Loe raamatut: «Sprachtherapie mit Kindern», lehekülg 5

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3 Diagnostik

3.1 Diagnostikebenen nach der ICF-CY

Kinder mit Aussprachestörungen bedürfen einer fundierten Diagnostik, damit sie therapeutisch optimal versorgt werden können. Die ICF-CY (WHO 2007) bietet hierfür eine Grundlage, die nicht nur die Symptomatik des Kindes, sondern deren Auswirkungen unter Einbezug der Kontextfaktoren betrachtet. Daher lassen sich mit ihrer Hilfe individuelle Ziele für jedes Kind festlegen.

Körperfunktionen Eine ICF-CY-orientierte sprachtherapeutische Diagnostik bei mono- wie auch bilingualen Kindern mit Aussprachestörung müsste in Bezug auf die Körperfunktionen anhand von evidenzbasierten Verfahren und kulturell wie linguistisch adäquater Materialien durchgeführt werden (Abb. 6). Bei bilingualen Kindern soll dies idealerweise in allen Sprachen des Kindes geschehen. Hierbei sind Sprachtherapeuten zukünftig aufgefordert, durch enge Kooperationen mit anderen Professionen kontinuierlich ihr Fachwissen und ihre Fertigkeiten bezüglich der Lautsysteme unterschiedlicher Sprachen und Dialekte von Kindern zu erweitern und zu vertiefen (Neumann et al. 2016).


Abb. 6:Empfehlungen für die ICF-orientierte rachtherapeutische Diagnostik bei Kindern mit Aussprachestörung (Neumann et al. 2016)

Körperstrukturen Die sprachtherapeutische Diagnostik soll die Beurteilung der Körperstrukturen umfassen, die an der Aussprache (Artikulation, Atmung, Phonation, orofaziale Gegebenheiten) sowie an der auditiven Aufnahme und Verarbeitung und den Speicherungsebenen (für Wörter) beteiligt sind, um mögliche Ursachen zu erfassen. Sprachtherapeuten müssen auch in Betracht ziehen, dass mit den Kindern nicht unbedingt ein Gesundheitsscreening oder eine Diagnostik durchgeführt wurde, um Gründe für die Aussprachestörung zu erkennen.

Aktivitäten und Partizipation Hinsichtlich der sprachtherapeutischen Zielsetzung in Bezug auf Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe) wird empfohlen, dass mono- wie auch bilinguale Kinder mit Aussprachestörung und deren Eltern adäquat informiert werden, um ihnen die Möglichkeit zu geben, Therapieziele der sprachtherapeutischen Intervention zu priorisieren und mitzubestimmen. Dies soll mit dem Ziel erfolgen, dem betroffenen Kind eine höchstmögliche Teilhabe an kulturellen, sozialen, religiösen und (vor)schulischen Aktivitäten in seinem sprachlichen Umfeld zu ermöglichen. Sprachtherapeuten sollten demnach für das Kind kulturell relevante Beschäftigungen als Basis zur Planung des Diagnostik- und Interventionsprozesses nehmen, die den individuellen Bedürfnissen der Kinder entsprechen. Weiterhin müssen sie bei der Betreuung von bilingualen Kindern u. a. mit Familien, Kulturgemeinschaften und weiteren Berufsgruppen (z. B. Kulturhelfern) kooperieren, um ein Verständnis für die Rolle der mehrsprachigen Kinder in verschiedenen kulturellen Kontexten zu entwickeln (Neumann et al. 2016).

Umweltfaktoren Umweltfaktoren in Hinblick auf den Hintergrund des Lebensumfeldes der betroffenen Kinder mit Aussprachestörung können sich als Barrieren oder Förderfaktoren (ICF-CY, WHO 2007) für deren sprachliche Entwicklung bzw. Handlungsfähigkeit erweisen (Kracht 2006). Dies muss speziell bei Kindern mit mehrsprachigem und interkulturellen Lebensumfeld in Betracht gezogen werden. Die sprachtherapeutische Diagnostik muss daher das Ziel verfolgen, kommunikative Barrieren im Umfeld des (mehrsprachigen) Kindes mit Aussprachestörung zu erfassen, um eine verständliche Kommunikation in den unterschiedlichen Lebenswelten des betroffenen Kindes zu fördern. Es wird daher empfohlen, innerhalb der sprachtherapeutischen Diagnostik auch Informationen zum Sprachgebrauch, zu sprachlichen Fähigkeiten, zum Kontext, zu Kommunikationspartnern sowie Erwartungen des Kindes / der Sorgeberechtigten zu erfassen (Neumann et al. 2016).

