Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen fördern (E-Book)

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Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen fördern (E-Book)
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa


Judith Studer, Esther Abplanalp, Stephanie Disler (Hrsg.)

Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen fördern

Aktuelles aus Forschung und Praxis

ISBN Print: 978-3-0355-1578-7

ISBN E-Book: 978-3-0355-1579-4

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Inhalt

Einleitende Worte

Stine Albers

Ein Plädoyer für personenbezogene Arbeit im Hochschulstudium

Judith Studer

Didaktische Prinzipien zur Gestaltung einer Lernumgebung mit dem Ziel der Förderung berufsrelevanter Selbst- und Sozialkompetenzen

Thomas Kriza

Philosophie an Hochschulen für angewandte Wissenschaften: Wege zur Persönlichkeitsbildung

René Rüegg

Kritisches Denken: Die Kunst, richtig statt das Richtige zu denken

André Zdunek

Forschendes Lernen und Persönlichkeitsentwicklung

Nathalie Fratini

Entwicklung der personalen Kompetenzen durch den Einsatz theaterpädagogischer Methoden im Unterricht

Sandra Meusel

Die Verbindung von Theorievermittlung und Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen durch den Ansatz der Gestaltpädagogik

Christina Engel-Unterberger und Christine Haselbacher

Professionelle Entwicklung nicht ohne Persönlichkeitsentwicklung

Peter Stade und Jacqueline Wyss

Die Studiengruppe als Erfahrungs- und Reflexionsraum für eigenes Verhalten in Gruppensituationen und gruppendynamische Phänomene

Esther Abplanalp und Manuel Bachmann

Immersive Virtual Reality und Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen

Manuel Freis

Vom Navigieren im Praxissemester – die Metapher der Expedition im Kontext eines ethnografischen Zugangs zur Praxis der Sozialen Arbeit

Tim Middendorf

Ausbildungssupervision im Studium der Sozialen Arbeit

Elke Schimpf

Der Bachelor-Studienabschluss als Konfliktfeld für Studierende

Mandy Schulze und Maria Kondratjuk

Lehrauffassung als Ausgangpunkt für Ansätze der Persönlichkeitsentwicklung in der Hochschulbildung

Michael Stolle

Persönlichkeitsentwicklung als Schlüsselqualifikation in der digitalen Revolution

Einleitende Worte

Die Kompetenzorientierung verlangt von den europäischen Hochschulen auch die Förderung der Entwicklung berufsrelevanter Selbst- und Sozialkompetenzen. In den letzten Jahren sind an vielen Hochschulen und in vielen Studiengängen mannigfaltige Bestrebungen zu beobachten, den Auftrag ernst zu nehmen und entsprechende Module und Angebote auszuarbeiten.

Im Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule werden seit knapp zehn Jahren didaktische Formate und Methoden erprobt, welche die Persönlichkeitsentwicklung der Studierenden fokussieren und unterstützen sollen. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die Forschung, die am Departement im Rahmen der Dissertation von Judith Studer zum Thema «Gestaltung von Lernumgebungen zur Förderung der Entwicklung berufsrelevanter Selbst- und Sozialkompetenzen» durchgeführt wurde.

Es schien an der Zeit, sich über die Hochschul- und Landesgrenzen hinweg auszutauschen. Im Oktober 2018 veranstaltete das Departement Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule eine erste internationale Tagung zum Thema «Förderung der Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen» mit dem Ziel, bereits erprobte und möglicherweise beforschte didaktische Konzepte und Modelle zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklung im Rahmen der Hochschulausbildungen bekannt zu machen, Erfahrungen theoretisch zu verorten, gemeinsam zu reflektieren und vielleicht sogar weiterzuentwickeln. Bereits die Ausschreibung stieß auf außerordentliches Interesse, sodass wir als Organisatorinnen ein vielfältiges, spannendes Programm ausarbeiten konnten. An der Tagung nahmen rund hundert Personen aus dem internationalen Hochschulumfeld und unterschiedlichen Disziplinen teil.

