Loe raamatut: «Sprachliche Höflichkeit», lehekülg 5

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Goffman nimmt diesen Bedeutungsradius des face-Begriffs als erster auf und gründet darauf seine bekannten sozialpsychologischen Konzeptionen3. Sie führen erst in der Auslegung von Brown & Levinson 1978/87 zur expliziten Verbindung mit Höflichkeit. Bei Goffman gilt face noch als allgemeiner „positive social value“, der in der sozialen Interaktion zwar richtliniengerecht („in terms of approved social attributes“, Goffman 1967, 222) demonstriert und entsprechend beachtet werden soll. Face ist dabei keineswegs nur auf die konfrontative Begegnung in dyadischer Kommunikation eingeschränkt, wo es sich lediglich als sprachliche Entschärfung bedrohter Interaktanten veräußert. In der bekannten Umschreibung als das „public self image“ hat face vielmehr eine öffentliche Dimension, d.h. es gehört zum Geschick des sozialisierten Ich, Ausdruck und Eindruck stets aufeinander abzustimmen (cf. das berühmte „impression-management“), und dabei – gleichsam wie auf einer Bühne – ein entsprechendes Selbstbild zu etablieren und zu reproduzieren (Image!). Goffman legt sein Konzept auf das handelnde Subjekt hin an, empfindet dieses im Sinne des Symbolischen Interaktionismus Meads aber als projizierte Dualität zwischen I und me (cf. Mead 1967). Er konstruiert damit ein aktives, aber hoch narzisstisches Ich, das kontinuierlich vom „deep rooted concern with what others think of us“ geprägt ist und so vom Blick der Anderen als ein sog. „looking-glass-self“ völlig abhängig zu sein scheint (Haugh 2012b, 48). Aus meiner Sicht wäre face demnach der reflexiv erworbene innere Wert der Person. Er ist gleichsam ein ‚sakrales‘ Gut und daher verehrenswürdig. Diese Verehrung geschieht in der Kommunikation dauernd und zwar durch facework. Facework ist daher der empirische Kanal des face.

Soweit meine Interpretationen von Goffmans Grundgerüst, das grob reduziert werden kann auf die Eindruck-Ausdruck-Relation zwischen face und facework. Indem der ‚Stellen-Wert‘ dieses Eindrucks im sozialen Gefüge immer auf ein Gegenüber angewiesen ist, welches ihn nach normativen Richtlinien (lines) beurteilt, kommen bald moralisch-ethische Aspekte ins Spiel. Kommunikative Begegnungen funktionieren eben dann reibungsfrei, wenn die Interaktanten einander wechselseitig Wertschätzung und Protektion zollen. Die socially attributed aspects of self (Watts 2003:125) werden – unter der idealtypischen Annahme einer dyadischen Kopräsenz rationaler Interaktanten (face to face!) – demonstrativ ausgehandelt und auf diese Weise nachvollziehbar ‚abgebildet‘. Facework, bei Goffman generell verstanden als „the actions taken by a person to make whatever he is doing consistent with face“ (Watts 2003, 125), macht damit face sprachlich nachweisbar; es darf daher zurecht als „the verbal face of face“ angesehen werden (Tracy 1990). Indem es aber Ziel jeder gelingenden Interaktion ist, die soziale Ordnung nach ethischen Prinzipien aufrechtzuerhalten, geraten gerade Momente in den analytischen Blickpunkt, wo es darum geht „to counteract incidents“ und facework als Abwehr von face-Bedrohung zur Rettung guter Beziehungen analytisch dingfest gemacht werden kann. Damit wird zwei Sichtweisen Vorschub geleistet – der defensiven und der protektiven. Beide machen den Konflikt zum kommunikativen Verhandlungsobjekt und bauen darauf ihre theoretischen und methodologischen Konzeptionen auf. Es sind dies in der (linguistischen) Pragmatik die politeness-Theorien, und in der Sozial-Psychologie die face-negociation und face-management-Theorien.4

Ich wende mich hier lediglich den auf Brown & Levinson beruhenden politeness-Theorien zu. Aufgrund ihrer starken Präsenz und globalen Beanspruchung in der modernen Linguistik bringen diese den Terminus face und die davon abhängigen Konzepte in das allgemeine Bewusstsein ein und konstituieren – unter Verlust des Begriffs des faceworks – das scheinbar unabdingbare Verhältnis von face und politeness – ja, zwischen face und ‚Höflichkeit‘ scheint – ungeachtet jeglicher ontologischer Problematisierung – eine zwingende kausale Interdependenz zu bestehen, die meines Erachtens den hohen Anwendungs-Wert des Paradigmas erst ausmacht. Dahinter verbergen sich jedoch zahlreiche Trugschlüsse, die im Folgenden aus meiner Sicht näher zur Sprache kommen sollen.

