Religionsunterricht

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Religionsunterricht
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Inhaltsverzeichnis

ThPQ 168 (2020), Heft 4

Schwerpunktthema:

Religionsunterricht

Ines Weber

Liebe Leserin, lieber Leser!

Bernhard Grümme

Noch lange nicht überflüssig: Zum Bildungspotenzial des Religionsunterrichts

1 Reflektierte Positionalität. Normative Ausrichtung des Religionsunterrichts

2 Überraschende Konstellation

3 Mehr als alles: Religiöse Bildung

4 Kritisch-selbstreflexive Bildung

Holger Zaborowski

Weil’s einen Unterschied macht. Zu den Potenzialen des konfessionellen Religionsunterrichts

1 Religionsunterricht, Bildung und Berufung

2 Herausforderungen, Aufgaben und Potenziale

3 Differenz, Transzendenz und Freiheit

4 Sendung, Vorbild und Zeuge

5 Wahrheit, Welt und Würde

Hans-Joachim Sander

Gott im Wort

1 Zwischen Homogenisierung und Pluralisierung – die doppelte Not des Religionsunterrichts durch Schule und religiöse Vielfalt

2 Ständig Aufsteigen mit Überschreiten – die Not der christlichen Religiosität und ihre Tugend

3 Gott unterrichten – das Außerordentliche zur Sprache bringen und zugänglich machen

Werner Simon

Zur Entstehungsgeschichte des Religionsunterrichts

1 Christenlehre als Kirchenkatechese

2 Schriftlesung in den Schulen

3 Die Saganschen Reformen: Schulischer Unterricht in der Religion

4 Allgemeine Schulordnung für die deutschen Schulen (1774)

5 Institutionalisierung der Lehrerausbildung

6 Regionale Entwicklungen

Gerd Neuhaus

„Nun vergessen Sie erst einmal alles, was Sie an der Uni gelernt haben!“ Religionsunterricht zwischen Lebensorientierung und Glaubensverantwortung

1 Leben durch Glauben und Glauben durch Leben erschließen?

2 Primäre und sekundäre Schülerinteressen

3 Ein gestörtes Verhältnis zur akademischen Bezugswissenschaft

4 Ein autobiografischer Rückblick

5 Auf Traumreise

Christoph Lehmann

Religionsunterricht im öffentlichen Disput. Der Fall Pro Reli in Berlin

1 Die Ausgangslage

2 Die Kampagne

3 Einige Argumente

4 Nachwirkung

5 Ausblick

Abhandlungen

Martin Blay

Mit Jugendlichen Geister unterscheiden lernen. Pfarreien als Exerzitienort für junge Menschen

1 Biografischer Zugang

2 Maßnehmen an Ignatius

3 Partizipative Vorbereitungsstruktur

4 Spirituelle Ausgestaltung

5 Charismenorientierte Begleitung

Hanjo Sauer

Von höchster fundamentaltheologischer Relevanz. „Auch eine Geschichte der Philosophie“ – Eine Leseerfahrung mit Habermas

1 Warum ist Habermas für die Theologie interessant?

2 Der Leitfaden des Diskurses: Die Beziehung von Glauben und Wissen

3 Worum geht es Habermas in seiner Genealogie?

4 Die sakralen Wurzeln der achsenzeitlichen Überlieferungen

5 Die Entstehung der christlichen Theologie als Paradigma der Konstellation von Glauben und Wissen

6 Die kühne Symbiose von Glauben und Wissen bei Thomas von Aquin

7 Kant und die Grenzen der Vernunft

8 Geschichtlichkeit und Freiheit

Johannes Heger

Das aktuelle theologische Buch

Besprechungen

Eingesandte Schriften

Katholische Privat-Universität Linz. Studienjahr 2019/20

Register (Printausgabe)

Aus dem Inhalt des nächsten Heftes

Redaktion

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Anschriften der Mitarbeiter

Impressum

Liebe Leserin, lieber Leser!

