Loe raamatut: «Sozialraumorientierung 4.0»

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UTB 5515

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Roland Fürst/Wolfgang Hinte (Hg.)
Sozialraumorientierung 4.0
Das Fachkonzept: Prinzipien, Prozesse & Perspektiven


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detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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© 2020 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

Facultas Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Satz: Hannes Strobl, Satz·Grafik·Design, Neunkirchen

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

UTB-Band-Nr.: 5515

ISBN 978-3-8252-5515-2

e-ISBN 978-3-8385-5515-7

epub 978-3-8463-5515-2

Inhalt

Einleitung: Wolfgang Hinte/Roland Fürst

1.Original oder Karaoke – was kennzeichnet das Fachkonzept Sozialraumorientierung?

Wolfgang Hinte

2.Die fünf Prinzipien: Grundlagen, Vertiefungen und Praxisbeispiele

Manfred Tauchner

„Ja, dürfen’s denn das?“ – Die Welt als normierter Wille und sozialräumliches Vorstellungsvermögen

Bernhard Demmel

Die Orientierung am Willen in der Praxis – einfach, aber nicht leicht

Frank Dieckbreder/Sarah Dieckbreder-Vedder

„Uns wird der Arsch nicht mehr hinterhergetragen.“ – Behinderte Menschen und die Umsetzung des BTHG in Deutschland

Andrea Stonis/Thomas Steinberg/Karen Haubenreisser

Personelle und sozialräumliche Ressourcen kreativ verbinden

Michael Noack

Diverse Gruppen im Quartier

Wolfgang Hinte/Roland Fürst

Die Dominanz des ökonomischen Systems verhindert Solidarität – Finanzierungsparadigmen als Hürde für Kooperation

3.Prozesse und Projekte

Hanne Stiefvater/Karen Haubenreisser/Armin Oertel

Von der Sonderwelt ins Quartier – Organisations- und Konzeptentwicklung (in) der Evangelischen Stiftung Alsterdorf

Ingrid Krammer/Michael Terler

Weniger ist mehr: Innovation durch Kooperation in der Grazer Kinder- und Jugendhilfe

Christa Quick/Matthias Kormann

Professionelle Gestaltung von flexiblen Unterstützungsprozessen am Beispiel Familien Support Bern West

Walerich Berger

Sozialraumorientierung: Ein Paradigmenwechsel für Unternehmen, Mitarbeitende und Menschen mit Behinderungen

Thomas Wittmann

Sozialraumorientierte Jugendhilfe in der Stadt Rosenheim: Ein Finanzierungsmodell zur Unterstützung sozialarbeiterischer Fachlichkeit

André Chavanne

Zwischen Abgabemustern und Elternaktivierung: Von der Notwendigkeit, Grenzen neu zu denken

Margrit Lienhart/Alexander Kobel

Passgenaue Massnahmen im Rahmen sozialräumlicher Kooperationen von Sozialdiensten und Leistungserbringern im Kanton Bern

Hannes Schindler/Bettina Oschgan/Elisabeth Pilch/Matthias Liebenwein/Martin Baumann

Ein Unternehmen integriert Sozialraumorientierung

Birgit Stephan

Sozialraumorientierung in der Freien und Hansestadt Hamburg – dargestellt am Jugendamt Wandsbek

4.Forschungsbefunde und Perspektiven

Michael Noack

„Gibt es dazu auch Forschungsergebnisse?“ – Zur Empirie der „Big Five“

Roland Fürst

Professionelles Schreiben und Dokumentieren als Grundlage fachlicher sozialräumlicher Sozialer Arbeit

Stefan Bestmann

Auf dem Weg zu einer Theorie Sozialer Arbeit? Baustellen, Entwicklungsnotwendigkeiten und Perspektiven