Personenfaktoren In Hinblick auf den Einbezug der Personenfaktoren der ICF-CY in die Diagnostik bei Kindern mit Aussprachestörungen sollen Sprachtherapeuten den Kindern und ihren Familien die Möglichkeit geben, aus ihrem Leben zu berichten. Dies hilft, den Hintergrund, die Identität und weitere bedeutsame Faktoren des (mehrsprachigen) Kindes zu verstehen. Um relevante Personenfaktoren des Kindes (z. B. Copingstrategien, kulturelle Sozialisierungserfahrungen) nachvollziehen zu können, sollen sie zudem auf die Expertise der Familie und bei bilingualen Kindern der Kulturgemeinschaft und anderer Experten (z. B. Kulturmediatoren) zurückgreifen (Abb. 6). Dies kann auch erreicht werden, indem Sprachtherapeuten Zeit aufwenden, den Kindern und ihren Familien zuzuhören und sie zu verstehen. Auf diesem Weg könnten individuell bedeutsame personenbezogene Faktoren adäquat in die Diagnostik einfließen (Neumann et al. 2016).


Das Lautinventar (IPA) verschiedener Sprachen und wichtige Informationen für Sprachtherapeuten enthält die Webseite von McLeod, genannt Multilingual Children‘s Speech: Languages. http://www.csu.edu.au/research/multilingual-speech/languages, 15.05.17

3.2 Anamnese

Der Einstieg in den diagnostischen Prozess ist die Erhebung der subjektiven Beschwerden und der Anamnese des Klienten.

Unter der subjektiven Beschwerde versteht man die Darlegung des Anliegens, weswegen ein Klient einen Sprachtherapeuten aufsucht. Im Rahmen der Anamnese bei Kindern mit Verdacht auf Aussprachestörung werden insbesondere Informationen über die bisherige kindliche Entwicklung mit dem Schwerpunkt Sprache, die soziale Lebenssituation des Kindes und Risikofaktoren für Aussprachestörungen erhoben. Das Handbuch Anamnese in der Sprachtherapie (Korntheuer et al. 2014) bietet Sprachtherapeuten Anamnesebögen für mono- und bilinguale Kinder mit Sprachentwicklungsstörung inklusive ausführlicher Hintergrundinformationen zur Auswahl der darin behandelten Inhalte. Alle Anamnesebögen sind ICF-orientiert konzipiert worden.

3.3 Bilderbenennverfahren vs. Spontansprachanalyse

Bilderbenennverfahren werden in der Literatur als die gängigste Form von Untersuchungsverfahren für Kinder mit Verdacht auf Aussprachestörung beschrieben (McLeod / Baker 2014).

Bereits die erste Studie von Möhring (1938) zur Erhebung von Aussprache-Auffälligkeiten bei Kindern im ersten Schuljahr verwendete ein Bilderbenennverfahren. Kliniker sind davon überzeugt, dass es sich bei Bilderbenennverfahren um zuverlässige Untersuchungsinstrumente für die Feststellung einer Aussprachestörung handelt (Mostert 2007). Im Gegensatz dazu sind sich Fachleute der klinischen Phonetik bzw. Linguistik nicht einig darüber, ob mit Bilderbenennverfahren die kindliche Aussprache auf eine repräsentative Weise untersucht werden kann (Klein / Liu-Shea 2009) oder ob nicht besser die Spontansprache als Analysegrundlage dienen sollte (Wolk / Meisler 1998, Morrison / Shriberg 1992). Aufgrund der einfacheren Handhabbarkeit werden Bilderbenennverfahren allerdings heute in der Literatur als gültige, mit Ergebnissen aus der Spontansprache vergleichbare Untersuchungsinstrumente akzeptiert, wenn sie spezifische lexikalische und phonologische Kriterien erfüllen (Eisenberg / Hitchcock 2010, Fox-Boyer et al. 2017): Sie müssen alle Phone und Phoneme der zu untersuchenden Sprache in allen möglichen Wortpositionen überprüfen, ebenso wie die häufigsten wortinitialen und wortfinalen Konsonantenverbindungen. Mögliche Silbenstrukturen und Wortbetonungsmuster der Sprache müssen beachtet werden. Ein Verfahren, das diese Bedingungen für die deutsche Sprache erfüllen soll, besteht aus ca. 100 Stimuli.