Während unter den Teilnehmenden Einigkeit darin bestand, dass Persönlichkeitsentwicklung zur Hochschulausbildung gehören muss, bot die Tagung einen bunten Strauß unterschiedlicher mikro- und makrodidaktischer Ansätze. Intensiv wurden eigene Überlegungen, Zugänge und Forschungsergebnisse ausgetauscht, diskutiert und vereinzelt auch ausgetestet. Die Tagung schloss mit vielen Anregungen, neuen Netzwerken und Kooperationsvorhaben sowie dem gemeinsamen Wunsch, den Austausch fortzuführen.

Der vorliegende Tagungssammelband bietet einen differenzierten Einblick in die Tagungsinhalte, bildet die Vielfalt und Innovation der Beiträge ab und macht sie damit einer breiten (Fach-)Öffentlichkeit zugänglich.

Einführend nimmt sich Stine Albers der Frage nach der Berechtigung personenbezogener Arbeit an Hochschulen an. Sie begründet deren Wichtigkeit aus bildungstheoretisch und psychoanalytisch orientierter sowie professionsorientierter Perspektive.

Grundsätzliche Überlegungen, wie eine Lernumgebung zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklung auf Hochschulebene gestaltet werden kann, macht sich Judith Studer. Sie erläutert theoretisch und empirisch gestützte didaktische Prinzipien und gibt damit den Leserinnen und Lesern Anhaltspunkte für das eigene didaktische Handeln.

Seit der Antike gilt Philosophie als etablierter Weg zur gezielten Förderung von Persönlichkeitsentwicklung. Thomas Kriza zeigt auf, wie Philosophie an Hochschulen bei Studierenden die Fähigkeit fördert, als autonome, vernünftige und moralische Individuen Verantwortung zu übernehmen, und sie auf die beruflichen und persönlichen Anforderungen in einer sich rasant verändernden Welt vorbereitet.

René Rüegg postuliert kritisches Denken als eine der wichtigsten Persönlichkeitseigenschaften von Studierenden. Er legt einige Deutungsansätze vor und bewertet neuere didaktische Lernformen hinsichtlich ihres Nutzens für das kritische Denken im Hochschulstudium.

Mit dem Zusammenhang des Forschenden Lernens als didaktisches Konzept und der Persönlichkeitsentwicklung beschäftigt sich André Zdunek. Er tut dies in einem ersten Schritt, indem er die begrifflichen Konzepte klärt, um sie dann in einem zweiten Schritt lehrmethodisch zusammenzubringen.

Theaterpädagogik wird als Schnittstelle zwischen Bildung und Kunst beschrieben. Nathalie Fratini führt aus, wie durch den Einsatz theaterpädagogischer Methoden die Selbst- und Sozialkompetenzentwicklung von Studierenden unterstützt wird, und beschreibt ausgewählte theaterpädagogische Unterrichtsmethoden.

Ansätze der Gestaltpädagogik eröffnen vielfältige Möglichkeiten, die Persönlichkeitsentwicklung im Hochschulstudium der Sozialen Arbeit zu unterstützen. Sandra Meusel führt in die Entstehungsgeschichte des gestaltpädagogischen Ansatzes ein und erläutert interessante Anwendungsmöglichkeiten am Beispiel von Lehrveranstaltungen der Fachhochschule Erfurt.

Das neu entwickelte Curriculum der Fachhochschule St. Pölten soll neben der Wissensvermittlung auch den individuellen Entwicklungsprozessen der Studierenden Rechnung tragen. Ein Modulbereich im Studiengang ist deshalb explizit der Wechselbeziehung zwischen Profession und Person gewidmet. Christina Engel-Unterberger und Christine Haselbacher stellen Zielsetzungen und Ausgestaltung des Modulbereichs vor.