Autoreninformationen

Einleitung

Im Jahr 2014 erschien unser erstes gemeinsames Buch „Sozialraumorientierung – Ein Studienbuch zu fachlichen, institutionellen und finanziellen Aspekten“. Mittlerweile ist das Buch in der dritten Auflage erschienen und aus dem Studien- und Lehrbetrieb nicht mehr wegzudenken, weil es nach wie vor das einzige aktuelle Studien- und Lehrbuch ist, welches das Fachkonzept Sozialraumorientierung in unterschiedlichster Weise in den Fokus nimmt. Das Buch findet nicht nur in den Ausbildungsstätten der Sozialen Arbeit an den verschiedenen Hochschulen im deutschsprachigen Raum Verwendung, sondern wird auch von den Organisationen und Administrationen entsprechend rezipiert. Vor einiger Zeit hat sich nun die Frage gestellt, ob wir das Studien- und Lehrbuch für eine neue Auflage überarbeiten oder ob wir aktuelle Beiträge von unterschiedlichen Autor/innen zu einem Buch zusammenfassen sollen, um den derzeitigen Anforderungen der Leserschaft in Profession und Disziplin gerecht zu werden, denn der Boom, den das Fachkonzept Sozialraumorientierung ausgelöst hat, ist ungebrochen. Wir haben uns für die zweite Variante entschieden, wobei uns mehrere Anlässe dazu bewogen haben, das folgende Buch „Sozialraumorientierung 4.0 – Das Fachkonzept: Prinzipien, Prozesse & Perspektiven“ herauszugeben.

–Da sind zum einen die zahlreichen Prozesse in Organisationen der Sozialen Arbeit sowie in regionalen Landschaften, bei denen vor dem Hintergrund je spezifischer lokaler Gegebenheiten versucht wird, Soziale Arbeit auf der Basis des Konzepts „Sozialraumorientierung“ zu qualifizieren, sei es in der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe, der Arbeitsförderung, dem Quartiermanagement, der Arbeit mit geflüchteten Menschen oder der Pflege. Diese an vielen Orten laufenden Prozesse sind nur selten systematisch dokumentiert und nur wenig miteinander verzahnt. Einzelne lokale Akteure/innen aus verschiedenen Regionen lernen zwar voneinander, indem sie im Austausch stehen oder sich wechselseitig besuchen, doch der Großteil der organisationalen und regionalen Umbauten erfolgt nur selten unter Rückgriff auf anschaulich dokumentierte Erfahrungen aus anderen Prozessen, die inhaltlich vom Fachkonzept Sozialraumorientierung gespeist wurden. Wir haben für dieses Buch Akteure/innen aus den verschiedenen Regionen gebeten, Beiträge zu schreiben, die fachlich ausgewiesen in verantwortlichen Funktionen derlei Prozesse auf den Weg gebracht und gesteuert haben, und sie gebeten, zentrale Erfahrungen mitzuteilen, kritisch zu reflektieren und sie möglichst nachvollziehbar für interessierte Leser/innen zu präsentieren.

–Seit der Publikation „Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe“ (von Wolfgang Hinte und Helga Treeß) im Jahre 2007 (Erstauflage) und des Studienbuchs „Sozialraumorientierung“ (von Roland Fürst und Wolfgang Hinte) im Jahre 2014 (Erstauflage) sind einige Jahre ins Land gegangen. In dieser Zeit haben sich einige offene Fragen bezüglich konzeptioneller Grundlagen geklärt, sind neue offene Fragen entstanden, und es liegen neue Erkenntnisse sowohl aus den lokalen Prozessen wie auch darauf bezogenen Evaluationen vor. Zu diesen Fragen und Erkenntnissen äußern sich im vorliegenden Buch Autor/innen, die sowohl über die notwendige Feldkenntnis als auch über Kenntnisse zur aktuellen Debattenlage verfügen.