Die Stimuli, mit deren Hilfe der Bilderbenennentest durchgeführt werden soll, müssen dem Wortschatz kleiner Kinder entsprechen. In der Regel werden zur Konzeption des Wortschatzes Elternfragebögen für Zweijährige der jeweiligen Sprache hinzugezogen. Das Bildmaterial sollte so ausgewählt werden, dass es visuell eindeutig ist. Es ist dabei unerheblich, ob es sich um Zeichnungen oder Fotografien handelt. Bilderbenennverfahren sollten normiert und möglichst auch standardisiert werden, d. h., sie sollten den Testgütekriterien der Objektivität, Reliabilität und Validität genügen.

3.4 Bilderbenennverfahren

Für die deutsche Sprache liegen eine Anzahl veröffentlichter Verfahren zur Überprüfung der phonologischen Prozesse des phonetisch-phonologischen Inventars vor (Tab. 4).

Als veraltet anzusehen sind diejenigen Verfahren, die aus segmentorientierter Sicht untersuchen, ob ein Phon in einer spezifischen Wortposition korrekt oder inkorrekt realisiert wird. Dabei wurde in der Regel nicht notiert, auf welche Weise ein Laut nicht korrekt realisiert wird. Jedes Phon oder Phonem wurde nur einmalig pro Wortposition überprüft. Zu diesen Verfahren zählen bspw. der Ravensburger Stammler-Prüfbogen (Frank / Grziwotz 1974), der Werscherberger Lautprüf-Bogen (Gey 1976) oder der SCHUBI-Artikulationstest (Willikonsky 2006).

Tab. 4: Übersicht über Diagnoseverfahren bei Aussprachestörungen


VerfahrenMethode, Item­Umfang Darstellung, NormierungAnalysen/Diagnose(n)
1. Segmentorientierte Verfahren – Beispiele (veraltetes Vorgehen)
Lauttreppe nach Möhring (Möhring 1938)• Nachsprechen• Liste mit 156 Wörtern• Phoneminventar• Stammeln, Dyslalie
Ravensburger Stammler-Prüfbogen (Frank/Grziwotz 1974)• Benennen• 40 farbige Zeichnungen auf einem DinA4-Blatt• Phoneminventar• Stammeln
LBT – Lautbildungstest (Fried 1980)• Benennen• 42 S/w-Bildkarten• teilnormiert• Phoneminventar• Stammeln, Dyslalie
SCHUBI Artikulationstest (Willikonsky 2006)• Benennen• 59 farbige Zeichnungen auf Karten• Phoneminventar• Stammeln, Dyslalie
2. Prozessorientierte Verfahren
• Benennen• 108 farbige Zeichnungen in DIN A4-Ringbuch• nicht normiert/standardisiert• phonetisches Inventar• phonemisches Inventar• Prozessanalyse• Silbenstruktur• Diagnose: Schweregrad der Aussprachestörung (leicht, mittel, schwer)
• Benennen• 113 S/w-Zeichnungen auf einem DIN A4-Blatt• nicht normiert/standardisiert• phonemisches Inventar• prozessanalyse• Silbenstruktur
• Benennen• 85 farbige Zeichnungen in DIN A4-Ringbuch• nicht normiert/standardisiert• phonemisches Inventar• prozessanalyse• Silbenstruktur• orofaziales Screening
• Benennen• 100 S/w-Zeichnungen in• DIN A4-Ringbuch• nicht normiert/standardisiert• phonemisches Inventar• Prozessanalyse
PLAKSS – Psycholinguistische Analyse kindlicher Aussprachestörungen-II (Fox 2014)• Benennen• 99 farbige Zeichnungen in DIN A4-Ringbuch• normiert/teilstandardisiert• zusätzlich: Inkonsequenztest• phonetisches Inventar• phonemisches Inventar• Prozessanalyse Diagnose(n):1. verzögerte phonologische Entwicklung2. konsequente phonologische Störung3. inkonsequente phonologische Störung4. Artikulationsstörung

Bilderbenennverfahren, die einen phonologisch-orientierten Ansatz der Überprüfung der Aussprache verfolgen, wurden mit Beginn der 1990er Jahre in Deutschland veröffentlicht. Diese Verfahren wurden oft mehrfach überarbeitet. Nur eines dieser Verfahren wurde normiert (PLAKSS-I, Fox 2002 bzw. PLAKSS-II Fox-Boyer 2014a).