In den politeness-Theorien wird face zum normativen Bezugszentrum zur Einschätzung des Konfliktpotentials von Handlungen und dem Grad seiner Abfederung. Ohne genau zu definieren, was unter emischen Gesichtspunkten mit face jeweils genau gemeint ist, wird es dennoch zum generellen Maßstab für Höflichkeit und seiner etwaigen sprachlichen Phänomenologie erhoben. Wenn die Grundkonzeption von Brown & Levinson darauf angelegt ist, „to show how degrees of politeness can be expressed and determined in a principled way using the concept of ‚face‘,“ und so „seemingly disparate phenomena found in various languages by universally valid principles“ tatsächlich zu erklären (Matsumoto 2009, xi), dann braucht es einen allgemein gültigen methodisch umsetzbaren Angelpunkt zwischen Theorie und Praxis. Dieser wird mit dem Konzept der face-wants kreiert, d.h. das abstrakte face wird in ein Korrelat an Wünschen bzw. Bedürfnissen umgedeutet, welche jede sozialisierte Person grundsätzlich entwickelt hat, als solche in die jeweilige Kommunikation automatisch einbringt und dort entsprechend befriedigt wissen möchte. Es dürfte also gerade die Annahme der face-wants sein, welche die Praktikabilität des Paradigmas ausmacht, gleichzeitig aber seine problematischen Grundsteine legt, und zwar aus folgenden Gründen:

 mit wants wird ein ‚plastischer‘ Wende-Punkt von der ideellen Innenseite auf die manifeste Außenseite etabliert;

 die Übersetzung in das dichotomische Korrelat von inneren Werten (positive vs. negative face) in darauf bezogene Handlungs-Strategien (positive vs. negative politeness) macht face inhaltlich greifbar;

 derartige Strategien sind nur in einer ongoing communication als wechselseitiger account im turn-Abtausch nachweisbar, wobei Dyadik, Ko-Präsenz und (alltägliche) Mündlichkeit als die idealen Grund- und Bemessensbedingungen gelten;

 nachdem die wants besonders unter Bedrohung des kommunikativen Gleichgewichts deutlich werden und gerade dann nach entsprechender ‚Behandlung‘ rufen, eignen sich konfliktäre Handlungen und deren Ausgleich besonders zur Sichtbarmachung von Höflichkeit in Sprachgestalt – nicht mehr face ist demnach der empirische Anhaltspunkt der Paradigmen, sondern der berühmte FTA, der face-threatening act – er avanciert zum idealen Analyse-Forum höflicher Phänomene.

Politeness und face gehen somit scheinbar eine Symbiose ein, welche sich mit dem zunehmenden Einsatz des Paradigmas als Funktions-Form-Korrelat immer mehr festigt. Mit der Entwicklung zu weniger form-gebundenen, sondern diskurs-inhärenten und interaktiv ausgehandelten Auslegungen (s.o.) hin wandelt sich allerdings diese Haltung. Das Verhältnis scheint zu ‚hinken‘ und ist bald dabei, sich unter neuen methodologischen Standpunkten aufzulösen. Die Diskussion weist daher drei Stadien auf:

1 das normative Stadium mit der (anfänglich) unabdinglichen Bindung von politeness an face (Brown & Levinson-Schule), welches als eine universell gültige, moralistisch beeinflusste Richtlinie gilt, die von rationalen ‚Sprechern‘ im Sprachhandeln strategisch erfüllt wird;