–Verwirrung und Unklarheit bezüglich dessen, was das Fachkonzept Sozialraumorientierung ausmacht und leisten kann, entstehen derzeit dadurch, dass über Erzählungen, Parolen und/oder Seitengespräche etwa auf Kongressen irgendwelche Halbwahrheiten über unter der Chiffre „Sozialraumorientierung“ firmierende Prozesse in verschiedenen Regionen von Personen verbreitet werden, die wiederum über mehrere Stationen irgendetwas gehört haben, das sie anschließend als Tatsache ausgeben und umgehend von einigen Zuhörenden geglaubt und dann weitergetragen wird. So entstehen Behauptungen wie etwa: „Bei dem Prozess in der Stadt XY geht es doch nur ums Sparen.“ Oder: „Die haben ja erstmal im Landkreis AB das halbe Personal ausgetauscht und konnten letztlich den Prozess nur gegen den Widerstand der Beschäftigten durchsetzen.“ Oder: „Seit der Sozialraumorientierung gibt es in Stadt EF doch erheblich schlechtere Leistungen als vorher.“ Wenn solche Parolen gelegentlich (vornehmlich aus dem akademischen Intrigantenstadl) noch angereichert werden durch Zwischenrufe von sich am Spielfeldrand tummelnden Akteur/innen, die sich als Forscher/innen verstehen und sich doch eher verhalten wie Kommentator/innen einer Sportart, von der sie weder die Regeln kennen noch die aktuellen Player, dann entsteht in den Augen interessierter Betrachter/innen sehr leicht ein Bild über so manchen Prozess, das mit der Wirklichkeit vor Ort kaum noch etwas zu tun hat.

Aus diesen Gründen liegt uns in dieser Publikation daran, lokale Akteure/ innen zu Wort kommen zu lassen, die in verantwortlicher Position engagiert und reflektiert Prozesse in Gang setzen und begleiten, die sich auf das Fachkonzept Sozialraumorientierung berufen und über fachliche Implikationen hinaus Auswirkungen auf Strukturen und Organisation zeitigen.

Wir nähern uns der Bestandsaufnahme der aktuellen Situation mit einem Potpourri von Beiträgen verschiedenster Couleur: Vom persönlichen Erfahrungsbericht über eine systematische Prozessreflektion, klassische Fachaufsätze mit entsprechenden Literaturhinweisen, essayistischen Kommentaren, Interviews, exegetischen oder hermeneutischen Beiträgen bis hin zu solchen Aufsätzen, die sich nicht eindeutig einem Genre zuordnen lassen, sondern einfach informativ, anschaulich und inhaltsreich sind.

Zu Beginn des Bandes im ersten Kapitel steht ein Beitrag von Wolfgang Hinte zur Vergewisserung darüber, was das Fachkonzept Sozialraumorientierung kennzeichnet und welche Wirkungen die Arbeit nach diesem Konzept auf die verschiedenen Phasen der Erbringung sozialstaatlicher Leistungen zeitigt.

Das zweite Kapitel bietet Vertiefungen und Praxisbeispiele zu den grundlegenden fünf Prinzipien des Fachkonzepts Sozialraumorientierung. Manfred Tauchner reflektiert historisch und philosophisch fundiert das Prinzip „Ansatz am Willen“, und Bernhard Demmel beschäftigt sich mit praktischen Herausforderungen bei der Umsetzung des Prinzips. Frank Dieckbreder und Sarah Dieckbreder-Vedder beleuchten und präzisieren die im Prinzip zwei getroffenen Aussagen zu den Chancen der Nutzung der eigenen Aktivität von behinderten Menschen im Leistungsgeschehen nach dem deutschen Bundesteilhabegesetz, und inhaltlich wie systematisch knüpfen daran Andrea Stonis, Thomas Steinberg und Karen Haubenreisser mit ihrem Beitrag zur konsequenten Ressourcenorientierung in der Stiftung Alsterdorf in Hamburg an. Der zielgruppen- und bereichsübergreifende Blick beim sozialräumlichen Arbeiten wird exemplarisch dargestellt im Beitrag von Michael Noack zur Diversität in lokalen Quartieren. Wolfgang Hinte und Roland Fürst beleuchten danach die Widersprüche, die insbesondere durch Finanzierungsstränge entstehen, die die allseits gewünschte Kooperation zumindest erschweren.

