Loe raamatut: «Wörterbuch der Soziologie», lehekülg 23

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1. Das offene Kodieren in Form einer extensiven sequentiellen Analyse (Wort für Wort oder Zeile für Zeile) dient der Erstellung erster theoretischer Konzepte, z. B. »Ablehnung des früheren Lebensstils« bei einer Studie über Krebskranke (Corbin 2010). 2. Das axiale Kodieren ist auf Kategorien (abstraktere Konzepte) und Verknüpfungen zwischen ihnen ausgerichtet. Das Kodierparadigma, wonach Prozesse nach Bedingungen, Handlungsstrategien und Konsequenzen zu kodieren sind, bietet hier eine Hilfestellung. 3. Beim selektiven Kodieren wird systematisch nach einer Schlüsselkategorie kodiert, die die Analyse herausgearbeitet hat, so dass sich viele Einzelbefunde allmählich zu einem Ergebnis verdichten.

Wichtige Forschungsstrategien bestehen in diesem Prozess darin, Fragen an das Material zu stellen und Vergleiche vorzunehmen, um über den Einzelfall hinaus zu abstrakteren Kategorien zu gelangen. Im obigen Beispiel könnte der Forscher z. B. gezielt nach dem Fall eines Krebskranken suchen, der seinen früheren Lebensstil nicht ablehnt, sondern anders (wie?) mit der Krankheit umgeht und im Vergleich die Gründe dafür analysieren. Formal dient dabei das Erstellen von Memos dazu, den Prozess der Theoriegenerierung zu fördern, zu dokumentieren und zu reflektieren. Am Ende steht die Formulierung theoretischer Erklärungszusammenhänge, z. B. verschiedene Typen des Umgangs mit schweren Krankheiten mitsamt entsprechenden Bedingungskonstellationen ihres Vorkommens (Aussagen über Häufigkeitsverteilungen streben qualitative Methoden demgegenüber nicht an). Einen Abschluss findet die Datenerhebung bei theoretischer Sättigung, wenn weitere Daten also keine neuen Konzepte mehr hervorbringen.

Stärken und Schwächen

Eine Stärke des Ansatzes besteht darin, im Idealfall komplexe Phänomene beschreiben und erklären zu[158] können, dabei auch im Gegensatz z. B. zu einer Inhaltsanalyse nicht nur zu klassifizieren, sondern Sinnstrukturen in ihrem Kontext zu rekonstruieren. An Grenzen stößt die Methode dadurch, dass sie hohe Ansprüche an den Forscher stellt, insofern die kreative Theorieentwicklung nur schwierig als Technik erlernbar ist. Dieses Problem wird auch durch Kodierungen unterstützende Software (z. B. AT-LAS/ti oder MAXQda) nicht gelöst.

Literatur

Im Überblick: Corbin, Juliet, 2010: Grounded Theory; in: Bohnsack, Ralf et al. (Hg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung, 3. Aufl., Opladen, 70–74. – ausführlicher mit Beispiel: Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika, 2010: Qualitative Sozialforschung, 3. Aufl., München, Kap. 5.1. – Strauss, Anselm; Corbin, Juliet, 1996: Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung, Weinheim.

Nicole Burzan

Gruppe

Wir alle leben normalerweise von Geburt an in Gruppen (engl. group). Gruppen prägen unser Verhalten in fast allen Lebensbereichen. Selbst wenn keine anderen Personen anwesend sind, überlegen wir uns nicht selten, was andere über uns denken und wie wir auf andere wirken. Der homo sapiens ist ein Gruppenmensch. Die Gruppen helfen uns beim Überleben der Art, und wir sind damit sehr erfolgreich. Historisch gesehen wird die Gruppe von den vier Schwesterdisziplinen der Sozialpsychologie (Witte 1994) beforscht: a) Die Anthropologie mit der kulturellen Position erforscht die Unterscheidung in »in-group« und »out-group« als Grundlage des Ethnozentrismus, ihre biologische Ausrichtung konzentriert sich auf die genetische Ausstattung des homo sapiens als Gruppenmensch (Witte 2006); b) die Soziologie, die schon früh natürliche Kleingruppen wie Ehe, Familie, Arbeitsgruppe, und »Gang« thematisiert hat; c) die Psychologie, die insbesondere die Auswirkungen des Gruppenkontextes auf Massen, Konformität und Leistung betrachtet hat; sowie d) die Sozialarbeit als angewandte Sozialpsychologie, die sich mit Teamentwicklung, Gruppenmoderation und Gruppentherapie beschäftigt (s. zusammenfassend theoretische Ansätze bei Witte/ Davis 1996).