2 das interpretative Stadium, wo die Ausformung und Auslegung von sprachlichen Äußerungen im ongoing discourse je nach kultur-spezifischer, beziehungs- und frame-geprägter Sichtweise unterschiedlich erfolgt und eine funktional bedingte Auseinander-Entwicklung bzw. langsame Loslösung von politeness und face bewirkt (Watts 2003, Locher 2008, O’Driscoll 1996, 2007, 2011, Arundale 1999, 2006, 2009, Sifianou 2011, 2016,); und schließlich

3 das ‚interaktionale‘ Stadium, wo die Ablösung bzw. völlige Trennung von face von politeness (man beachte die Reihenfolge der Komponenten!) erfolgt ist und daher das Desiderat besteht, sie „as objects of studies on their own right“ (Haugh 2012b: 53) zu behandeln. Grund dafür ist die stets multiple Natur beider Konzepte und deren immer beziehungs-abhängige, interaktional verhandelbare und stets neu verhandelte Geltung (Spencer-Oatey 2007, 2011; Bargiela Chiappini 2009; Haugh 2009, 2012b; Arundale 2009, 2013).

Dass das Verhältnis zwischen face und politeness also ein höchst problematisches ist, zieht sich durch die ganze politeness-Forschung, ja etabliert dort mittlerweile eine Diskussion (cf. Bargiela/Haugh 2009, Bogdanowska-Jakubowska 2010, 2016), die sich an der Theorie und der Anwendung auf die verschiedensten Daten gleichermaßen entzündet und dort immer wieder angesichts der Spannung zwischen Universalität und Kulturspezifik einerseits und zwischen inneren Wert-Annahmen und äußeren Erscheinungsformen andererseits aufflammt. Sie wird dann besonders eklatant, wenn westliche mit östlichen Wertkonzepten und Umgangsformen verglichen oder miteinander konfrontiert werden. Bei der Untersuchung chinesischer und japanischer Diskurse etwa (Scollon/Scollon 1994, Morisaki/Gudykunst 1994, Kadàr/Mills 2011) zeigt sich – wohl gemerkt immer aus dem im Paradigma üblichen englischen Metablick – schnell, dass sowohl face wie politeness emisch vom westlichen Verständnis derart abweichende ‚Bedeutungen‘ haben, dass sie kaum im etischen Konzept politeness 2 fruchtbar eingeordnet werden können. Ich versuche, dieses Fangnetz mit einigen Argumenten zu ‚entflechten‘, die den unterschiedlichen Status der Begriffe in den Blick nehmen:

a) das terminologische Argument

Die problematische Beziehung von face und politeness scheint schon in der Handhabung und Auslegung der Terminologie selbst und deren disproportionalen Übernahme in die verschiedensten Objekt- und Metasprachen der politeness-Forschung begründet zu sein: face wird ohne kernsemantische Aufschlüsselung meist überall als englischer Fach-Begriff entweder beibehalten oder mehr oder weniger wörtlich entlehnt (etwa frz. face, it. faccia, span. faz, dt. Gesicht5); politeness wird hingegen meist mit kultureigenen Termini übersetzt – wie eben im Dt. mit ‚Höflichkeit‘. Damit verliert sich die epistemologische Ambivalenz als politeness 1, der kulturimmanenten Laien-Lesart, und politeness 2, dem abstrakten Erklärungs-Modell für soziale Interaktion überhaupt, worin – wie oben schon angesprochen – sämtliche politeness 1n enthalten sein müssen.

Dieses Problembewusstsein scheint beim einheitlichen face-Begriff erst gar nicht bzw. viel später auf. Erst als sich seine emischen Implikationen durch immer mehr Daten hindurch als zunehmend verschieden erweisen und damit theoretisch immer schwieriger in einem gemeinsamen Kern fassbar sind, wird der Wunsch laut, auch beim face-Begriff unbedingt zwischen kulturspezifischen face 1n und einem abstrakten Dachkonzept face 2, der diese erklärt, deutlich zu unterscheiden (cf. Haugh 2012a).