Im dritten Kapitel geht es um konkrete Projekte und Prozesse in verschiedenen Organisationen und Gebietskörperschaften. Die Entwicklung der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg von der Sonderwelt ins Quartier beschreiben Hanne Stiefvater, Karen Haubenreisser und Armin Oertel. Ingrid Krammer und Michael Terler reflektieren den Aufbau kooperativer Strukturen in der Grazer Kinder- und Jugendhilfe. Der Familien Support Bern West ist eine Organisation, in der seit vielen Jahren mit dem Fachkonzept Sozialraumorientierung flexible Unterstützungsprozesse für Kinder, Jugendliche und Familien gestaltet werden: Wie das konkret aussieht, beschreiben Christa Quick und Matthias Kormann. Walerich Berger erzählt im darauffolgenden Interview, wie sich der Paradigmenwechsel in Richtung Sozialraumorientierung für verschiedene Ebenen eines Unternehmens auswirkt, das Leistungen für Menschen mit Behinderungen in der Steiermark anbietet. Der Zusammenhang zwischen einem auf dem Budgetgedanken beruhenden Finanzierungsmodell und der Unterstützung sozialarbeiterischer Fachlichkeit wird von Thomas Wittmann aus der Stadt Rosenheim dargestellt, und wie sich Grenzen zwischen einzelnen Leistungssäulen mehr und mehr auflösen, wenn man mit sozialräumlichem Blick der Dynamik von Familiensystemen folgt, geht aus dem Beitrag von André Chavanne aus Langenthal in der Schweiz hervor. Im Kanton Bern kooperieren einige Sozialdienste auf der Grundlage einer vertraglichen Vereinbarung mit der Organisation SORA, um mit sozialräumlichem Blick passgenaue Maßnahmen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien zu entwickeln: Margrit Lienhart und Alexander Kobel präsentieren die Erfahrungen bei der Entwicklung dieses Kooperationszusammenhangs. Die Diakonie de La Tour in Kärnten realisiert in mehreren Leistungsfeldern konsequent die fachlichen Implikationen sozialräumlichen Arbeitens: Wie das gelingen kann, beschreiben Hannes Schindler, Bettina Oschgan, Elisabeth Pilch, Matthias Liebenwein und Martin Baumann am Beispiel der Quartierarbeit und der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Für die Kinder- und Jugendhilfe der Freien und Hansestadt Hamburg ist Sozialraumorientierung eine zentrale fachliche Grundlage: Wie sich die Realisierung in einem partizipativen Prozess im Jugendamt Wandsbek gestaltet, berichtet Birgit Stephan.

Die Beiträge im vierten Kapitel beschäftigen sich mit Forschungsbefunden und daraus abgeleiteten Perspektiven. Michael Noack fasst Forschungsergebnisse zusammen, die sich auf die fünf Prinzipien des Fachkonzepts beziehen, Roland Fürst nennt Leitlinien für das Verfassen von Berichten, Gutachten und Dokumentationen in der sozialräumlichen Arbeit, und Stefan Bestmann rundet den Band mit Hinweisen auf Baustellen, Entwicklungsnotwendigkeiten und Perspektiven sozialräumlicher Arbeit ab, die auch als Bruchstücke auf dem Weg zu einer Theorie Sozialer Arbeit verstanden werden können.

Insgesamt baut das vorliegende Buch mit neuen Originalbeiträgen und weiterführenden inhaltlichen Perspektiven auf die im ersten Buch gelegten Grundlagen auf und antwortet damit sowohl auf aktuelle Fragen aus Praxis und Theorie Sozialer Arbeit als auch auf in den Diskursen über Sozialraumorientierung aufgeworfene Fragestellungen.

Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren, die sich die Zeit genommen haben, neben den zahlreichen Herausforderungen in ihrem Arbeitsalltag die vorliegenden Beiträge zu verfassen und sich mit den nicht immer einfach zu realisierenden Korrekturwünschen der Herausgeber auseinanderzusetzen. Geduld, Übersicht und hervorragende Beherrschung der Technik sind wesentliche Qualitäten, die Andrea Schmelzer auf sich vereinigt und damit einen erheblichen Anteil dazu beigetragen hat, dass das Buch in dieser Fassung vorliegt. Sowohl ihr als auch Susanne Fürst für das abschließende Korrekturlesen gebührt unser großer Dank.

Wolfgang Hinte/Roland Fürst

Essen und Wien im Mai 2020

Wolfgang Hinte
1.Original oder Karaoke – was kennzeichnet das Fachkonzept Sozialraumorientierung?