3.5 Überprüfung der Inkonsequenzrate

Die Überprüfung der Inkonsequenzrate dient zur differenzialdiagnostischen Trennung von konsequenter und inkonsequenter phonologischer Störung. Hierbei wird ein Kind gebeten, innerhalb einer Sitzung die gleichen 25 bis 30 Wörter dreimal zu benennen. Ein Inkonsequenztest sollte so konstruiert sein, dass er sowohl ein-, zwei-, drei- und wenn möglich viersilbige mono-morphematisch Wörter in ähnlicher Anzahl beinhaltet. Auch sollten die Wörter unterschiedlicher phonologischer Komplexität sein. Dodd (1995) veröffentlichte den ersten Inkonsequenztest für das Englische. Für die deutsche Sprache liegt ein Inkonsequenztest von Fox-Boyer (PLAKSS-II, Fox-Boyer 2014a) vor. Bei Kindern mit einem unzureichend großen expressiven Wortschatz kann die Inkonsequenzrate mithilfe eines individuell gestalteten Prüfmaterials stattfinden, um eine standardisierte Überprüfung der Inkonsequenz durchzuführen. In diesem Fall werden die Eltern des Kindes gebeten, ein Wortschatztagebuch zu erstellen. Auf der Basis dieses Wortschatztagebuchs erstellt der Therapeut einen für das Kind angepassten Inkonsequenztest und bittet das Kind, diese Wörter innerhalb einer Therapiesitzung mehrfach (mindestens dreimal) zu benennen. Beide Vorgehen sollten innerhalb einer Therapiesitzung durchgeführt werden, damit die Tagesperformance des Kindes das Ergebnis nicht beeinflusst.

3.6 Überprüfung der Verständlichkeit

Die Sprechverständlichkeit stellt einen der einflussreichsten Faktoren in Bezug auf die Beeinträchtigung der kommunikativen Partizipation von Kindern in den unterschiedlichsten Lebensumfeldern dar (McLeod 2015). Zudem konnten Hellström und Lundberg (2014) zeigen, dass die Einstellung der Kinder zu ihrem eigenen Sprechen mit ihrer Verständlichkeit korreliert.

Die Überprüfung der Verständlichkeit ist international eine verbreitete Methode in der sprachtherapeutischen Diagnostik. Dabei variieren die Ansätze jedoch in ihrer Komplexität und Länge von Ein-Wort-Überprüfungen zu Einschätzungen zusammenhängender Rede und Rating-Skalen unterschiedlicher Art (Flipsen 2006). Miller (2013) empfiehlt für die sprachtherapeutische Praxis eine Kombination aus quantitativen Messungen (z. B. Errechnung der korrekt produzierten Konsonanten / PCC) und eher realistische Einschätzungen in verschiedenen Lebenssituationen der Kinder. Gerade validierte ICF-CY- orientierte Verfahren zur Einschätzung der Verständlichkeit von Kindern in sozialen Kontexten sind notwendig, um auch im Hinblick auf eine Evaluation der Therapieeffektivität Ergebnisse quantifizieren zu können.

Skala zur Verständlichkeit im Kontext Hierzu stellt die Skala zur Verständlichkeit im Kontext (Intelligibility in Context Scale / ICS) ein erstes Verfahren im Deutschen bereit (McLeod et al. 2012). Die ICS-G ist ein kostenfrei herunterzuladendes Screening-Instrument, das Eltern die Möglichkeit gibt, die Sprechverständlichkeit ihres Kindes in Bezug auf sieben verschiedene Kommunikationspartner (z. B. Freunde, Lehrer, unbekannte Personen) einzuschätzen. Die Verständlichkeit wird mithilfe einer Fünf-Punkte-Skala durch die Eltern bewertet. Der Gesamtpunktwert kann von minimal sieben bis maximal 35 Punkte reichen. Es wird daraus ein Durchschnittswert errechnet, der maximal den Punktwert fünf abbildet. Je höher dieser Wert, desto verständlicher wird das Kind eingeschätzt.