„Ich glaube – Ja“1 – mit diesem Slogan wirbt die katholische Kirche Österreichs seit September 2020 im ganzen Land auf elektronischen Werbetafeln, in sozialen Medien, im Internet sowie in Printmedien für einen „zeitgemäßen“ Religionsunterricht. „Man wolle durch die Kampagne das Bild des Religionsunterrichts in der Öffentlichkeit neu justieren und aufzeigen, dass ein zeitgemäßer Religionsunterricht der Ort ist, an dem existenzielle Fragen ebenso behandelt werden wie Fragen nach dem Gemeinwohl und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt.“2 Motor derselben dürfte nicht zuletzt – nach einem mehr als 20-jährigen Schulversuch – die Einführung des Unterrichtsfaches Ethik an höheren Schulen sein, das ab dem Schuljahr 2021/22 für alle Schülerinnen und Schüler, die nicht am konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen, verpflichtend sein wird.

Schon im Vorfeld hatte dieses Ansinnen den Religionsunterricht in Österreich erneut ins Kreuzfeuer der Kritik geraten lassen. Die nicht selten sehr emotional, schlussendlich aber fruchtbar geführten Debatten spülten jene vorurteilsbehafteten Bilder an die Oberfläche, die schon seit Jahrzehnten immer wieder gegen einen konfessionellen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ins Feld geführt werden: Er sei indoktrinär, ziele darauf ab, Schülerinnen und Schüler zum Glauben zu bekehren, im besten Fall sei er noch gleichzusetzen mit Katechismusunterricht. Ein solcher aber sei in einer demokratischen, mehr und mehr säkularen Gesellschaft überholt und müsse durch Ethikunterricht, gegebenenfalls flankiert von einem Fach Religionskunde, ersetzt werden. Zugleich brachte die Debatte auch die eigentliche Zielsetzung in Erinnerung: den persönlichkeits- und gesellschaftsbildenden sowie demokratie- und autonomiefördernden Charakter.

 

Es sind genau diese Dimensionen, die unsere Autoren aus Wissenschaft und Praxis im vorliegenden Themenheft herausarbeiten. Ihre Beiträge greifen direkt die oben genannten Debatten auf, führen sie fort, erweitern und präzisieren sie. Insofern könnte unser Heft kaum aktueller sein.

So betont der Bochumer Religionspädagoge und Katechet Bernhard Grümme im ersten Beitrag nicht nur die Legitimität, sondern auch die dringende Notwendigkeit des konfessionellen Religionsunterrichts im Kanon schulischer Bildung. Angesichts einer pluralisierten und differenzierten Gesellschaft mit einerseits verblassendem und andererseits steigendendem Interesse an Religion, böte er Schülerinnen und Schülern einen Raum für ihre Menschenbildung. Der Erfurter Philosoph Holger Zaborowski erweitert diese Argumente insofern, als er betont, dass gerade im Religionsunterricht kritisch reflektiertes Denken und begründetes Argumentieren gebildet würden – für oder gegen den eigenen Glauben bzw. Nicht-Glauben –, wie überhaupt mit der Frage nach Gott und dem Menschen Dimensionen menschlichen Lebens kritisch hinterfragt würden, die sonst kaum oder gar nirgendwo zur Sprache kämen. Hans-Joachim Sander, Dogmatiker in Salzburg, fügt dem Spektrum insoweit eine weitere Dimension hinzu, als im Religionsunterricht die Aufdeckung und kritische Auseinandersetzung mit inneren und äußeren Machtverhältnissen geschehe, die es beim einzelnen Individuum sowie innerhalb der Gesellschaft zu überschreiten gelte. Wie sich diese heutige Form des Religionsunterrichts überhaupt in der Geschichte entwickelt hat, wie es vom Katechismusunterricht zur Zeit des Trienter Konzils zu einem auf die ganzheitliche Bildung des Menschen zielenden schulischen Unterrichtfaches in der Aufklärung gekommen ist, erläutert der Mainzer Religionspädagoge, Katechetiker und Fachdidaktiker Werner Simon. Gerd Neuhaus, Fundamentaltheologe in Bochum und Lehrer an einem Gymnasium, schließt hier an, wenn er, aus eigenen Erfahrungen schöpfend, die Entwicklung des Religionsunterrichts seit dem II. Vatikanum beschreibt. Dabei hebt er die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit dem Fachgegenstand im Unterricht hervor. Schließlich beruhe der Religionsunterricht – wie jedes andere Fach auch – auf einer Wissenschaft – hier der Theologie –, die an Universitäten betrieben werde. Den Kreis schließt der Berliner Rechtsanwalt und stellvertretende Vorsitzende der Katholischen Elternschaft Christoph Lehmann. Er beschreibt die Hintergründe, die konkrete Durchführung und die Wirkung jener Kampagne, die im Jahr 2006 in Berlin ins Leben gerufen wurde, als dort das Unterrichtsfach Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde (LER) für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend wurde. Man wollte damit für das Bildungspotenzial des Religionsunterrichts sensibilisieren sowie die Wahlfreiheit zwischen den beiden Fächern Ethik und Religion erreichen.