Gemeinwesenarbeit, stadtteilorientierte Soziale Arbeit, vom Fall zum Feld: Was einst an mit diesen Schlagworten umschriebenen Suchbewegungen initiiert wurde, ist mittlerweile zu einem konzeptionell fundierten und in der Praxis weit verbreiteten Strang Sozialer Arbeit geworden, dessen Bedeutung weit über die anfänglichen Ursprünge (Arbeit im Quartier, Dezentralisierung Sozialer Dienste, Lebensweltbezug in der Kinder- und Jugendhilfe) hinausreicht und zu einem sämtliche Felder Sozialer Arbeit durchziehenden Fachkonzept geworden ist. Dieses prägt – mehr oder weniger – nicht nur die praktische Arbeit der Berufsgruppe, sondern dient auch als Grundlage für zahlreiche Prozesse der Neuorganisation (insbesondere seit den 1980er Jahren in der Kinder- und Jugendhilfe und seit den 1990er Jahren auch in der Behindertenhilfe). Dass die Motive der in diesen Feldern agierenden Akteure/innen vielfältig und gelegentlich widersprüchlich sind, liegt auf der Hand: Sozialraumorientierung ist längst eine wehrlose Konzeptvokabel geworden, die – nicht immer im Sinne ihrer Begründer/innen – für zahlreiche Merkwürdigkeiten herhalten muss, die nicht mehr allzu viel mit den ursprünglich entwickelten und immer wieder formulierten und beschriebenen (s. dazu Hinte/Treeß 2014; Noack 2015) Prinzipien zu tun haben, sondern oft auch einer bunten Mischung aus gedanklicher Bequemlichkeit, akademischen Eitelkeiten oder lokalen Handlungszwängen entspringen. In dieser Gemengelage ist es durchaus herausfordernd, konzeptionell Kurs zu halten und dem Publikationsallerlei ein konsistentes Gebilde aus fachlicher Konzeption und Hinweisen für hilfreiche Bedingungen im Aufbau einer Organisation und flexiblen Finanzierungsstrukturen zur Seite zu stellen (um nicht zu sagen: entgegenzusetzen), das theoretisch wie praktisch Orientierung bietet, aber selbstverständlich auch zu Kritik und Weiterentwicklung anregt.

Zum Fachkonzept Sozialraumorientierung lässt sich unter historischen, systematischen, methodischen und strukturellen Aspekten kaum noch etwas substantiell Neues sagen – die Prinzipien wurden vielfach rauf und runter erklärt, in ihren Verästelungen beschrieben, in ihren Auswirkungen beforscht und mit Beispielen aus zahlreichen Arbeitsfeldern illustriert. Seit den 2000er Jahren geht es im Grunde darum, dieses Konzept in der Praxis so zu erden, dass es in seinen Umsetzungsmöglichkeiten ausgelotet wird und durch entsprechende Veränderungen in Struktur und Finanzierung Unterstützung findet. Dazu liegt mittlerweile eine Vielzahl von Erfahrungen vor, die indes noch nicht systematisch und in einer Art und Weise dokumentiert wurden, die konkret genug ist, um weiteren interessierten Akteur/innen in den Gebietskörperschaften präzise Informationen darüber zu geben, welche Chancen und Risiken in solchen Prozessen liegen bzw. welche To-dos und Not-To-dos zu beachten sind.

Kern des Fachkonzepts sind die hinlänglich bekannten fünf Prinzipien, die auf den ersten Blick in ihrer Schlichtheit ungemein selbstverständlich wirken, deren Qualität und „Sprengkraft“ sich indes erst bei genauerem Hinsehen erschließen.1

–So scheint auf den ersten Blick der Hinweis auf den „Ansatz am Willen“ trivial. Doch wenn klar ist, dass es einen Unterschied zwischen Wunsch und Wille gibt, dass ein Wille eine andere Kategorie ist als ein Bedürfnis oder der Bedarf, dass die aus einem Willen abgeleiteten Ziele sich wie „rote Fäden“ durch ein Arbeitsbündnis ziehen – dann wird z. B. klar, dass ein versäultes Hilfesystem, durch das der Wille eines Menschen immer wieder schon durch das System verformt und zurechtgeruckelt wird, einem solchen Ansatz zuwiderläuft. In klassischen Systemen werden Wille und Ziele der leistungsberechtigten Menschen den jeweils vorhandenen, historisch entwickelten und auf der Grundlage von Leistungs- und Entgeltvereinbarungen finanzierten Hilfen angepasst – in einem konsequent dem Fachkonzept folgenden System müsste sich ein Hilfesystem jeweils passgenau den speziellen individuellen Willen und Zielen der Menschen anschmiegen und sich – nur leicht übertrieben gesagt – bei jedem „Fall“ neu justieren.