Wir gehen von folgenden äußeren Merkmalen aus:

1 Gruppen bestehen aus mehreren Personen. Die untere Anzahl ist drei, obwohl auch Dyaden gewisse Eigenschaften von Gruppen besitzen, nämlich die Berücksichtigung einer Außenperspektive und die damit verbundene Anpassung. Bei Dyaden fehlt die Möglichkeit einer Koalitionsbildung, um den Anpassungsdruck auf eine Minderheit zu erhöhen. Die obere Anzahl einer (kleinen) Gruppe zu bestimmen ist ebenfalls nicht einfach. Je länger die Personen sich in diesem Gruppenkontext befinden, desto größer kann die Zahl sein, damit jeder mit jedem kommunizieren kann. So können Schulklassen von 20 bis 30 Schülern noch immer den Charakter einer Gruppe haben, weil sie über so lange Zeit gemeinsam im Unterricht interagieren. Dass solche Gruppen auch in Untergruppen nach Sympathie und Kommunikationshäufigkeit zerfallen, ist an dieser Stelle nicht relevant. Faktisch gibt es aber die Selbst- und Fremdzuschreibung dieser Gruppe als über-individuelle Einheit. Die obere Grenze ergibt sich dadurch, dass man die Mitglieder nicht mehr als Personen wahrnimmt und keinen individuellen Kontakt mehr herstellen kann. Üblicherweise aber sind Gruppen sehr viel kleiner. Sie umfassen nicht mehr als die magische Zahl 7 plus oder minus 2. Die genaue Zahl ist auch nicht von besonderer Bedeutung, weil es um die psychologischen Prozesse geht, die durch die Anwesenheit anderer Personen ausgelöst werden. Das wesentliche Merkmal in der Gruppensituation ist also die Beeinflussung der eigenen Handlung durch die Bewertung anderer Personen, die direkt oder indirekt auf meine Handlung reagieren können, weil wir in Interaktion stehen, aber nicht unbedingt in einer Face-to-face Interaktion.

2 Diese Interaktion in der Gruppe ist zielorientiert. Dieses Ziel kann mehr oder weniger präzise, es kann von außen gesetzt sein oder von der Gruppe selber festgelegt werden. Die Interaktionen werden also gesteuert. Damit gibt es fast immer zwei Aufgaben zu bewältigen: zum einen die intendierte Zielverfolgung und zum anderen die Steuerung der Interaktion in der Gruppe, Letzteres häufig als verborgene Aufgabe.In Gruppen gibt es Strukturen, nach denen die Interaktionen ablaufen und die die individuelle Einflussstärke auf das Endergebnis der Gruppe festlegen. Die einzelnen Mitglieder einer Gruppe[159] können also nach dem Ausmaß ihrer Beiträge und dem Gewicht bei der gemeinsamen Entscheidung differenziert werden. Hier spielt natürlich der Status in einer Organisation keine unwesentliche Rolle, der diese Personen mit Ressourcen (Belohnungsmöglichkeiten) ausstattet, über die andere Personen nicht verfügen. Aber auch die Persönlichkeit ist nicht unwichtig. Die Vielredner sind sozial weniger ängstlich und haben ein höheres Selbstvertrauen. Schaut man sich die Unterschiede in den durchschnittlichen Redebeiträgen z. B. in Fünf-Personen-Gruppen an, so kommen auf den ersten Vielredner 69 % der Beiträge und auf den Zweiten nur mehr 22 % in freien Diskussionen, wenn man ein recht gut bestätigtes Gesetz heranzieht. Man würde jetzt weiterhin naiverweise annehmen, dass zumindest eine längere Erfahrung in der Gruppe bei ähnlichen Aufgaben die Identifikation der individuellen Fähigkeiten bei der Lösung von Problemen verbessert. Leider finden sich in diesem Zusammenhang sogar Ergebnisse, die zeigen, dass sich die Identifikation leistungsfähiger Mitglieder der Gruppe mit der Gruppenerfahrung verschlechtert hat. Es bestehen also erhebliche Diskrepanzen zwischen den subjektiven Eindrücken und den realen Verhältnissen, wie sie sich im Ausmaß der Einflussstärke widerspiegeln.