Das aktuelle Heft wird durch den freien Beitrag von Martin Blay, der ein Praxiskonzept zur Adaption der ignatianischen geistlichen Übungen bei Jugendlichen vorstellt, und der Leseerfahrung des ehemaligen Linzer Fundamentaltheologen Hanjo Sauer mit Jürgen Habermas‘ opulentem Werk zur Philosophiegeschichte, abgerundet.

Geschätzte Leserinnen und Leser!

„Religionsunterricht ist ein integraler Teil schulischer Bildung.“3 Dieser Aussage würden auch unsere Autoren unisono zustimmen. Schülerinnen und Schüler eignen sich hier Kompetenzen und Fähigkeiten an, die für ein (selbst-)verantwortliches und solidarisches Miteinander in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbar sind. So ließe sich abschließend vielleicht sogar fragen, ob dieser nicht nur konfessionell gebundenen, sondern auch allen anderen Schülerinnen und Schülern zugänglich gemacht werden sollte – zusätzlich oder als Alternative zum Ethikunterricht? In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende und bereichernde sowie kritische Lektüre.

Ihre

Ines Weber

(Chefredakteurin)

1 https://www.mein-religionsunterricht.at [Abruf: 02.09.2020].

2 https://religion.orf.at/stories/3006258/ [Anruf: 04.09.2020].

3 https://www.mein-religionsunterricht.at/pages/rukampagne/aktuelles/meldungen/article/131192.html [Abruf: 04.09.2020].

Bernhard Grümme

Noch lange nicht überflüssig: Zum Bildungspotenzial des Religionsunterrichts

♦ Ausgangspunkt der vorliegenden Ausführungen ist die Beobachtung, dass in unserer Zeit immer mehr Menschen kein Interesse an Religion zeigen und damit auch der schulische Religionsunterricht zunehmend stärker unter einem Legitimierungszwang steht. Wie man diesem Rechtfertigungsdruck begegnen könnte, entfaltet der Beitrag im Anschluss anhand der Reflexion des Bildungsauftrags des Religionsunterrichts und in diesem Zusammenhang auch des Bildungsbegriffs. So leistet der Religionsunterricht einen unverzichtbaren Beitrag zur Allgemeinbildung, Emanzipation, Aufklärung und fördert eine kritisch-selbstkritische Bildung. (Redaktion)