 

Peter Stade und Jacqueline Wyss geben Einblick in die Studienwoche «Arbeiten in und mit Gruppen» im Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit der Hochschule Luzern. Ziel dieses Formats ist das Erleben und Reflektieren gruppendynamischer Phänomene und des eigenen Verhaltens in Gruppensituationen zur Förderung spezifischer Aspekte berufsrelevanter Selbst- und Sozialkompetenzen.

Im Virtual Reality Lab des Bachelor-Studiengangs Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule üben Studierende Beratungsgespräche mit virtuellen Klientinnen und Klienten. Esther Abplanalp und Manuel Bachmann präsentieren diese neue didaktische Lernumgebung und beschreiben erste Erfahrungen aus der Perspektive der Selbst- und Sozialkompetenzentwicklung.

Die aus der Ethnografie entlehnte Metapher der Expedition dient Manuel Freis als Möglichkeit, Praxiserfahrung von Studierenden kontextbezogen zu spezifizieren. Er beleuchtet die Potenziale eines metaphorischen Nachdenkens über die Erfahrungen aus dem Praxissemester und die damit einhergehenden Gelegenheiten zur Persönlichkeitsentwicklung im Studium.

Der Ausbildungssupervision, die in vielen Studiengängen als praktikumsbegleitendes Lernformat eingesetzt wird, widmet sich Tim Middendorf. Er thematisiert in seinem Artikel den Beitrag der Ausbildungssupervision zur Persönlichkeitsentwicklung im Studium der Sozialen Arbeit.

Der Phase des Bachelor-Abschlusses nimmt sich Elke Schimpf an. Am Beispiel eines ethnografischen Feldforschungsprojekts zeigt sie auf, inwiefern der Studienabschluss für Studierende ein Konfliktfeld und damit ein Nährboden für die eigene Persönlichkeitsentwicklung darstellen kann.

Mandy Schulze und Maria Kondratjuk gehen davon aus, dass Hochschullehre ein relationales Zusammenspiel von Lehren und Lernen ist. Sie nehmen einen Perspektivenwechsel vor und thematisieren die Persönlichkeitsentwicklung von Studierenden aus der Sicht von Lehrenden.

Abschließend wirft Michael Stolle einen Blick in die Zukunft und zeigt auf, welche Schlüsselqualifikationen zukünftig gebraucht werden und welche Aufgabe dabei sogenannten Schlüsselqualifizierungseinrichtungen an Hochschulen zukommt. Dabei verortet er die Persönlichkeitsentwicklung im Kontext der digitalen Revolution.

Wir wünschen Ihnen anregende Lektüre.

Bern, im Februar 2019

Die Herausgeberinnen

Judith Studer, Esther Abplanalp und Stephanie Disler

Stine Albers

Ein Plädoyer für personenbezogene Arbeit im Hochschulstudium
Abstract

Personenbezogene Arbeit ist eine anspruchsvolle und ebenso wichtige wie gewichtige Aufgabe im Hochschulstudium. Es handelt sich um eine Querschnittsaufgabe, die mit einer kritisch-reflexiven Auseinandersetzung von Studierenden mit theoretisch-fachwissenschaftlichen und beruflich-praxisorientierten Inhalten einhergeht. Personenbezogene Arbeit kann zur Persönlichkeitsentwicklung der Studierenden im beruflichen Kontext beitragen. In diesem Artikel wird die Bedeutung personenbezogener Arbeit im Hochschulstudium aus bildungstheoretisch und psychoanalytisch orientierter sowie professionsorientierter Perspektive herausgearbeitet und begründet.

Personenbezogene Arbeit wird als eines von drei interdependenten Bezugssystemen im Hochschulstudium aufgefasst – neben einem theoretisch-wissenschaftlichen und einem auf die berufliche Praxis hin orientierten Bezugssystem (Albers, 2014, S. 115). Der Dimension «Person» scheint in dieser Triade bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden zu sein. So stellen Bayer, Carle und Wildt bereits 1997 für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung fest: «Gegenüber der Dominanz von Wissenschaft und Praxis als Bezugssysteme herkömmlicher Lehrerbildung ist der ‹Eigensinn› der Person in der Lehrerbildung zu behaupten» (a. a. O., S. 9). Fend (2009, S. 44) spricht von einer Doppelfunktion, die Bildungssystemen in der Moderne zukomme: die Reproduktion der Gesellschaft und das Werden der Persönlichkeit. Die bewusste Bezugnahme auf Letzteres erscheint im Rahmen des Hochschulstudiums noch ausbaufähig.