3 Ferner gibt es in Gruppen Bindungskräfte, die zu einer gewissen Abhängigkeit der einzelnen Mitglieder von der Gesamtgruppe führen. Die Abhängigkeit ist keine reine instrumentelle Abhängigkeit, weil die Gruppe eine Unterstützung zur Erreichung eigener Ziele darstellt, sondern auch eine emotionale, weil man die Gruppenmitglieder mag und selber gemocht werden möchte. Diese Bindung an die Gruppe ist unterschiedlich intensiv, von der emotionalen Bindung an die Familie bis zur Bindung an eine kurzfristige Projektgruppe. Im ersten Fall handelt es sich um natürliche Primärgruppen, die ein Leben lang Bestand haben, und im zweiten Fall sind es kurzfristige funktionale Gruppen zur Erledigung einer Aufgabe. Im ersten Fall macht es Sinn, die Gruppe als Einheit zu betrachten, weil die Abhängigkeiten so stark sind, dass man kaum unabhängig von den anderen Familienmitgliedern wichtige Entscheidungen treffen kann. Demgegenüber wird in Projektgruppen auf das individuelle Verhalten Bezug genommen. Die anderen Gruppenmitglieder sind für das Individuum nur eine von mehreren möglichen relevanten Umwelten. Im Fokus stehen aber das individuelle Vorgehen und das zwar gemeinsame, aber zeitlich begrenzte Projekt.

4 Das Verhalten von Gruppen und in Gruppen wird durch die Mitglieder selber bewertet, aber auch durch unabhängige Beurteiler, die die Leistung einer Gruppe einschätzen sollen. Eine solche Bewertung hat Konsequenzen. Zum einen kann man sich als Gruppenmitglied fragen, ob man weiterhin in dieser Gruppe bleiben soll, zum anderen können externe Beurteiler sich fragen, ob man an der Gruppe etwas ändern muss, um eine bessere Zielerreichung zu ermöglichen. Wichtig ist dabei, dass die Beurteilungskriterien häufig nicht übereinstimmen, wenn man diese zwei Qualitätsmaßstäbe vergleicht. Die internen Kriterien beziehen sich fast ausschließlich auf die Abläufe und kaum auf die Handlungsergebnisse. Vielfach kann man sie auch gar nicht einschätzen, weil man keine Vergleichsmaßstäbe hat. Demgegenüber kann ein externer Beurteiler zwischen Gruppen vergleichen und vor allem die erbrachten Ergebnisse zur Bewertung heranziehen und nicht nur die internen Verläufe. Diese Bewertungsgrundlagen sind einmal intern für die Mitglieder handlungsleitend, weil man diesen Kriterien, die Erwartungen an das eigene Handeln darstellen, genügen möchte. Die externen Kriterien sind nicht direkt handlungsrelevant, sie werden erst nachträglich bei der Beurteilung des Ergebnisses herangezogen. Daran wird dann auch schon deutlich, dass es hier erhebliche Widersprüche geben kann. Auf jeden Fall ist zu beachten, dass das Verhalten in Gruppen einem kontinuierlichen Bewertungsprozess ausgesetzt ist, der aber nach unterschiedlichen Kriterien vorgenommen wird bzw. werden muss, je nach Innen- oder Außenperspektive. Das Gruppenmitglied kann nur den Gruppenprozess selber heranziehen, jedoch ist dem unabhängigen Beobachter die Möglichkeit gegeben, das Ergebnis mit anderen Gruppen oder mit einem theoretischen Konstrukt zu vergleichen. Er kann also externe Bezugspunkte wählen, um eine Bewertung vorzunehmen. Dann kann das als qualitativ hochwertig angesehene Ergebnis aus der Sicht der Teilnehmer wegen des positiv bewerteten Gruppenverlaufes für die Beurteilung eines externen Beurteilers minderwertig sein oder fehlerhaft, weil jetzt andere Kriterien[160] herangezogen werden. Die beiden Grundlagen zur Beurteilung einer Gruppenleistung können erheblich divergieren. Man kann sich also nicht auf die interne Beurteilungsgrundlage bei der Bewertung eines Leistungskriteriums verlassen.