Machen wir uns nichts vor: Der demografische Wandel stellt radikal neue Herausforderungen. Dies gilt für ökologische Zwänge nicht minder wie für Religion. Was bedeutet es, wenn die Zahl derjenigen, die sich für Christen halten oder auch für religiös, zunehmend kleiner wird? Was heißt es, wenn in den östlichen Bundesländern Deutschlands allenfalls noch 10 bis 12 Prozent Christen leben? Auch im Ruhrgebiet wie in Wien wächst die Zahl der Konfessionslosen, ja überhaupt die Zahl derjenigen, die sich für religiös unmusikalisch halten, dramatisch an. Parallel intensiviert sich die Pluralität der Religionen durch Migration und innere Differenzierungen der Religionen und Religionsgemeinschaften. Geradezu paradoxal demgegenüber steht das Phänomen, dass inmitten dieses Verblassens religiöser Selbstverständnisse zugleich Religion insbesondere von Gruppen muslimischer Jugendlicher zur eigenen Identitätssicherung in prekären sozialen und kulturellen Lagen vermehrt in Gebrauch genommen wird.1 Kurzum: Die Lage ist kompliziert. Das hat Folgen, nicht nur für die Religionspädagogik, die sich angesichts dessen prinzipiell als heterogenitätsfähig erweisen muss.2 Es betrifft die Struktur der Katechese und der Gemeinden, aber eben vor allem auch die Schule. Wenn sich – kontextuell und regional nochmals ausdifferenziert – die meisten Schülerinnen und Schüler nicht mehr als religiös verstehen, wenn nur noch eine Minderheit über Grundbestände an Kenntnissen kirchlicher Tradition wie Glaubensbekenntnis, kirchliche Rituale und religiöse Praktiken verfügen, dann macht dies nicht nur eine Neuausrichtung des Religionsunterrichts erforderlich, wie selbst die katholischen Bischöfe glasklar einräumen.3 Es stellt vielmehr den Religionsunterricht grundsätzlich unter einen massiven Legitimationszwang. Warum soll es überhaupt Religionsunterricht in der öffentlichen Schule geben? Warum gar einen, der konfessionell ausgerichtet ist? Gehören nicht bekenntnisorientierte, eben konfessionelle Kommunikationsstrukturen in die religiösen Gemeinschaften und gerade nicht in eine öffentliche Schule, die zwar im Rahmen einer demokratischen Grundordnung wertgeleitet, aber eben weltanschaulich neutral sein muss? Diesen Weg beschreiten viele Bundesländer in Deutschland wie zunehmend auch andere Staaten in Europa: Dort ist der Religionsunterricht kein ordentliches Lehrfach mehr, allenfalls Wahlfach. Religionsunterricht findet als Unterricht für alle im Klassenverband statt, weshalb dieser eben aus Gründen negativer Religionsfreiheit vornehmlich religionskundlich angelegt sein muss. Denn sobald ein bestimmtes Bekenntnis zugrunde gelegt wird, verstößt dies gegen die religiöse Selbstbestimmung der Schülerinnen und Schüler.4 Doch müsste hier nicht nochmals unterschieden werden? Die Unterstellung, Religionsunterricht artikuliere sich als katechetische Glaubenseinführung, wäre erst noch zu überprüfen. Ebenfalls wäre zu diskutieren, inwiefern das Recht auf positive Religionsfreiheit gewahrt ist, wonach Heranwachsende ein Recht haben, Religion zu äußern und in Bildungsprozessen traktiert zu sehen.5 Grundgesetzlich ist der Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen im Geltungsbereich des Grundgesetzes ordentliches Lehrfach, das in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt wird. Dies hat tiefere staatsphilosophische und staatsrechtliche Begründungen. Der Staat, wie der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde einmal formuliert hat und wie dies von Jürgen Habermas reformuliert wurde, beruht auf werteorientierten Grundlagen, die er selber nicht schaffen kann.6 Insofern eröffnet er im Religionsunterricht den Raum dafür, dass Menschen gebildet werden dafür, ihre Religionsfreiheit überhaupt wahrzunehmen, sich ein Urteil über Religion zu erarbeiten. Im Rahmen eines solchen Verfassungsrechtsbegriffs hat der Staat ein „genuin eigenes Interesse an religiöser Bildung und ermöglicht damit die Befähigung zur Ausübung der in Art. 4.1 GG verbürgten positiven Religionsfreiheit“7. Deshalb überträgt der Staat die inhaltliche Gestaltung des Religionsunterrichts den Religionsgemeinschaften.8

So gesehen würden diejenigen, so lautet meine These, welche den Religionsunterricht aus der Schule verabschieden und durch religionskundlichen Religionsunterricht im Klassenverband oder durch Ethikunterricht ersetzen, erhebliches Potenzial für die Subjekte selber wie aber auch für Schule und Gesellschaft übersehen. Dieses Potenzial liegt auf dem Feld der Bildung, was zunächst den Blick auf die normative Ausrichtung und Zielsetzung des Religionsunterrichts erfordert.