In diesem Artikel wird das Augenmerk auf ebendieses Bezugssystem «Person» gelegt. In einem ersten Schritt soll es um das Begriffsverständnis gehen, also um die Frage, wie personenbezogene Arbeit in diesem Beitrag ausgelegt wird. Daran schließen sich Begründungen an, warum personenbezogene Arbeit im Hochschulstudium für wichtig und gewichtig gehalten wird.

1 Begriffsverständnis

Arendt (2013 [1965]) differenziert zwischen «Mensch» und «Person». Sie schreibt der Person die Fähigkeit der Nachdenklichkeit zu, die wiederum die Entwicklung der Persönlichkeit einschließe.

«Ich erwähnte, dass das Person-Sein unterschieden wäre vom Nur-menschlich-Sein […] [und, d. Verf.] ich mich in diesem Denkprozess, in dem ich die spezifisch menschliche Differenz der Sprache aktualisiere, klar als Person konstituiere und dass ich Einer bleibe in dem Maße, in dem ich immer wieder und immer neu zu einer solchen Konstituierung fähig bin. Wenn es das ist, was wir gewöhnlich Persönlichkeit nennen […], dann ist sie das einfache, beinahe automatische Ergebnis von Nachdenklichkeit.» (A. a. O., S. 77 f.)

Luhmann (2002) weist darauf hin, dass sich zwar im Verlauf der langen Begriffsgeschichte verschiedene Varianten des Begriffs «Person» entwickelt hätten, mit Person aber immer etwas beschrieben werde, «was sich von der körperlichen Realisation des menschlichen Lebens und der bloßen Tatsache des Bewusstseins unterscheiden» (a. a. O., S. 29) lasse. Im vorliegenden Beitrag zeichnen sich Personen durch Reflexivität aus. Unter Reflexion wird in einem unspezifischen, allgemeinen Verständnis jede Art des rückbezüglichen Denkens, des Nach-Denkens verstanden. Erst eine kritische Reflexion fordert allerdings beim Reflexionsprozess explizit das eigene Selbst. Müller (2018b, 2018c u. a.) differenziert die Denkfiguren «Reflex», «Reflektion» und «Reflexion». Letztere wendet «die Ansätze von Reflex und Reflektion kritisch und nimmt sie in offenen, denk-, handlungs- und urteilserweiternden Varianten auf» (Müller, 2018b, S. 127). Die Denkfigur «Reflexion» berücksichtigt auch innerpsychische Prozesse. «So können sowohl äußere Relationsbeziehungen von Wechselwirkungen als auch innere Vermittlungsverhältnisse gedacht und konzeptualisiert werden» (ebd.).

Der Begriff «Person» wird verwendet, «um die gesamte physische und psychische Ausrüstung des Individuums zu bezeichnen» (Spiegel, 1961, S. 217). Das Selbst wird als psychischer Anteil aufgefasst, der dazu beiträgt, dass aus einem Menschen eine Person wird. Während sich zum Beispiel für Jacobson (1998 [1964]) das Selbst «auf die gesamte Person eines Individuums, einschließlich seines Körpers und seiner Körperteile, wie auch seiner psychischen Organisation und deren Teile» (a. a. O., S. 17) bezieht, wird im vorliegenden Beitrag zwischen «Person» und «Selbst» differenziert. Das Selbst als psychischer Anteil der Person kann wiederum als Prozess und Inhalt aufgefasst werden (Ludwig-Körner, 2014, S. 857 f.). In prozessorientierter Perspektive entwickelt und verändert sich das Selbst stetig. Eine inhaltlich-strukturorientierte Perspektive auf das Selbst betont das Beständige. Die Entwicklung der Persönlichkeit in Hinblick auf die Ausbildung konsistenter «Muster des Fühlens, Denkens und Verhaltens» (Pervin, Cervone & John, 2005, S. 31) wäre einer inhaltlich-strukturorientierten Perspektive auf das Selbst zuzuordnen.