b) das inhaltliche Argument

Mit der Metasprache wird jedoch auch der ethnozentrische Filter mitgeliefert, durch den die Konzepte inhaltlich interpretiert werden. Während politeness etwa als dt. Höflichkeit, it. cortesia, frz. politesse, chin. limào, jap. wakimae, hebr. nimus, gr. evgenia, russ. vezlivost6 – um nur einige typische zu nennen (cf. die Zusammenstellung in Watts 2003:14–16) – in der jeweiligen Alltagskultur verankert ist, ist face kein Alltagsbegriff und Laien meist völlig unbekannt. Höflichkeit & Co. werden daher in der Forschungsliteratur ohne viel Nachfrage als semantisch gut greifbare Kategorie empfunden und so vor allem in Form des gängigen Adjektivs – ‚höflich‘ – zur Qualifizierung von Handlungen, Personen und, wie wir wissen, ursprünglich auch von Formen (etwa wie dt. bitte und danke) verwendet. Schließlich macht sich aber auch die theoretische Abstraktion dieses Qualitätsprädikat zunutze und lässt daraus gleichsam onomasiologisch eine plausible, weil scheinbar universal geltende Untersuchungskategorie entstehen. Face ist hingegen nur schwer übersetzbar; seine Bedeutung als Fachterminus ist für Laien undurchschaubar und kann selbst von Forschern höchstens meta-pragmatisch eruiert werden. Wo der ihm einfach zugeordnete, im Paradigma so zentrale Norm-Gehalt daher genau liegt, ist weder theoretisch, noch praktisch klar auszumachen.

Die politeness-Forschung versucht trotzdem seit ihren Anfängen dem face-Begriff emisch und etisch beizukommen. Zwei Vorgehensweisen werden dazu mehr oder weniger bemüht: Die eine versucht, in den jeweiligen Kulturen nach möglichen Übersetzungsäquivalenten zu suchen; die andere versucht, im sprachlichen Repertoire konkurrierende Begriffe aufzuspüren und Laien und Forscher nach deren Paraphrasen zu fragen. Aus der Zusammenstellung von Haugh (2012b, 54), die ich hier nicht mit den einzelnen sprachlichen Termini wiedergeben kann, geht folgendes hervor:

 Die Übersetzungen in den verschiedenen überprüften Sprachkulturen kreisen erwartungsgemäß alle um das menschliche Gesicht.

 Die Synonyme oder Paraphrasen, die in verschiedenen Kultur-Gemeinschaften von Laien erfragt werden, zeigen das Spannungsverhältnis zwischen der Personen- und der Beziehungs-Zentriertheit des Konzepts. Haughs Liste vervollständigend, betreffen sie andere „saliente“ Verkörperungen der Person (wie engl. heart, front, dt. Augen, it. figura, persona…); soziale Emotionen/Affekte (wie engl. sympathy/empathy, dt. Liebe, sp. respeto, confianza, it. gentilezza, engl.=jap. attentiveness7,…) und soziale Relationen (wie engl. dependency, locus ‚place‘, status, reputation, involvement, dt.Zugehörigkeit,…),

d.h. die Ausleuchtung der face-Äquivalente fördert emotionale und kognitive Aspekte des Begriffs zu Tage, die weit über die Wesenheit des menschlichen Gesichts hinausgehen. Die Angaben machen aber deutlich, dass es sich dennoch um eine Wesenheit handelt, deren man sich bewusst ist und über die daher auch gesprochen werden kann („something perceived and talked about by members of sociocultural groups“ cf. Watts/ Ide/ Ehlich 1992, 3).

c) das ontologische Argument

Aus diesen Befunden wird ersichtlich, dass face und politeness kaum etwas gemeinsam haben, wenn man davon absieht, dass politeness ein demonstratives Verfahren ist, das den face-Bedürfnissen, vor allem denen nach Anerkennung und Schonung, entgegenkommt – doch wie sehen diese Bedürfnisse in den jeweiligen Kulturen und deren Individuen genau aus und welches sind die Mittel, die ihnen gerecht werden? Trotz der großen Bandbreite der Diskussion und der immer wieder ins Feld geführten empirischen Daten wird nämlich etwas m.E. Entscheidendes übersehen und zwar, dass beide Konzepte einen grundunterschiedlichen ontologischen Status haben: face we have vs. politeness we do, darauf weist schon O’Driscoll 1996 hin. Face, so wird postuliert, ist ein inneres, ideelles (Wert)Konzept emischer Natur, das jeder Mensch aufgrund seiner Biographie internalisiert hat. Politeness hingegen ein symbolisch manifestes Verhaltens-Konzept, das im Angewiesensein auf Beurteilung von außen (nota bene durch Teilnehmer und Forscher gleichermaßen) damit etischer Natur zu sein scheint. Während politeness ‚materiell‘ produziert und demonstriert wird, ist face hingegen eine anthropologische Wesenheit. Um dieser beizukommen, braucht es eine wissenschaftliche Abstraktion „that can be used by scholars from all over the world to denote the same concept whatever their origin or specifics of their empirical application is.“ (O’Driscoll 2011, 23) Für face würde daher epistemologisch das umgekehrte Inkludierungsverhältnis gelten wie für politeness: der bisherige Begriff ist eigentlich ein face 2, unter dessen Deckmantel die einzelnen face 1n erst gesucht und definiert werden müssen, um sie dann auch entsprechend subsumieren zu können.