Die unterschiedlichen Begriffsbildungen lassen sich auf zwei typische Formen reduzieren, wobei die eine in der soziologischen Tradition steht und Verbindungen zur Kultur-Anthropologie aufweist und die andere in der psychologischen mit Verknüpfungen zur Sozialarbeit als Veränderung des Einzelnen in der Gruppe. Die soziologische Perspektive einer Explikation von Gruppe lässt sich gut in der Darstellung von Neidhardt erkennen: »Gruppe ist ein soziales System, dessen Sinnzusammenhang durch unmittelbare und diffuse Mitgliederbeziehungen sowie durch relative Dauerhaftigkeit bestimmt ist.« (1979, 642). Mit dem Begriff »Sinnzusammenhang« ist die symbolische Abgrenzung der Gruppe nach außen gemeint, wie gemeinsame Bezeichnungen, gemeinsame Ziele etc. Durch die Charakterisierung »unmittelbar« wird auf die Face-to-face-Kommunikation hingewiesen, und »diffus« bedeutet, dass die Mitglieder Beziehungen auf sehr verschiedenen Ebenen gleichzeitig haben, z. B. über gemeinsame Interessen, emotionale Bindungen, Zielsetzungen. Inhaltlich ist eine solche Explikation deutlich auf natürliche Kleingruppen wie Ehe, Familie, Arbeitsgruppe etc. abgestellt.

Wenn ich dieser soziologischen Variante meine eigene psychologische Explikation gegenüberstelle, so wird die andere Extremposition aus psychologischer Sicht deutlich: »Gruppensituation = df eine Situation, in der man als Einzelperson veranlasst wird, das eigene Urteil (Reaktion) in Beziehung zu anderen Urteilen (Reaktionen) zu setzen.« (Witte 1979, 125). Hier kommt die Gruppe nur als Umgebungsvariable vor, die Einfluss auf das individuelle Handeln nimmt.

Wichtig ist, diese Extrempositionen – Gruppe als Mikrosystem und Gruppe als Umgebung für ein Individualsystem – herauszuarbeiten und sie nicht in Form einer vermittelnden Explikation klassischer Art zu verschleiern : Eine klassische Explikation der Kleingruppe lautet (Shaw 1971, 10): »A group is defined as two or more persons who are interacting with one another in such a manner that each person influences and is influenced by each other person.«

Grundsätzlich handelt es sich um zwei verschiedene Ebenen mit unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten, wie sie z. B. an dem Begriff der Gruppenkohäsion erläutert werden können: Man kann diese über das durchschnittliche, gegenseitige »Mögen« der einzelnen Gruppenmitglieder operationalisieren (Psychologie) oder über das »Mögen der Gruppe« als Einheit aus der Sicht der einzelnen Gruppenmitglieder (Soziologie). Ebenfalls hat sich schon frühzeitig die Frage gestellt, womit man den Leistungsgewinn von Gruppen gegenüber Einzelpersonen vergleichen soll. Ist es zulässig die Lösewahrscheinlichkeit von N-Personen-Gruppen mit Einzelpersonen zu vergleichen?

Wenn man die Qualität von Gruppenleistungen mit der von Einzelpersonen vergleicht, dann muss man triviale Effekte der Anzahl ausschalten. So kann man einfache Effekte der Mitteilung einer richtigen Lösung an andere Personen kaum als Gruppenleistung ansehen.

Man kann diesen Mitteilungseffekt als Beurteilungsgrundlage für die Leistungsgüte von Gruppen heranziehen, wobei man erwarten würde, dass Gruppen letztlich besser sind, als durch solche einfachen Mitteilungen der Wahrheit zu erwarten wäre. Man hat dann die psychologische Definition von Gruppe als Ausgangspunkt gewählt.

Um solche Effekte der einfachen Mitteilung in Abhängigkeit der Gruppengröße erfassen zu können, hat man ein Modell entwickelt. Die Annahmen sind Folgende: 1. Die einzelnen Mitglieder suchen unabhängig voneinander; 2. Wenn ein Mitglied die richtige Lösung weiß, dann teilt es diese den anderen mit, und diese akzeptieren sie. Formal gilt dann Folgendes:


Pi :durchschnittliche individuelle Lösungswahrscheinlichkeit
1-Pi :durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, dass ein Gruppenmitglied die Aufgabe nicht löst.
PN :Wahrscheinlichkeit, dass die Gruppe aus N Mitgliedern die Aufgabe löst.
PN =1-(1-Pi)N

Die Lösungswahrscheinlichkeit von 1 wird um genau die Wahrscheinlichkeit reduziert, die sich ergibt, wenn alle Gruppenmitglieder die Aufgabe nicht lösen. Wenn eine Person die richtige Lösung kennt, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit 1, dass die Aufgabe gelöst wird.