1 Reflektierte Positionalität. Normative Ausrichtung des Religionsunterrichts

Was den Religionsunterricht neueren Datums ganz entscheidend prägt, ist die Trennung von Religionsunterricht und Glaubensverkündigung. Der Religionsunterricht ist durchaus ein Lernort des Glaubens, aber eigener Art. Der Glaube ist selber nicht dessen Ziel. Er dient nicht der Katechese und der Mitgliederwerbung für die Kirche, er ist nicht mehr der Ort der Kirche in der Schule. Er steht neben der Glaubensverkündigung und dient letztlich der Urteilsbildung der Kinder und Jugendlichen. Insofern findet der Religionsunterricht in der öffentlichen Schule seine Legitimation und Zielsetzung in seinem Beitrag zum Bildungsauftrag der Schule, als er im Hinblick auf Glaube und Religion die Schülerinnen und Schüler zu reflexivem wie verantwortlichem Denken und Verhalten befähigen soll.9 Nicht Glaube, nicht Frömmigkeit, sondern begründetes Urteil zielt ein solcher Unterricht an, der einen erfahrungsgeleiteten Ausgang von den Schülerinnen und Schülern nimmt und durch die dialogische Konfrontation mit der biblischen Botschaft sein Ziel freilich auch erreicht, wenn – so paradox diese normative Ausrichtung auf Autonomie und Mündigkeit des Religionsunterrichts auch klingen mag – Heranwachsende sich gegen den Glauben entscheiden.

Dabei wird didaktisch eine korrelative Zuordnung von Glaubenstradition und menschlicher Erfahrung erkennbar, die eben beides zugleich kritisch wie produktiv aufeinander hinordnet und beides so auch würdigt und ernst nimmt. Weder darf die Glaubenstradition zum bloßen Steinbruch von Lösungsvorschlägen für existenzielle oder politische Probleme ausgehöhlt werden, noch dürfen die Schülerinnen und Schüler lediglich als Anknüpfungspunkt für die Vermittlung der Glaubenstradition herabgewürdigt werden. Normativ wird die Grundausrichtung eines solchen Religionsunterrichts eindrucksvoll markiert. Ein solcher versteht sich als Beitrag zur Menschwerdung des Menschen, steht also im Dienst einer recht verstandenen Bildung der Schülerinnen und Schüler.10 Nur als solcher kann ein Religionsunterricht in einem weltanschaulich neutralen Staat in der öffentlichen Schule überhaupt noch gerechtfertigt werden. Doch welche Gestalt soll ein solcher Unterricht haben? Derzeit sind hier vielfältige Debatten im Gang: ob angesichts der demografischen Faktoren überhaupt ein konfessioneller Religionsunterricht noch vertretbar ist, ob nicht vielmehr der inzwischen von den katholischen Bischöfen mehrheitlich akzeptierte konfessionell-kooperative Religionsunterricht, ob der dialogische Religionsunterricht in Hamburg, der alle Religionen in einem konfessionell ausgerichteten Unterricht zusammenbringt, ob ein multireligiöser Religionsunterricht. Offensichtlich ist der Religionsunterricht „auf dem Weg zu neuen Passungsverhältnissen“ kontextueller Art.11 Doch seine normative Bestimmung bleibt: sein Beitrag zum schulischen Bildungsauftrag. Was aber ist genau darunter zu verstehen?