–Wenn die eigene Aktivität des betroffenen Menschen Kern eines professionellen Arbeitsbündnisses ist, dann hat das Konsequenzen für die Aufstellung solcher Institutionen, in denen Betreuung und Kundenzufriedenheit entscheidende Parameter für „Erfolg“ sind. Denn dort werden oft die Rechte und die Eigenaktivität des Menschen gleichsam erschlagen (Pestalozzi soll gesagt haben: „Wohltätigkeit ist das Ersäufen des Rechts im Mistloch der Gnade.“) von der Wohltätigkeitsbereitschaft des Systems und insbesondere der Professionellen. Wer Kund/innen bedient, fördert eine passive Grundhaltung und bietet sich geradezu an als jemand, an den man Verantwortung abgibt und der in perfekter Weise alles herrichtet. Dagegen fördert die Konzentration auf die eigene Aktivität des Menschen alltägliche Normalität, und dazu gehören Unfertigkeit sowie Dinge, die schiefgehen, dazu zählen Selbstorganisation bis hin zu Systemveränderung durch Widerstand.

–Wenn persönliche Ressourcen zentral sind für gelungene Unterstützungsprozesse, dann hat das Konsequenzen für leistungsbegründende Vermerke: Defizitdiagnosen und gut gemeintes „Kaputtschreiben“ von Menschen zum Zwecke der Leistungsbegründung müssen mehr und mehr abgelöst (zumindest aber ergänzt) werden durch die Beschreibung von Eigenschaften, die in wichtigen Lebenskontexten Ressourcen, Kompetenzen und Fähigkeiten sind. Zahlreiche Gutachten, die bei genauem Hinsehen eher „Schlechtachten“ sind, müssten sich verstärkt auf die erfolgreichen Bewältigungsstrategien von Menschen auch in prekären Lebenslagen richten, die bislang dazu beigetragen haben, dass Menschen (wenn auch mehr schlecht als recht) durchs Leben gekommen sind.

–Wenn zielgruppenübergreifende Arbeit ein fachlicher Standard ist, dann dürfen sich die Akteure/innen in den unterschiedlichen Gesetzeskreisen nicht ausschließlich auf die korrekte Feststellung und Erbringung der in einem bestimmten Gesetzbuch verbrieften Leistungen konzentrieren. Dazu reicht es nicht, dass man grundsätzlich „vorrangige Leistungen“ aus jeweils anderen Gesetzbüchern prüft. Vielmehr geht es darum, dass zum einen Leistungen aus jeweils anderen Leistungsgesetzen klug miteinander kombiniert werden, zum anderen aber, dass der eine Leistung beantragende Mensch nicht vorrangig oder gar ausschließlich gesehen wird als „anspruchsberechtigt nach …“, sondern in seinen gesamten Lebenszusammenhängen betrachtet und auf dieser Grundlage eine (leistungsgesetzlich begründete) Unterstützung gemeinsam mit dem leistungsberechtigten Menschen entwickelt und beschrieben wird, die dann in Kooperation von mehreren Leistungsträgern, auch aus unterschiedlichen Gesetzeskreisen, erbracht wird. Konsequent weitergedacht würde das z. B. auch heißen, dass Aktivitäten im Bereich „fallunspezifische Arbeit“ (s. dazu Hinte 1999) nicht gesetzbuchspezifisch erbracht werden, sondern von eigens dazu eingerichteten Instanzen (in manchen Städten heißen sie „Netzwerker/innen“), die mit breitem Blick und ohne zielgruppenspezifische Einschränkung ihre Kenntnisse über Ressourcen im Sozialraum bei der Kreation passgenauer Leistungen einbringen.