Diese ontologische Diskussion lässt sich noch weiter führen, denn wiewohl in der Realisation unklar, ist der Begriff des face aus der Analyse sozialer Interaktionen nämlich nicht wegdenkbar. Dass er zum normativen Referenzpunkt wird, auf den die Goffmanschen lines gerichtet sind, liegt an der einfachen Tatsache, dass face in jeder Art von Kommunikation, in jeder Art von sozialer Interaktion immer mit-vorhanden ist:

Face kann daher nicht verneint werden, es gibt kein Un-face, wie es z.B. Un-Höflichkeit oder Nicht-Höflichkeit gibt. Jede Interaktion ist daher automatisch face-inhärent, face-constituted und face-constituting, wie es in manchen paradigmatischen Positionen zurecht heißt (cf. Arundale 2006, 2009, Haugh 2009, 2012a). Die Frage nach Sein oder Nicht-Sein ist daher methodisch obsolet.

Demzufolge kann das face auch nicht verloren werden, wie es die teilweise schon in vielen Sprachen populären Wendungen to lose face vs. to save face etwa glauben machen. Face ist personen-inhärent, es ist immer da. Was zerstört, bestätigt bzw. behandelt u.ä. wird, sind der kulturell hinein-interpretierte Norm- bzw. Wertgehalt und die damit verbundenen Ansprüche bzw. Erwartungen der Handelnden. Nur um diese festzumachen, kommt Höflichkeit ins Spiel. Sie deckt aber als strategische Antwort auf die dichotomisch aufgeschlüsselten face-wants nur einen Teil dessen ab, was eigentlich in der Kommunikation normal ist: nämlich die Begegnung von faces zu realisieren, zu signalisieren, zu steuern, zu – ich verwende wiederum die Fachsprache – „relationieren“ (‚relating‘ cf. Arundale 2010), kurz: immer und überall facework zu ‚tun‘.

d) das konzeptuelle Argument

Mit dem Fokus auf Höflichkeit und seine sozial-ethischen Grundfesten ist dieses viel realitätskonformere Konzept des faceworks aus den Augen verloren worden und kehrt erst mit der Hinterfragung des face-Begriffs und dem Ringen um seine allgemeine Erklärungskraft wieder ins Blickfeld zurück. Watts stößt diese Diskussion schon früh an mit der Graduierung des Sozialverhaltens zwischen den Polen politeness („positively marked behaviour“) und impoliteness („negatively marked behaviour“) und dem dazwischen liegenden Bereich des üblichen situationsadäquaten politic behaviour. Das politeness-Paradigma macht vor allem wegen der kulturellen Differenzen im face-Konzept einen turn zur pragmatisch allgemeiner greifbaren im-politeness. Generell zeigt sich damit ein deutlicher Trend „for developing a larger framework that emcompasses both face and im/politeness“ (Haugh 2012b, 53): Ansätze wie die Rapport Management Theory (Spencer-Oatey 2000, 2007), das Relational Work (Locher 2008, Locher/ Watts 2005) und seine Weiterführung in die Interpersonal Pragmatics (Locher/Sage 2010, Haugh/Kadàr/Mills 2013) versuchen Abhilfe zu schaffen und überdecken so immer wieder die Tatsache, dass eigentlich mit facework die Lösung für die Linguistik schon parat zur Verfügung stand: Tracy hat recht, facework ist in jeglichem Sprachhandeln, also immer und überall „the verbal face of face“ (1990).