 

2 Überraschende Konstellation

Vor dem Hintergrund des skizzierten Säkularisierungs- und Heterogenisierungsschubs würde man kaum erwarten, dass auch außerhalb religiöser Selbstverständigungsprozesse der Beitrag religiöser Bildung zum schulischen Bildungsauftrag in einem elementaren Sinne gewürdigt wird. Angesichts der höchst schwierigen, bis heute anhaltenden Geschichte zwischen Pädagogik und Religionspädagogik reibt man sich verwundert die Augen, was derzeit in der Bildungstheorie geschieht. In ihr spielt Religion wieder eine Rolle. Kurz gesagt: Ohne Religion in Bildungsprozessen würde der Bildung Elementares fehlen. Bildung würde degenerieren zu dem, was Theodor W. Adorno unter anderen Vorzeichen Halbbildung genannt hat. Bildung sei nur dort gegeben, wo Religion grundlegend in den Bildungsprozess eingespielt würde. Man findet solches in der Allgemeinen Pädagogik,12 aber auch in der Schulpädagogik. Vor dem Hintergrund der Bildungstheorie des Bildungsforschers Jürgen Baumert entwickelt etwa in prominenter Weise die PISA-Studie einen Bildungsbegriff, der auf der inneren Zuordnung unterschiedlicher Modi der Weltbegegnung beruht. Man kann sich demnach ganz unterschiedlich zur Welt verhalten. Jedem Modus der Welt zu begegnen, sind bestimmte Formen von Rationalität und bestimmte Schulfächer zugeordnet. Man kann die Welt mal rechnerisch in Zahlen denken, man kann sie auf Schönheit hin wahrnehmen, kann versuchen, sie zu gestalten und kritisch zu bewerten. Man kann ihr aber auch auf den Grund gehen und nach dem fragen, was die Welt im Letzten zusammenhält. Die PISA-Studie unterscheidet demnach vier Arten der Weltbegegnung: 1. Kognitive-instrumentelle Rationalität, gepflegt vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern; 2. ästhetisch-expressive Rationalität, vorausgesetzt besonders in sprachlichen Fächern und in Kunst und Musik; 3. normativ-evaluative Rationalität, kultiviert in Fächern wie Geschichte, Wirtschaft, Politik; 4. religiös-konstitutive Rationalität. Hier geht es um die rationale Auseinandersetzung mit Fragen der Letztbegründung, von Sinn in den Fächern Philosophie und eben Religion.13

Erkennbar wird hier eine bildungstheoretische Begründung dafür, dass alle Fächer der Schule tatsächlich dorthin gehören. Das Spannende für den Religionsunterricht liegt darin, dass auch er ganz wesentlich seinen Platz dort hat. Allgemeinbildung als Zielhorizont von Schule erwächst daraus, dass diese vier unterschiedlichen Weisen der Welt zu begegnen in der Schule vertreten sind. Kein Weltzugang kann den anderen ersetzen oder gar dominieren, auch wenn manche Fachlehrer in der Begeisterung für ihr Fach das anders sehen. Jedem kommt seine Wahrheit zu. Ohne diese bestimmte Form, ohne diesen bestimmten Zugang gibt es keine Allgemeinbildung. Bildungsprozesse sind deshalb um ihrer selbst willen dringend auf die Entfaltung aller Wirklichkeitszugänge mit den jeweiligen Rationalitätsformen angewiesen.

Der Ertrag für die religiöse Bildung ist enorm. Hier wird religiöse Bildung in ein Konzept von Allgemeinbildung sowie in eine Neufassung eines Bildungskanons eingeschrieben und damit der Religionsunterricht als schulisches Unterrichtsfach legitimiert, ja sogar eingefordert. Schüler brauchen also Religion, um Bildung zu erfahren. Aber kann die Religionspädagogik ein solches Angebot einfach annehmen? Bernhard Dressler hat mit einer ähnlichen, von Friedrich Schleiermacher und der Systemtheorie noch angeschärften Begründungsarchitektur wiederholt so argumentiert.14 Impliziert indessen der religiöse Bildungsbegriff nicht doch kritische Aspekte, die schärfer eingebracht werden müssten? Dies erfordert nun bildungstheoretische Überlegungen.