Dieses Modell unterstellt sehr einfache Prozesse in einem System von N Personen: Es gibt Mitteilungen über richtiges Wissen und Akzeptierung dieses[161] Wissens in dem Mikrosystem Kleingruppe. Betrachtet man jetzt ein Beispiel:

Man nehme an, dass die individuelle Lösungswahrscheinlichkeit 0.50 beträgt (reiner Zufall) und man 4-Personen-Gruppen zusammengestellt hat, um die komplexe Aufgabe zu bearbeiten. Die beobachtete Wahrscheinlichkeit der Gruppenlösung beträgt 0.80. Ist dieser Zuwachs größer als ein einfacher Mitteilungseffekt? Die individuellen Lösungswahrscheinlichkeiten liegen bei: 0.60, 0.60, 0.40, 0.40.

Daraus ergibt sich:

PN = 1-(1–0.50)4 = 0.94.

Bei einem einfachen Mitteilungseffekt sollte die Lösungswahrscheinlichkeit einer 4-Personen-Gruppe bei 0.94 liegen.

Dieser einfache Mechanismus der Mitteilung der richtigen Lösung führt bereits zu einer erheblich höheren Lösungswahrscheinlichkeit der Gruppe, als mit 0.80 beobachtet wurde. Letztere Wahrscheinlichkeit wiederum ist erheblich besser als die Lösungswahrscheinlichkeit des besten Individuums von 0.60.

Ob man diesen Zuwachs als einen »assembly bonus effect« (Gruppengewinn) bezeichnen kann, bleibt sehr umstritten (Larson 2010). Generell ist der Vergleich von Einzelpersonen mit Gruppen unzulässig, weil eine simple Mitteilung an andere noch keine Gruppenleistung darstellt, höchstens einen Effekt der Wissensverbreitung, aber keinen Effekt der Wissensschöpfung. Man müsste also nicht einmal reale Gruppen zusammenstellen, um diesen Effekt zu erzielen. Dieser ist also nicht an eine Gruppe mit ihren spezifischen Charakteristika der gemeinsamen Zielsetzung, interner Strukturierung nach Rollen, Normen der Interaktion, gewisse Kohäsion etc. gebunden. Das Ergebnis hängt nur von der Anzahl der Personen ab, die diese Mitteilung bekommen. Trotzdem liegt die theoretische Lösungswahrscheinlichkeit noch weit höher, als bei realen Gruppen beobachtet wird (0.94 zu 0.80).

Dieser Verlust liegt häufig daran, dass nicht bereits dann eine Lösung als richtig akzeptiert wird, wenn eine Person sie vorschlägt, sondern eine Majorität muss sich für diese Lösung entscheiden. Allgemein gilt:



PN:Wahrscheinlichkeit, dass eine Gruppe der Größe N die richtige Lösung wählt, wenn die Majorität zustimmt.
h:1, 2, …., N
m:Anzahl der Mitglieder, die eine Majorität bilden
Pi:individuelle Lösungswahrscheinlichkeit

Für das obige Beispiel mit N = 4 und Pi = 0.50 gilt Folgendes:


Wenn man als Beispiel 4-Personen-Gruppen betrachtet, dann müssen mindestens 3 Personen die richtige Alternative vorschlagen, damit sie als richtig von allen akzeptiert wird. Folglich wächst die von der Gruppe akzeptierte Lösung sehr viel langsamer.

Man kann die obige Gleichung so erweitern, dass man die Wahrscheinlichkeit berechnet, die sich ergibt, wenn nur 1 Mitglied die richtige Lösung kennt. Dann muss man nicht nur die Majoritätskonstellationen, sondern auch noch die für h = 1 und h = 2 hinzuaddieren. Dann ergibt sich:


Dieser Wert ist mit dem des anderen Modells zu vergleichen, der ebenfalls 0.94 beträgt.

Man sieht also, dass die beiden Formeln zu identischen Resultaten führen. Sie haben nur einen verschiedenen Rechenweg: Die erste Formel betrachtet das Nicht-Wissen und die Zweite das Wissen als Grundlage.

Theoretisch wichtig ist jetzt aber an dieser Formel für die Majorität, dass nur dann die Majorität die richtige Lösung in der Gruppe mit größerer Wahrscheinlichkeit findet, wenn die individuelle Lösung größer ist als 0.50, eine reine Zufallswahl. Bei einer geringeren Lösungswahrscheinlichkeit als 0.50 sinkt die Gruppenleistung und bei 0.50 bleibt sie konstant unabhängig von der Gruppengröße. Das gilt aber nur für ungerade Anzahlen von Gruppenmitgliedern (3, 5, 7, 9 …). Bei geraden Anzahlen (4, 6, 8, 10 …) muss man noch die Hälfte der Lösungswahrscheinlichkeit bei einer Gleichverteilung [162]hinzuzählen, um die Konstanz auf 0.50 erhalten zu können, weil die Gleichverteilung keine eindeutige Entscheidung für eine statistische Majorität bedeutet:

PN = 0.06 + 0.25 + (0.38) ∙ 1/2 = 0.50

Ferner ergeben sich bei Gruppengrößen zwischen 3 und 7 Mitgliedern, wie sie häufig zu beobachten sind, dass die Majoritätslösung dann deutlich besser ist als die durchschnittliche Einzellösung, wenn die individuelle Lösungswahrscheinlichkeit zwischen Pi = 0.66 und Pi = 0.87 liegt. Unter Pi = 0.66 ist der Zuwachs gering, weil die Majorität sich häufig auf falsche Lösungen einigt, über Pi = 0.87 ist generell eine Gruppenentscheidung kaum nötig.

Damit ist der sinnvolle Einsatz von Gruppen auf einen engen Schwierigkeitsbereich beschränkt, wobei es immer Experten sein müssen, die besser als der Zufall (Pi > 0.50) eine richtige Lösung finden können, sofern man eine Majoritätsregel unterstellt. Hinter dieser Forderung verbergen sich implizit Kritikpunkte an demokratischen Regeln bei Aufgaben, die eine richtige Lösung zum Gegenstand haben.

Die obige Kritik an der Unvergleichbarkeit der beiden Systemebenen Gruppe mit Individuum lässt sich so auflösen, dass man die Wahrscheinlichkeit der Gruppenlösung wieder zu einer individuellen Lösewahrscheinlichkeit transformiert, indem man nach der Gruppenlösung (t) die individuelle Übernahmewahrscheinlichkeit der richtigen Lösung betrachtet:


tPi =α ∙ PN
tPi :die individuelle Wahrscheinlichkeit der Übernahme der in der Gruppe gefundenen Lösung durch ein Durchschnittsindividuum.
α :die Übernahmewahrscheinlichkeit der Lösung aus der Gruppe.
PN :die Wahrscheinlichkeit, die richtige Lösung in der Gruppe von N Personen zu finden.

Wenn jetzt alle Personen die gefundene Gruppenlösung übernehmen (α=1), dann hat die Gruppe den einzelnen Personen geholfen und ihre durchschnittliche Lösungswahrscheinlichkeit verbessert von 0.50 auf 0.80. Nur auf diesem Hintergrund sind die Wahrscheinlichkeiten zu vergleichen. Man erkennt an diesen einfachen Beispielen auch, dass Gruppen häufig hinter ihrem Leistungspotenzial zurückbleiben. Diese Leistungsminderungen bei Gruppen sind vielfältig: bei der Motivation, der Kreativität, dem Helfen, dem komplexen Problemlösen etc. (Witte/Kahl 2008). Gleichzeitig wird deutlich, dass diese Prozessverluste in Gruppen bereits genetisch angelegt sind. Es lässt sich nämlich zeigen, dass diese Verluste in der Gruppe gleichzeitig individuelle Vorteile darstellen, wie es oben gezeigt werden konnte, wenn man die Problemlösewahrscheinlichkeit des durchschnittlichen Individuums vor der Gruppendiskussion (Pi) und nach der Gruppendiskussion (tPi) vergleicht, wobei dann die Übernahmewahrscheinlichkeit (α) nahe bei 1 liegen muss und die Gruppenmitglieder Kenntnisse über die Problemstellungen haben müssen (Pi > 0.50). Dann ist die Majoritätsregel zwar der Grund, die optimale Möglichkeit in der Gruppe nicht ausschöpfen zu können, aber gleichzeitig der Anlass die individuelle Übernahmewahrscheinlichkeit zu erhöhen. Faktisch könnte die Gruppe eine bessere Leistung erzielen, aber der Gruppenkontext verbessert die individuelle Lage in ausreichendem Maße (zur Erhöhung der Fortpflanzungswahrscheinlichkeit). Aus diesem Grund findet man in der wissenschaftlichen Diskussion diesen Widerspruch zwischen Prozessverlusten in Gruppen und Gruppenvorteilen im Vergleich zu individuellen Reaktionen. Es ist kein Widerspruch: Im ersten Fall vergleicht man die Gruppenreaktion mit einem theoretisch möglichen Potenzial einer Gruppe, im zweiten Fall mit einer individuellen Reaktion ohne Gruppeneinfluss.