Unter personenbezogener Arbeit wird die Berücksichtigung der Denkfigur «Reflexion» im Hochschulstudium verstanden. Reflexivität trägt wiederum zur Persönlichkeitsentwicklung bei – ein entscheidender Aspekt, wenn es im Folgenden um Begründungen für die Berücksichtigung personenbezogener Arbeit im Hochschulstudium geht.

2 Begründungen

Die Notwendigkeit personenbezogener Arbeit und die damit einhergehenden Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung sollen im Folgenden anhand von drei Perspektiven, die sich auf die Bildungstheorie, Psychoanalyse und Professionsforschung beziehen, herausgearbeitet werden.

2.1 Bildungstheoretisch orientierte Perspektive

Bildung ist im deutschsprachigen Raum ein gesellschaftlich anerkanntes, übergeordnetes Ziel von Bildungsinstitutionen, wie beispielsweise Hochschulen. Bildung findet häufig als Sammelbegriff für sämtliche Aspekte, die den Lehr-Lern-Prozess betreffen, Verwendung. Begriffskomposita, wie «Bildungsinstitutionen», «Bildungspolitik» oder «Bildungsmisere», verdeutlichen die vielseitige, unkonkrete Verwendung des Bildungsbegriffs.

«Bildung lässt sich […] nicht definieren, festmachen, auf den Punkt bringen, sondern allenfalls umschreiben, betrachten, hin- und herwenden, auslegen, befragen usw. Sie ist Teil des individuellen und kollektiven Lebens, muss deshalb von jedem Einzelnen in seinem ganz persönlichen Leben immer wieder neu gewagt und bestimmt, muss aber auch von jeder Generation und jeder Gemeinschaft, jedem Volk und jeder Nation stets aufs Neue gesucht und auf den Begriff gebracht werden.» (Winkel, 2005, S. 240)

Die Offenheit in der Auslegung führt dazu, dass das Bildungsverständnis «nicht ‹neutral› und losgelöst vom Selbstverständnis des jeweiligen Sprechers» (Kunze, 2012, S. 125 f.) gedacht werden kann. Diese unauflösbare Normativität wird aber im Sinne des in diesem Beitrag vertretenen Bildungsverständnisses selbst zum Gegenstand von Bildung. Es handelt sich um eine zur Disposition stehende Begriffsauslegung.

Bildung wird in diesem Artikel als ein kritisches Sich-ins-Verhältnis-Setzen zu sich selbst und der «Welt» aufgefasst (Albers, 2017). In diesen individuellen, reflexiven Vorgang werden demnach die eigene Person (Selbstverhältnis) wie auch Mitmenschen, gesellschaftliche Gegebenheiten, physische Gegenstände u. a. (Weltverhältnis) einbezogen. Es geht um die Frage, welche Bedeutung ich zum Beispiel einem Sachverhalt in Hinblick auf mich selbst und der von mir antizipierten «Welt» zuschreibe. In Anlehnung an Klafkis (2007) demokratisch ausgelegtes Bildungsverständnis wird Bildung im Kontext der Förderung von Selbst- und Mitbestimmung sowie Solidaritätsfähigkeit gesehen.

Als kritisch-reflexiver Vorgang ist Bildung personenbezogene Arbeit. Bildung als prioritäres Ziel von staatlichen (und staatlich anerkannten) Institutionen des Lehrens und Lernens macht dann wiederum personenbezogene Arbeit an Hochschulen notwendig.

Eine bildende inhaltliche Auseinandersetzung von Studierenden kann als übergeordnete Begründungsebene für personenbezogene Arbeit im Hochschulstudium verstanden werden, auf die auch die psychoanalytisch ausgerichtete und professionsorientierte Perspektive zielen.