Die ICS wurde in mittlerweile 63 Sprachen übersetzt und in verschiedenen Sprachen auch im Hinblick auf Validität und Reliabilität überprüft (McLeod 2015). Für die deutsche Version belegen Neumann et al. (in Vorbereitung) erste psychometrische Daten. Unter dem folgenden Link ist die ICS in jeglicher Sprachversion kostenfrei erhältlich: http://www.csu.edu.au/research/multilingual-speech/ics, 15.05.17. Dies macht auch ihren Einsatz in anderen Sprachen (z. B. Arabisch, Polnisch) für die Sprachtherapie möglich und hilft bei der Einschätzung der Verständlichkeit von Kindern in deren Muttersprache.

3.7 Überprüfung der phonologischen Bewusstheit

Kinder mit einer konsequenten oder inkonsequenten phonologischen Störung tragen ein großes Risiko, eine Lese-Rechtschreib-Störung zu entwickeln (Schnitzler 2015). Dies liegt darin begründet, dass das zugrunde liegende Defizit insbesondere der konsequenten phonologischen Störung auf der gleichen Sprachverarbeitungsebene liegt wie ein häufiges Defizit der Lese-Rechtschreibstörung: der Ebene des phonologischen Erkennens.

Lese-Rechtschreibstörung Daher empfiehlt es sich gerade bei Kindern mit konsequenter phonologischer Störung, vor Schuleintritt die phonologische Bewusstheit zu überprüfen. Für die deutsche Sprache liegt ein standardisiertes Diagnostikum für die Altersspanne 4;0 Jahre bis Ende erste Klasse vor, das die verschiedenen Ebenen des Sprachverarbeitungsprozesses einzuschätzen vermag (TPB, Fricke / Schäfer 2011). Einzelne Anteile der phonologischen Bewusstheit können auch mit dem TEPHOBE (= Test zur Erfassung der phonologischen Bewusstheit und der Benennungsgeschwindigkeit, Mayer 2014) bei Kindern im Alter von fünf Jahren bis Ende der zweiten Klasse überprüft werden.

3.8 Überprüfung der orofazialen Bedingungen und Fähigkeiten

Liegt bei einem Kind ein Sigmatismus oder Schetismus lateralis oder eine multiple Interdentalität vor, empfiehlt sich eine Überprüfung seiner orofazialen Bedingungen und Fähigkeiten, da eine kausale Beziehung zwischen einer orofazialen Einschränkungen und dieser Art der Aussprachestörung möglich ist. Zur Überprüfung der orofazialen Bedingungen und Fähigkeiten bieten sich die Materialien von Kittel (2014) oder Giel / Tilmanns-Karus (2004) an. Des Weiteren können myofunktionelle Störungen auch bei Kindern vorliegen, die keine oder eine phonologische Ausspracheproblematik aufweisen. Im letzteren Fall ist die Überprüfung der orofazialen Situation nicht therapierelevant für die Aussprachestörung und kann daher auch nachgeordnet erfolgen, da hier dann von einer parallel existierenden Symptomatik, aber nicht von einer bedingenden Kausalität auszugehen ist.

3.9 Diagnostik bei bilingualen Kindern

Generell ist das Wissen um die phonetisch-phonologische Entwicklung von mehrsprachigen Kindern mit der Zweitsprache Deutsch noch sehr gering und nur auf Studien mit kleiner Stichprobe begrenzt (Fox-Boyer / Salgert 2014). Dies erschwert die Differenzialdiagnostik der Aussprache der Kinder in hohem Maße, da keine Normwerte vorliegen und publizierte Diagnostikmaterialien kaum Erwerbsbiografien berücksichtigen (Kannengieser 2015). Daher zeigen sich Probleme in der sprachtherapeutischen Betreuung (inter)national sowohl in der Über- als auch in der Unterversorgung der Kinder. Viele Kinder werden aufgrund ihres eingeschränkten Wissens in der deutschen Sprache zur Therapie überwiesen. Dieser Umstand wird als mistaken identity (overdiagnosis) bezeichnet (Paradis 2005). Paradoxerweise ist andererseits genau das Gegenteil der Fall, wenn mehrsprachige Kinder mit Spracherwerbsstörungen keine Therapie verschrieben bekommen, da von einem reinen Zweitsprachproblem ausgegangen wird: missed identity (underdiagnosis) (MacSwan / Rolstad 2006). Fox-Boyer / Salgert (2014) gehen von einer Unterversorgung der mehrsprachigen Kinder mit Aussprachestörung aus.