Diese bereits für den homo sapiens genetisch vorgeprägten Verhaltensweisen in Gruppen hat auch eine kulturelle Verankerung erfahren: Wir glauben an die Leistungsfähigkeit von Gruppen und richten unsere soziale Praxis danach aus. Deshalb ist unsere soziale Praxis auch so organisiert, dass wir Gruppen eher vertrauen als Einzelpersonen: Die Minister lassen ihre Vorstellungen durch das Kabinett bestätigen, das Urteil eines schwerwiegenden Verbrechens wird nicht vom Einzelrichter, sondern vom Schöffengericht gefällt, die Beurteilung einer Dissertation wird von zwei Gutachtern vorgenommen, Punktrichter beim Boxen oder beim Eiskunstlauf beurteilen in kleinen Gruppen das Ergebnis usw. Ferner haben wir eine soziale Repräsentation von Gruppen entwickelt, die das gute Funktionieren von Gruppen verbindet mit positiver emotionaler Beziehung untereinander, Gleichbehandlung aller, Vermeidung von persönlichen, auch sachlichen Konflikten und der gezielten Steuerung des positiven Zusammenhaltes (Witte/ Engelhardt 1998). Unter solchen nach Harmonie[163] strebenden Verhaltensweisen mit hoher Konformität lassen sich Probleme durch eine sachliche Auseinandersetzung qualitativ hochwertig kaum angehen, weil diese Auseinandersetzungen vermieden werden. Gleichzeitig erhöhen diese Vorstellungen die konformen Verhaltensweisen in Gruppen, wodurch die individuelle Übernahme dieser Gruppenentscheidung verbessert wird. Das aber ist die Voraussetzung für den individuellen Vorteil durch den Gruppenkontext, wenn die Gruppenteilnehmer bessere Entscheidungen zeigen können, als es rein zufällig geschehen würde. Verbunden mit dieser sozialen Repräsentation von Gruppen gibt es auch die soziale Repräsentation von Teamfähigkeit, also die Eigenschaften, die eine Person mitbringen sollte, damit sie sich zum Vorteil der Gruppe an ihren Zielen beteiligen kann (Seelheim/Witte 2007): Kommunikationsfähigkeit, Kontaktfähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Integrationsfähigkeit, Konsensfähigkeit, Konfliktfähigkeit. Faktisch führen diese Eigenschaften aber nicht zu einem Erfolg der Gruppe. Sogar dann, wenn man zeigen kann, dass die Gruppe durch eine abweichende Meinung zu einem besseren Ergebnis kommt, wird dieser Person mit der abweichenden Meinung keine hohe Teamfähigkeit zuerkannt (Seelheim 2011).

Nach diesen sozial vermittelten Vorstellungen ist es nicht verwunderlich, dass Personen einer einheitlich falsch urteilenden Mehrheit in einer Wahrnehmungsaufgabe entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung in ca. 33 % diesen Reaktionen folgen (Asch-Experiment). Wir ändern auch eher unser Verhalten, wenn wir in Gruppen darüber diskutiert, als wenn wir nur einen Vortrag gehört haben, wie es Lewin im Zweiten Weltkrieg bei der Verwendung von Nahrungsmitteln gezeigt hat (s. zusammenfassend Witte 1979). Verstärkt man den sozialen Druck in einer Gruppensituation, dann kann man in einem solchen Gruppenkontext erreichen, dass ca. 66 % der Personen einen tödlichen elektrischen Schlag austeilen (Milgram-Experiment).

Konzentriert man sich jetzt auf die soziologische Definition von Gruppe als ein Mikrosystem (Arrow et al. 2000), dann verlässt man die individuelle Ebene und betrachtet über-individuelle Parameter und Prozesse. Die Bildung eines Mikrosystems braucht aber Zeit. Sie findet als Minimalvoraussetzung dann statt, wenn die Mitglieder sich als ähnlich betrachten und hinzukommend ein gemeinsames Schicksal erfahren. Solch eine Bildung eines Systems scheint über verschiedene Phasen zu laufen: Das Forming als gemeinsames Kennenlernen, das Storming als den Versuch individuelle Interessen durchzusetzen, das Norming als die Kompromissbildung auf gemeinsame Regeln und Standards und dann das Performing als die angestrebte Zielverfolgung. Bei der Zielerreichung kann dann die Gruppe als (Quasi-)System aufgelöst werden (Adjourning oder Termination), was manchmal als Verlust empfunden wird. Die mikrosystemische Betrachtung lässt sich unter ein Konzept subsumieren, das aus drei Komponenten besteht: Systemtransparenz als geteiltes Wissen über die Gruppe verbunden mit der Meta-Kommunikation über die Gruppenprozesse, die Strukturflexibilität als innere Ordnung der Gruppe und die Außenkontaktsteuerung als Abgrenzungsstrategie von außen und nach außen. Die konkreten Ausprägungen ändern sich über die Zeit durch interne und externe Einflüsse, die über die Interaktion, Sympathie und die Aktivitäten in der Gruppe verändert werden (Homanssche Regel).