Auch ganz neue Modelle werden entworfen, wie z.B. die – schon mehrfach hier genannte –Face Constituting Theory (Arundale 1999, 2006, 2010), welche face-want-bezogene Interpretationen des Handelns ganz ablehnen und damit nicht in die Falle geraten, eine Entität und einen Prozess miteinander auszuspielen. Für sie existiert face als Entität an sich nicht, es ist immer eine relationale, wechselseitig projizierte Größe, die lediglich kommunikativ realisiert wird. Haugh drückt das so aus: „on the one hand, face can be conceptualized as „persons-in-relationship“ (…) on the other hand, face can be conceptualized as relationships-constituted-in-interaction by persons.“ (Haugh 2012b, 57) Er könnte damit sagen wollen, dass face eine soziale Kompetenz ist, die das Sich-In-Beziehung-Setzen in actu ‚performt‘ und sich darin gleichzeitig auch formt. Face könnte so gesehen nichts anderes als die gelebte, vercodete communicatio selbst sein. Das Neue an solchen Zugängen ist, dass sich communicatio – meist unbewusst und intuitiv – als Streben nach Verbindung (connection) einerseits oder nach Abgrenzung (separation) andererseits erweist. Nach Arundales alternativem face-Modell entpuppe sich face danach aus dem Prozess des relating (2010) und kann als eine statisch-dynamische Dialektik aus connectedness vs. separatedness gedeutet werden. Ungeachtet dieser metasprachlichen Überfrachtung (die übrigens in kaum eine Objektsprache entsprechend zu übersetzen sein wird) dürfte damit ein soziales Befinden gemeint sein, das je nach Situation den Wunsch nach Nähe oder Distanz zum Ausdruck bringt. Dieser ist allen sozialen Individuen gemein und kann damit wertfrei erklärt und behandelt werden.8

Gleichzeitig – und dies ist ein weiterer Vorteil paradigmatischer Öffnung – dürfte es sich nicht nur um soziale Befindlichkeit, sondern konkreter um Gefühle handeln, die in Interaktionen, vor allem in konfrontativen, ausgelöst und verhandelt werden. Mit face werden diese metaphorisch und ikonisch repräsentiert – man denke an den weltweit verwendeten piktogrammatischen Code der Emoticons aus der digitalen Kommunikation, der – auf der Basis von sich ständig weiter ausdifferenzierenden Gesichtsausdrücken – solche Gefühle per se ‚verkörpert‘. Ein derart manifestes facework ikonifiziert die aktuelle Emotion und hat so gleichsam ‚pro-phrastische‘ Funktion oder aber sie begleitet andere Sprachhandlungen, die damit illokutiv modalisiert werden.

Die Diskussion um face und facework führt damit von den Werten weg zu den Emotionen und rührt so an ein weites Feld, das von der Pragmatik noch viel zu wenig ausgeschöpft ist (cf. Fiehler 1990; Langlotz 2013). Als inhärente Eigenschaften von Subjekten (also faces!) sind Interaktionen immer auch emotionale Begegnungen – der Begriff der Emotionalität ist aber noch weniger konturenscharf, als der des face oder der Höflichkeit. Dies zeigt etwa ein jüngst in der Politikwissenschaft erschienener Titel „Emotional Diplomacy“ (Hall 2015), wo es im Rahmen von Goffmans face-Konzept um einen dem Geschichtsbild angemessenen Umgang von Staaten miteinander geht. Im Zusammenhang mit ‚Diplomatie‘ meint das Prädikat emotional hier nichts anderes als ein behutsames, respektvolles Handeln zur Vermeidung bilateraler Konflikte und politischem Schaden. Die untersuchten Strategien – schon das Titelbild zeigt eine asiatische Demutsgeste – lassen sich bedenkenlos als ‚Höflichkeit‘ ausmachen und zwar, in unserem Sinne, als kultur-spezifische politeness 1 und abstrakte politeness 2, nur dass es sich nicht um ein zu ehrendes individuelles, sondern um ein öffentliches (diskursiv vermitteltes) Gruppen-face handelt.9 Gleichzeitig zeigt die unbedachte Verwendung von Emotionalität auch, wie dringlich es wäre, sie von Emotivität zu unterscheiden: in der Sozialpsychologie wird darunter nämlich ein Handeln verstanden, „in which affective displays are produced consciously and used strategically in a wide variety of social situations to influence (…) perceptions and interpretations of conversational events“ (Janney/ Arndt 1992, 27) – die Nähe zur politeness liegt – wiederum – auf der Hand.