2.2 Psychoanalytisch orientierte Perspektive

«Das Studium sollte als Chance für die Persönlichkeitsentwicklung begriffen werden. Hier werden oft die Weichen gestellt, die darüber entscheiden, ob das Individuum den Weg in die psychische Gesundheit und kreative Entfaltung im Beruflichen und Privaten einschlägt oder aber in einer Sackgasse landet, die durch das persönliche Scheitern, sozialen Rückzug und Flucht in psychosomatisches Leiden gekennzeichnet sein kann.» (Leuzinger-Bohleber, 2000, S. 159)

«Soziale Berufe»[1] sind durch vielfältige menschliche Kontakte und Erfahrungen geprägt; es geht immer um Beziehungsarbeit. Doch ein Sich-Einlassen wird erst möglich, wenn man «sich in sich selbst wie in einem stabilen eigenen Haus – warm, kuschelig und wohl versorgt – [fühlt, d. Verf.], dann können Fenster und Türen geöffnet werden, um das Haus mit Leben zu füllen» (a. a. O., S. 163). Um dem entgegenzukommen, bedarf es der Festigung von innerseelischen Ressourcen und Möglichkeiten, zum Beispiel durch die Förderung einer beständigen Selbstentwicklung und kreativer Problemlösemöglichkeiten (a. a. O., S. 170).

 

Die Bedeutung des Rückgriffs auf innerseelische Ressourcen wird deutlich, wenn es um den Umgang mit Ambivalenzen geht, die mit «sozialen Berufen» einhergehen (Helsper, 2011). Ambivalenzen, zum Beispiel zwischen einem großen Bedarf an sozial-erzieherischer Unterstützung und den eigenen begrenzten physischen und psychischen beruflichen Kapazitäten, werden als emotional «belastend erlebt, sie irritieren und können das Handeln unsicher machen» (Schlömerkemper, 2017, S. 25).[2]

In diesem anspruchsvollen Arbeitsumfeld kann es zu Überforderungen von Berufstätigen kommen. Aus diesem Grund besteht die Gefahr, dass sie auf Abwehrmechanismen zurückgreifen, um die erlebte äußere Komplexität zu reduzieren. Dabei regredieren sie unter Umständen auf archaische und primitive Stufen seelischen Erlebens, zum Beispiel durch die Verleugnung konkreter Probleme im beruflichen Kontext oder Projektionen, bei denen eigene unerträgliche Wünsche oder Impulse in eine andere Person projiziert werden (Leuzinger-Bohleber, 2000, S. 164 ff.). Die Wahrnehmung der Umwelt wird dann verzerrt und steht der Entwicklung einer «reifen Ambivalenz» (a. a. O., S. 170) entgegen, also dem Wahrnehmen und Aushalten von unvereinbar erscheinenden Strebungen. «Eine nicht-dichotome Argumentationsfigur zeichnet sich [erst dann, d. Verf.] ab, wenn spekulativ das Verhältnis von erster und zweiter Position in einer dritten Konstellation reflexiv ausgehalten wird» (Müller, 2018c, S. 178). Ein psychoanalytisch orientierter Zugang nimmt dafür den latenten Gehalt beruflicher Gegebenheiten ins Blickfeld. Entsprechend geht es um das zunächst Unausgesprochene und Unbewusste: Eigene Gefühle und spontane Assoziationen werden geäußert und (auch) in Hinblick auf etwaige Widerstände («Abwehrmechanismen») hin analysiert. Es geht um das Wahrnehmen eigener äußerer und innerer Wahrheiten, wodurch eine komplexe und vielschichtige persönliche Auseinandersetzung mit dem beruflichen Kontext ermöglicht werden kann. Dieser psychoanalytisch orientierte Zugang basiert auf kritischer (Selbst-)Reflexion; psychoanalytisch orientiert zu arbeiten, heißt damit, personenbezogen zu arbeiten.