–Kooperation beschreibt eine basale Grundhaltung für sozialräumliches Arbeiten. Angesichts einer derzeit immer noch zahlreiche Quartiere prägenden destruktiven Konkurrenzsituation – insbesondere unter den dortigen Trägern und Verbänden, zum Teil gar angefacht von den Leistungsträgern mit der Absicht, Dumping-Preise zu befördern – ist es hilfreich, die Währung „Geld und Macht“ durch die Währung „Vertrauen“ zu ersetzen und lokale Kooperationsmodelle aufzubauen, bei denen nicht die jeweils eigenen Interessen der Trägerinstitutionen im Vordergrund stehen, sondern das Bewusstsein für die Arbeit an einer gemeinsamen Sache, nämlich der Arbeit für gute Lebensbedingungen im Quartier und der Gestaltung passgenauer Unterstützungs-Settings für (leistungsberechtigte) Menschen. Dazu braucht es Finanzierungsvarianten, die nicht diejenigen unterstützen, die die meisten „Fälle“ in ihren Einrichtungen beherbergen, sondern diejenigen, die bereits im Vorfeld sozialer Auffälligkeit dazu beitragen, diese zu lindern oder zu verhindern, also im guten Sinne Prävention betreiben und nicht erst warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist. Konkurrenz und ungesteuerte Märkte führen zu Abschottung, kriegerischen Handlungen und Kämpfen untereinander. Bei der Gestaltung regionaler Landschaften im Sinne sozialräumlichen Arbeitens geht es nicht um Kampf und egoistisches Streben nach Erfolg, nicht ausschließlich um den Bestandserhalt der eigenen Einrichtung oder gar die Expansion des eigenen Trägers, sondern um Zusammenhalt, Abstimmung und Kooperation. Vertrauenspartnerschaften sind tragfähiger als nur von Berechnung getragene Geschäftsbeziehungen.

Somit ist klar, dass diese Prinzipien, deren Ausgangspunkt der Versuch war, wesentliche Qualitätselemente sozialarbeiterischen Handelns auf den Punkt zu bringen, bei durchdachter Nutzung und radikaler Anwendung enorme Konsequenzen für Aufbau von Organisationen, Strukturen Sozialer Arbeit und insbesondere Finanzierungsformen von sozialstaatlichen Leistungen haben.

Das Fachkonzept: Verkürzungen, Missverständnisse und Klärungen

Mittlerweile gehört es fast schon zum guten Ton, „Sozialraumorientierung“ irgendwie gut zu finden. Bei der Debatte um die Reform des deutschen Kinder- und Jugendhilferechts wurde und wird wie selbstverständlich von „sozialräumlichen“ Ansätzen gesprochen, im deutschen Bundesteilhabegesetz (BTHG) taucht fast schon verdächtig häufig „Sozialraumorientierung“ auf, Publikationen mit sozialraumaffinen Titeln häufen sich, und irgendwie ist man sich in einheitlicher Diffusität einig: „Sozialraumorientierung“ ist gut. Die einen meinen damit, dass Soziale Arbeit nicht nur den Fall, sondern auch den Raum betrachten sollte (trivial und selbstverständlich, seit hundert Jahren unumstritten), andere betrachten den Sozialraum als Ressourcen-Steinbruch für Soziale Arbeit und nutzen das als Begründung für den Abbau sozialstaatlicher Leistungen (auch diese Hinterlist gab es immer schon), wieder andere wollen sozialräumliche Netze aufbauen und stärken und damit Lebenswelten vor zu starken professionellen Eingriffen schützen (gar nicht mal schlecht), und wieder andere nutzen die Sozialraum-Chiffre, um etwa stationäre Einrichtungen aus ihrer Fixierung auf die jeweils eigene Immobilie zu befreien und sie anzuregen, sich dem sozialen Umfeld zu öffnen. Mal wird der Sozialraum als Territorium gesehen, mal als virtueller Raum, mal wird der Raum kritisiert als Container, der wahlweise ein- oder ausschließt, und wieder andere würden am liebsten alle gesetzlichen Leistungsfelder in einem sozialräumlichen Konzept aufgehen sehen, bei dem Einzelfall-Leistungsansprüche durch konstruktive Sozialraumstrukturen aufgefangen werden, und all das wiederum ruft Kritiker/innen auf den Plan, die bemängeln, dass künftig der Sozialraum als Fall gesehen werden könnte.