Die Diskussion aus terminologischer, ontologischer und konzeptioneller Sicht ließe sich noch lange weiterführen. Ich wollte hier lediglich einige Argumente andeuten, die anhand der (Un)gleichung von face und politeness für die Rückkehr zum Konzept des facework plädieren, zumal sich dadurch Aspekte auftun, die der pragmatischen Forschung weitere Wege weisen. Es sind dies:

 ein wertfreier Rückschluss auf die innere Wesenheit des face über die äußere Schiene der Symbolik;

 eine mögliche Überwindung der kommunikations-immanenten Grenzen des politeness-Paradigmas, die ich sehe in:

 der Bindung an dyadische Konstellationen, idealiter im face-to-face-Modus,

 der Zentrierung auf vorrangig mündliche Realisationen in alltäglicher Konversationspraxis;

 dem dominierenden Umgang mit Konflikt-Prophylaxe in Bemessung am strategischen cost-benefit-Modell;

 und einem nur über die Bedürfnisbefriedigung des Anderen projizierten Selbst-Verständnis.

Mit der Emanzipation aus dem politeness-Paradigma würde die Pragmalinguistik zwar das Terrain ‚verlässlicher‘ Phänomenologie verlassen, mit der man face sprachlich vermeintlich aufspüren und am ehesten systematisieren kann, es würden sich aber weitere und neue Forschungsbereiche auftun, die den diskursiven Bedingungen unserer post-modernen Gesellschaft eher gerecht werden. Mit der ihr von der Kulturphilosophie zugeordneten Bezeichnung als „faciale Gesellschaft“ (Löffler/Scholz 2004) scheint nämlich tatsächlich das face – in all seinen Lesarten – eine primordiale Rolle im gesamten öffentlichen Diskurs zu spielen. Fragen, die weit über die konfrontative Interaktion hinausgehen und die medial und technologisch sich immer weiter differenzierenden Kommunikationsformen betreffen, stellen sich mit Vehemenz ein und fordern die pragmatischen Konzepte von face sowie facework ziemlich heraus; aber auch politeness kommt nicht mehr so einfach davon, wenn man z.B. an (globale) Phänomene wie political correctness, free speech und Nettikette, oder deren Gegenteile wie shitstorms, Hass-Postings, trolling, u.ä. denkt. Angesichts dieser rasanten Ausweitung, Globalisierung und Ausdifferenzierung diskursiver Phänomene plädiere ich für mehr Anwendbarkeit der soziopragmatischen face-Konzeptionen auf die soziopolitische und mediale Kommunikation durch folgende Richtungsänderungen:

i) die eine ist der return zu Goffmans demonstrativer Konzeption von face als „verehrenswürdiger“ menschlicher Grundwert, der von Akteuren auf der öffentlichen Bühne gezeigt und für ein entsprechendes „eingeweihtes“ Publikum hin inszeniert wird. Indem Ausdrücke notwendig sind, um wirksame Eindrücke zu machen, kommt das impression management wieder ins forscherische Blickfeld zurück, das die Medienkommunikation heute in Form von Selbst-Marketing weitgehend beherrscht;

ii) die andere – damit zusammenhängend – ist die Loslösung des Selbst aus dem Blick des Anderen unter Hinwendung auf die in der heutigen Ego-Gesellschaft so vielfältigen Formen der Selbst-Darstellung, Selbst-Einschätzung und Selbst-Optimierung (cf. Held 2014). Ungeachtet der ‚alten‘ Prinzipien des ego-enhancement geht es – besonders in den Neuen Ich-Medien (facebook!) – um Erzeugung von Gemeinschaft und Zugehörigkeit (shared face) oder um die Markierung von Aus- und Abgrenzung von Gruppen und Kollektiven in der Ära multipler Rollen und ständig wechselnder Identitäten durch Migration, Tourismus, Globalisierung, Mediatisierung und Anonymisierung;