Bisher liegen für den Bereich der Ausspracheüberprüfung deutsch-bilingualer Kinder in Deutschland drei veröffentlichte Diagnostikmaterialien für Türkisch-Deutsch vor: das Wiener Lautprüfverfahren für Türkisch sprechende Kinder (Wielau-T, Lammer / Kalmár 2004), der Türkisch-Artikulations-Test (TAT, Naş 2010) sowie das Screening der Erstsprachfähigkeit bei Migrantenkindern Türkisch-Deutsch (SCREEMIK 2, Wagner 2008), worin auch eine Version für Russisch-Deutsch enthalten ist. Der Türkische Phonologietest für türkisch-deutsch bilinguale Kinder (TPT) befindet sich noch in Vorbereitung bzw. Evaluation (Albrecht, in Vorbereitung).

Test für türkisch-deutsche Kinder (TPT) Nur der TPT erfüllt die aktuellen internationalen Richtlinien für die Konzeption eines Aussprachetests. Ebenfalls liegen nur für den TPT erste Normierungen vor (Albrecht et al., in Vorbereitung). Die anderen Materialien können nur zur Orientierung, nicht aber zur Erstellung einer sprachtherapeutischen Diagnose dienen.

Daher bleibt eine eindeutige Diagnose für türkisch-deutsch bilinguale Kinder schwierig. Es ist Sprachtherapeuten momentan kaum möglich, eine auffällige phonetisch-phonologische Entwicklung bei mehrsprachigen Kindern von einer unauffälligen zu unterscheiden (Neumann et al. 2016). Es wird deutlich, dass spezifische Herausforderungen in der Diagnostik und Therapie von Aussprachestörungen bei mehrsprachigen Kindern vorherrschen. Zu diesen gehören explizit das mangelnde Wissen über den typischen Phonologieerwerb bei mehrsprachigen Kindern und über die Interferenz der phonologischen Systeme der Erst- und Zweitsprache (Kannengieser 2015). Als problematisch kann auch die unzureichende Berücksichtigung der individuellen Spracherwerbsbiografien (simultan-bilingual vs. sukzessiv-bilingual) in den erhältlichen Erhebungsverfahren gesehen werden sowie die unzureichende spezifische Qualifikation der Sprachtherapeuten in der Praxis (Fox-Boyer / Salgert 2014).

3.10 Diagnostisches Vorgehen bei verbaler Entwicklungsdyspraxie

Bis 2017 ist es nicht gelungen, einen Kriterienkatalog zusammenzustellen, der es möglich macht, die verbale Entwicklungsdyspraxie eindeutig zu diagnostizieren. Dies hat u. a. damit zu tun, dass noch keine spezifischen klinischen Marker für die verbale Entwicklungsdyspraxie erstellt wurden. Verschiedene internationale Publikationen stellen jedoch folgende zusätzliche zu den bisher genannten Kriterien für die Untersuchung auf (Schulte-Mäter / Ziegler 2009, Lauer / Birner-Janusch 2007, ASHA 2007):

■ Untersuchung der oro-motorischen Funktionen inklusive der Diadochokinese,

■ Untersuchung der Prosodie im Hinblick auf Wortbetonungsmuster und Intonation sowie

■ Untersuchung allgemeiner Sprachkompetenzen.


Korntheuer, P., Gumpert, M., Vogt, S. (2014): Anamnese in der Sprachtherapie. Ernst Reinhardt, München / Basel

Zusammenfassung

Auf der Basis einer ICF-orientierten Anamnese sollten Hypothesen über die vorliegende Problematik aufgestellt werden. Aus diesen Hypothesen lassen sich die diagnostischen Schritte ableiten. Das zentrale Untersuchungsinstrument, das in jedem Fall angewendet werden sollte, ist eine direkte Untersuchung der Aussprache. In der Regel wird hierfür ein Bilderbenennverfahren durchgeführt. Nicht alle Verfahren, die deutschsprachigen Sprachtherapeuten zur Verfügung stehen, berücksichtigen allerdings alle Kriterien, die laut Literatur berücksichtigt werden sollten, damit eine verlässliche Diagnose erstellt werden kann. Die routinemäßig verwendeten Verfahren sind daher von ihren Anwendern kritisch zu betrachten.

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