, das zu dieser Zeit Teil des Fürstbistums Köln war. Am 25. Februar 1741 erreichte ein Schreiben den Kölner Erzbischof Clemens August von Bayern – in Personalunion ebenfalls Fürstbischof von Münster, Hildesheim, Osnabrück und Paderborn sowie Herrscher über weitere deutsche Territorien. Von Wenge, als Domherr in Münster stand er in Clemens Augusts Diensten, stellte in dem Schreiben zunächst fest, dass sich „in der gegendt von Osterfeldt und Buer“ im Vest Recklinghausen ein „Verstreueter steiniger ohrgrundt befinde, woraus dem äußerlich ansehen nach wohl einiges eisen zu erzwingen seyn mögte“. Wenge teilte seinem Landesherrn dann mit, dass er die Eisengewinnung plane. Anschließend stellte er das Gesuch, er nannte es „Approbation“, dieses Erz graben und auf seine Tauglichkeit auf eine Verhüttung prüfen zu dürfen. Sollte das Erz brauchbar sein, so erwartete von Wenge für das Vest Recklinghausen einen starken wirtschaftlichen Aufschwung, wo bisher „fast kein Commercium vorhanden“ sei. Er deutete aber auch an, dass „große Kosten und mühe erforderlich seynd“, um das Erz gewinnen und verwerten zu können.13


Abb. 3: Clemens August von Bayern (1700 – 1761), Erzbischof und Kurfürst von Köln (ab 1723), Fürstbischof von Münster (ab 1719), Paderborn, Hildesheim und Osnabrück

Abb. 4: Erste Seite des am 17. Mai 1752 bei der Hofkammer in Bonn eingegangenen Antrags Franz von Wenges zur Genehmigung der Errichtung einer Eisenhütte (zeitgenössische Abschrift)

Die Hofkammer in Bonn beantwortete noch am Tag, an dem der Antrag von Wenges eingegangen war, das Schreiben und stellte von Wenge einen Mutschein für ein „Eisenbergwerk“ aus. Damit war ihm erlaubt, im Vest Recklinghausen nach Erz zu suchen und dieses auf seine Eignung zur Verhüttung zu prüfen. Üblicherweise wurde nach Freilegung des Erzes vom Besitzer des Mutscheins eine Belehnung mit den Erzfunden beantragt, womit die Erlaubnis zur Ausbeutung der Erzfunde, eigentlich landesherrliches Recht, verbunden war. Im Mutschein vom 25. Februar 1741 wurde von Wenge daher vorgeschrieben, „binnen gehöriger Zeit“ die Belehnung mit einem Eisensteinbergwerk zu beantragen.14

Dieser Vorgabe kam von Wenge jedoch nicht so schnell nach. Es ist nicht festzustellen, ob er noch kein Erz gesucht hatte oder ob er auf Schwierigkeiten bei der Suche gestoßen war. Auf jeden Fall wiederholte er nach zweieinhalb Jahren, am 12. Oktober 1743, seinen Antrag auf Erteilung eines Mutscheins. In weiten Teilen war das Schreiben wortgleich mit dem Antrag von 1741. Wenge bat dieses Mal „gnädigst“ um „ein besonderes protectorium“, damit bei der Erzsuche keine Behinderungen auftreten könnten.15 Wieder reagierte die kurkölnische Hofkammer in Bonn rasch. Schon am 15. Oktober stellte sie von Wenge eine „Cameralerklärung anstatt eines Muthscheins“ aus. Die erste halbe Seite des Schreibens war allein mit der Auflistung einer Auswahl der Titel des Landesherrn Clemens August gefüllt. Der Rest der Seite setzte sich dann allgemein mit der Förderung des Bergbaus im Erzbistum Köln auseinander, wobei auch auf die mögliche Errichtung eines Poch- und Schmelzwerks hingewiesen wurde. Erst die zweite Seite des Schreibens erlaubte von Wenge erneut und nun ausführlich, im Vest Recklinghausen bei Osterfeld ein Eisensteinbergwerk anzulegen. Ihm wurde zugesichert, sobald er das Erz freigelegt habe, das Bergwerk als Lehen zu empfangen, doch wurde ihm aufgegeben, sich an die in der Bergordnung festgesetzten Fristen zu halten.16