Generell gilt: Die Erwartungen an Gruppen sind überzogen, die Menschen streben Gruppen an und die Organisation des Verhaltens in Gruppen wird selten thematisiert.

Literatur

Arrow, Holly et al., 2000: Small groups as complex systems, London, UK. – Larson, James R., 2010: In search of synergy in small group performance, New York, NY. – Neidhardt, Friedhelm, 1979: Das innere System sozialer Gruppen; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31, 639–660. – Seelheim, Tanja, 2011: The perception of team skills, Hamburg (unver. Diplomarbeit). – Dies.; Witte, Erich H., 2007: Teamfähigkeit und Performance; in: Gruppendynamik und Organisationsberatung 38, 73–95. – Shaw, Marvin E., 1971: Group Dynamics, 3. Aufl., New York, NY. – Witte, Erich H., 1979: Das Verhalten in Gruppensituationen, Göttingen. – Ders., 1994: Lehrbuch Sozialpsychologie, 2. Aufl., Weinheim. – Ders., 2006: Gruppenleistung. Eine Gegenüberstellung von proximater und ultimater Beurteilung; in: Ders. (Hg.): Evolutionäre Sozialpsychologie und automatische Prozesse, Lengerich, 178–198. – Ders.; Davis, James H. (Eds.), 1996: Understanding group behavior, Vol.I/II, Mahwah. – Ders.; Engelhardt, Gabriele, 1998: Zur sozialen Repräsentation der (Arbeits-)Gruppe; in: Ardelt-Gattinger, Elisabeth et al. (Hg.): Gruppendynamik, Göttingen, 25–29. – Ders.; Kahl, Cara H., 2008: Small group performance. Reinterpreting proximate evaluations from an ultimate perspective, Hamburger Forschungsberichte zur Sozialpsychologie Nr. 85, Hamburg.

Erich H. Witte

[164]Gütekriterien

Gütekriterien (engl. quality factors) der empirischen Forschung dienen zur Beurteilung, welche Qualität die Befunde (bzw. die Messoperationen) haben, ob sie somit als wissenschaftlich fundiert gelten können. Die wichtigsten Gütekriterien der quantitativen Forschung lauten: Gültigkeit, Zuverlässigkeit, Repräsentativität und Objektivität bzw. Intersubjektivität.

Gültigkeit (Validität)

Gültig sind Ergebnisse dann, wenn man das gemessen hat, was man messen wollte. Dies bedeutet z. B., dass man angemessene Indikatoren verwendet hat und dass das Instrument und die Erhebungssituation (z. B. die Anwesenheit Dritter bei einer Befragung) die Ergebnisse nicht systematisch verfälschen. Würde ein Forscher z. B. als Indikator für »Schulerfolg« allein die Note in der letzten Mathearbeit wählen, wäre der Sachverhalt wohl nicht gültig gemessen worden.

Es werden verschiedene Arten der Validität unterschieden: Inhaltsvalidität bedeutet, dass möglichst alle Aspekte einer forschungsrelevanten Dimension berücksichtigt wurden (z. B. wäre es zu einseitig, »Patientenzufriedenheit« nur an der Beurteilung des Essens im Krankenhaus festzumachen). Kriteriumsvalidität richtet sich auf den Zusammenhang zwischen dem Messergebnis und einem von dieser Messung unabhängigen Kriterium. Dieses kann zur gleichen Zeit erfasst werden (Übereinstimmungsv.) oder zu einem späteren Zeitpunkt die Vorhersagekraft der ersten Messung überprüfen (Vorhersagev.). Konstruktvalidität (mit den Kriterien der konvergierenden und diskriminierenden Validität) richtet sich auf den empirischen Nachweis theoretisch hergeleiteter Zusammenhänge. Intern valide ist etwa ein Experiment dann, wenn Unterschiede beim zu erklärenden Merkmal (z. B. aggressives Verhalten) ausschließlich auf die experimentelle Variation des erklärenden Merkmals (z. B. einen vorher gezeigten Film) zurückgehen. Externe Validität liegt dann vor, wenn die Ergebnisse eines Experiments zutreffend auf andere Personen und Situationen (außerhalb des Labors) verallgemeinert werden können.

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