iii) eine weitere bisher von der Pragmatik noch nicht beschrittene Richtung ist die omnipräsente mediale Konstruktion der Personen durch Dritte – ich nenne dieses Mittel journalistische Personalisierung (cf. Held 2007) –, wo das jeweilige ‚Gesicht‘ mit unterschiedlichen politischen Zielen durch die verschiedenste Portraitierungsformen buchstäblich ‚gegeben‘ wird. Es entsteht die brennende Frage, ob man auch da von facework sprechen darf, indem Andere faces diskursiv formen und behandeln, d.h. damit ein face öffentlich auf- und ab-werten, es erschaffen oder zerstören, u.ä.;

iv) schließlich soll das Verhältnis von face und facework unter dem Blickwinkel der Verkodung bzw. des Kanals angesprochen werden, welcher bisher fast ausschließlich der Sprache überlassen blieb. ‚Gesichtsarbeit‘ wird jedoch auch durch und mit weiteren semiotischen modes und Darstellungstechniken vermittelt, wovon das Bild heute das aktuellste und technologisch differenzierteste ist. Ob anonym oder „personalisiert“, ob bekannt oder unbekannt, faces werden multimodal in allen Facetten und mit unbegrenzter technischer Stilisierbarkeit re-produziert, als piktogrammatischer Code ersetzt oder ergänzt. Visuelle Modes rufen Emotionen hervor; sie indizieren, demonstrieren und konstruieren faces in actu zwischen connection und separation und tun dies selbst wenn das eigentliche face in der Begegnung mit anderen faces nicht sichtbar – und damit auch nicht in Gefahr! – ist (nota bene die paradoxe Bezeichnung der Neuen Medien als „faceless media“ cf. Herring 2003);

v) und nicht zuletzt noch der Hinweis auf einen Bereich, der noch viel zu wenig ausgeschöpft ist, aber gerade für die inhaltliche Füllung und kulturspezifische Ausdeutung der Fach-Konzepte von methodologischer Relevanz ist: es ist die – vor allem in der historischen Pragmatik auf Grund des fehlenden Kommunikationserlebens (cf. Paternoster 2015) – bereits erfolgreich eingesetzte Metapragmatik. Hier geht es, wie oben angedeutet, zum einen um den Zugriff auf die Metasprache anhand von sozialsemantischen und metakommunikativen Untersuchungen (wie Laien-Kommentare zum Sprachhandeln), zum anderen um die Aufarbeitung des jeweiligen offiziellen Metadiskurses (wie der Benimm- und Erziehungsliteratur) sowie des meta-kognitiven Bewusstseins, welches sich in der „Aufmachung“ des eigenen Sozial-Verhaltens reflektiert und durch die Meta-Ebene hindurch extrahieren lässt (etwa wie kommt die italienische bella figura zum Ausdruck, cf. Held 2016a).

Mit dem Brückenschlag zwischen wörtlicher und metaphorischer Bedeutung des face-Begriffs plädiere ich konkludierend für die Öffnung der politeness-Paradigmen zu face-Paradigmen. Wiewohl in der hier geführten Diskussion keineswegs die Problematik des face als „multifaceted construct that takes on dimensions of identity issues, social cognitive issues, affective issues and communication issues“ (Ting-Toomey/Crocroft 1994, 307) entschärft werden konnte, so hat die Klärung seines ontologischen Status im Verhältnis zur politeness die Omnipräsenz dieser subjekt-inhärenten Wesenheit dennoch deutlich gemacht. Face ist demnach – im Sinne der Axiome Watzlawicks – in jeder Art von Kommunikation immer vorhanden, und zwar eben als das facework. „Facework involves the enactement of face strategies, verbal and non-verbal moves, self-presentation acts, and impression management interaction“ (Ting-Toomey 1994, 1). Ohne die strategische Seite zu sehr zu betonen, ist facework die Außenseite des face und analytisch gesehen eben sein empirischer Katalysator. Diese Art Öffnung des soziopragmatischen Blicks könnte den Ansprüchen einer sich ständig wandelnden Kommunikation zwischen Globalisierung und Ausdifferenzierung, zwischen Universalität und Kulturalität, zwischen Direktheit und Indirektheit kritischer gerecht werden und so auch die aktuelle Sprachrealität theoretisch und methodisch adäquater erfassen.

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