Es ist nicht zu vermuten, dass der Freiherr von Wenge als Geistlicher über größere Kenntnisse der Hüttentechnik verfügte. Offensichtlich war er aber vermögend und risikofreudig genug, sich auf die Ausbeutung und Nutzung der Eisenerzlager des Vestes Recklinghausen einzulassen. Und er hatte Ausdauer! Die nächsten Quellen zur Geschichte der St. Antony-Hütte, dieser Name wurde für das Werk erstmals 1764 erwähnt,17 finden sich dann erst wieder 1752. Ob von Wenge mittlerweile Erz gefunden hatte oder überhaupt eine Suche veranlasst hatte, ist nicht festzustellen. Auf jeden Fall zogen sich die Arbeiten zur ▶ Mutung in die Länge. Doch der angehende Unternehmer bereitete die nächsten Schritte schon vor. Am 17. Mai 1752 beantragte er bei der Hofkammer in Bonn die Belehnung mit dem Recht, eine Eisenhütte zu errichten.18 Die lange Dauer zwischen der Erteilung des Mutscheins und dem weiteren Fortgang der Arbeiten begründete er mit großen Schwierigkeiten, die bisher aufgetreten waren, um das Erz zu finden und zu prüfen. Er betonte, dass in der Umgebung des Vestes bisher keine „Bergverständige“ leben würden und daher Fachleute „aus entlegenen orthen mit sonder große Kösten“ angeworben werden mussten. Erst nachdem er erneut den künftigen großen Nutzen einer Eisenhütte für den kölnischen Staat betont hatte und feststellte, dass er nicht ermüden würde, das Projekt weiter zu führen, bat Wenge um die „Belehnung mit der freyheit und rechte in ahnlegung einer Eißenhütten, und dazu zum guss, Ziehung, und Hammer dienlich oefen, und Haüßer“. Für den Fall der Belehnung erbat er zugleich eine Befreiung von allen Abgaben, Zöllen und Steuern für dreißig Jahre, wie es in ähnlichen Fällen bereits im Hochstift Münster gewährt worden war.

Ohne eine Antwort erhalten zu haben, schrieb Wenge drei Monate später, am 14. August 1752, erneut an die Hofkammer. Nun bat er den Erzbischof, um eine Fristverlängerung für die Freilegung des Erzes, also für den Nachweis, dass sich tatsächlich Raseneisenerz abbauen ließe. Die ihm erteilten Rechte sollten nochmals um mindestens ein Jahr verlängert werden.19 Mit den gleichen Worten wie drei Monate zuvor beschrieb er die Probleme der Erzsuche. Dann fuhr er fort, dass es noch einige Zeit benötigen würde, bis er den „eisen-stein-gang entblößen“ könne. Zur Verstärkung seiner Argumente zitierte von Wenge in seinem Antrag einen Artikel aus der gültigen Bergordnung, der eine Fristverlängerung in besonderen Fällen in Aussicht stellte. Ohne die Verlängerung seiner Rechte zur Suche des Erzes hätte die Errichtung einer Eisenhütte keinen Sinn gemacht. Offensichtlich erhielt von Wenge diese Verlängerung umgehend. Wies er doch selbst in einem undatierten Schreiben auf eine als Anlage beigefügte Genehmigung vom 19. August 1752 hin.20

Doch bei der Genehmigung zur Errichtung einer Eisenhütte mahlten die Mühlen der Verwaltung in Bonn langsamer. Zur Stärkung seiner Position bei der Hofkammer in Bonn setzte von Wenge einen Gewährsmann ein, der den Argumenten Wenges mit der Zahlung von Geldbeträgen und dem Verschenken westfälischer Schinken an die Mitarbeiter der Hofkammer Nachdruck verliehen haben soll. Die im Raum Bonn verfügbaren westfälischen Schinken sollen die Nachfrage aus der Hofkammer nicht haben decken können.21

Von Wenge wiederholte seine Eingabe vor dem 29. Mai 1753, verbunden mit der Bitte um Belehnung mit dem Erzbergwerk – er nannte es „Zur Gottes Gnaden“ –, da er mittlerweile Erz gefunden habe.22 Den geplanten Standort der Hütte beschrieb von Wenge nun am Elpenbach in der Nähe der Bockmühle bei Osterfeld. Vielleicht um den Druck auf die Hofkammer zu erhöhen, erwähnte er, dass er auch mit der Kriegs- und Domänenkammer im preußischen Herzogtum Kleve wegen einer anzulegenden Schmelzhütte schon in Kontakt gestanden habe.