Hilfreich ist deshalb gelegentlich eine Vergewisserung darüber, was mit dem hier in Rede stehenden „Fachkonzept Sozialraumorientierung“ gemeint ist. Aufschlussreich (und vielleicht auch ganz unterhaltsam) ist es, dazu zunächst den Blick auf einige Publikationen zu werfen, die sich zwar verbal mit „Sozialraumorientierung“ beschäftigen, dabei jedoch zumindest den in dieser Publikation gemeinten Gegenstand (gezielt oder schlichtweg fahrlässig) verfehlen und damit eher zur Verwirrung und Desorientierung beitragen.2

Exemplarisch lohnt sich diesbezüglich der Blick auf die Kollegen Kessl/ Reutlinger 2018, bei deren Publikationen – egal, ob sie einzeln oder als Duo schreiben – drei Elemente hervorstechen:

–Sie nehmen die Chiffre „Sozialraumorientierung“ sowie die Praxis vor Ort vornehmlich über von ihnen sorgfältig selektierte Publikationen wahr und entwickeln beachtliche Fähigkeiten darin, ihrer Position zuwiderlaufende Publikationen auszublenden oder zu verschweigen. Ok, kann man so machen, und es passt auch in die Zeit von Twitter und Trump, doch es kratzt zumindest an dem auch von diesen Kollegen gepflegten Habitus der forscherisch-kritisch objektiven Distanz. Entlarvend passt ins Bild, dass sie zur Untermauerung so mancher Behauptung auf „Expert/innengespräche“ verweisen, die „im Rahmen einer Vorstudie zu einer international-vergleichenden Forschungsarbeit (Deutschland/Schweiz) durchgeführt“ wurden (2018, S. 1072). Das ist schon stark: Da bringen sie vermeintlich (man kann es nicht nachprüfen) wörtliche Zitate (Sozialraumorientierung sei ein „Verkaufsschlager“ – S. 1084, es gäbe einen „Kritiker- und Beratermarkt“ – S. 1085, Kritiker/innen der Sozialraumorientierung würden beschimpft als „Ketzer und Häretiker“ – S. 1082 – und vieles andere mehr) und daraus abgeleitete Einschätzungen, die mit leichter Hand irgendwelchen nicht näher benannten Expert/innen „repräsentativer deutschsprachiger Fachverbände“ (S. 1072) zugeschrieben und quick and dirty einfach mal so dem lesenden Publikum in dem Übersichtswerk „Kompendium Kinder- und Jugendhilfe“ (Böllert 2018) präsentiert werden – also in etwa so, als wenn ich behaupten würde, ich hätte in einer Vorstudie zu einer Forschungsarbeit, die noch im Dunkeln bleibt, mit einer nicht näher bezifferten Anzahl von Studierenden gesprochen, die mir unverblümt mitgeteilt hätten, dass sie beim Kollegen Kessl in ihrem sechssemestrigen Bachelor-Studium nun wirklich gar nichts Brauchbares für ihre spätere Praxis gelernt hätten – was beurteilen zu wollen mir natürlich fern liegt.

–Sie lesen die angegebene Bezugsliteratur entweder gar nicht oder nur oberflächlich (das sogenannte „Giffey“-Syndrom). Kleines Beispiel: Als Bezugsliteratur für „sogenannte Sozialraum-Budgets“ (Kessl/Reutlinger 2018, S. 1068) werden Publikationen von Städten bzw. Autor/innen genannt, die mit Sozialraumbudgets so wenig zu tun haben wie die AFD mit Klimaschutz (Landeshauptstadt München: Schröer 2005; Hermann 2006), während Gebietskörperschaften, die langjährig erfolgreich und evaluiert mit Budgets arbeiten, schlichtweg keine Erwähnung finden (etwa die Städte Rosenheim oder Graz oder der Landkreis Nordfriesland).

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