Loe raamatut: «Ein Leben voller Abzweigungen.», lehekülg 2

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Nicht zu unterschätzen

Sanft ziehen sich die grau melierten Locken an den Schläfen entlang. Die verträumten Augen strahlen eine tröstende Großmütigkeit aus. Fast so, als wäre der Opa kurz davor, dem Enkerl endlich das vom Christkind gebrachte Weihnachtspackerl unterm Baum zu reichen. Die sanften Gesichtszüge reichen hinunter bis zum bewusst ungepflegten Fünf-Tages-Bart, der dieser unschuldigen Erscheinung zumindest ein wenig Kantigkeit verpasst. Lächelnd hat er mir noch vor wenigen Minuten die Hand reichen wollen und sie dann instinktiv zurückgezogen. »Es tut mir sehr leid. Manchmal vergesse ich immer noch darauf, dass man sich heute mit Distanz begrüßen soll.« Karim gehört zu jener Spezies Mensch, die mit dem etablierten Social Distancing ihre Probleme hat. Nicht aber, weil er sich aus purer Sturheit nicht von gewohnten Verhaltensweisen trennen will, sondern weil er schlichtweg ein herzlicher Mensch mit untrüglichem Hang zur Nähe ist. »Mir ist erst durch Corona aufgefallen, wie sehr mir herzliche Begrüßungen und Umarmungen fehlen. Und lustigerweise fällt mir das auch bei den Gästen auf«, erzählt er freudig in holprigem Deutsch. »Auch wenn es immer heißt, dass alle lieber ihre Ruhe haben wollen, habe ich oft das Gegenteil erlebt. Mir wurde beim Aussteigen sogar freundschaftlich auf die Schulter geklatscht.«

Ganz anders geklatscht hat er noch vor wenigen Monaten. Nämlich andere auf den Boden, wenn es unbedingt sein musste. Karim ist Anfang 40 und kam vor etwas mehr als 16 Jahren nach Österreich. Den Großteil der Zeit verbrachte er als Türsteher in unterschiedlichen Clubs und Discos der Bundeshauptstadt. Dabei ging er nicht immer zimperlich vor. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was du in so einem Club während eines Freitags- oder Samstagsdienstes erlebst«, wird die sonst so sonore Stimme plötzlich deutlich höher. »Da gehen plötzlich ganze Gruppen von Jugendlichen auf dich los, weil du ihnen nicht alles durchgehen lässt. Wenn du einen im Schwitzkasten hast, tritt dich einer seiner Freunde von hinten nieder.« Gebrochene Arme und Finger allerorts. Bei Karim und auch bei so manchem Gast. »In diesem Job unterliegst du strengen Richtlinien und es ist genau definiert, was du dir als Türsteher erlauben kannst und was nicht, aber manchmal lassen sich Verletzungen nicht vermeiden.« Zweimal hat sich Karim den Arm gebrochen, dreimal verschiedene Finger. »Allerdings ist das hie und da auch den Gästen passiert«, entgleitet ihm ein leicht diabolisches Schmunzeln, das nur mehr wenig mit der väterlichen Sanftmütigkeit von vor wenigen Momenten gemein hat. »Aber was habe ich für eine Wahl? Mich zusammenschlagen zu lassen?«

Lokalbesucher sind nicht per se aggressiv. Der Stresslevel der Türsteher steigert sich mit jedem Schluck Gin Tonic, mit jeder leichten Zurückweisung auf der Tanzfläche und mit jedem Näschen jenes illegalen weißen Pulverschnees, der Zeit und Raum vergessen lässt. »Die Drogen sind ein sehr wichtiges Thema in diesem Job. Manche Gäste gehen freundlich und beschwingt in ein Lokal, ziehen sich dann irgendetwas rein und verwandeln sich in eine völlig andere Person.« Wenn Karim an so manch prekären Abend zurückdenkt, zuckt er leicht mit dem rechten Lid, das ich von der Rückbank aus gut sehen kann. Er ist auf den ersten Augenschein von normaler Statur. Unter seinem sich wölbenden Pullover doch merkbar sportlich, aber kein muskelbepackter Hüne, wie es im Klischeebuch fett gedruckt steht. Doch bei den Kräftigen ist es wie bei den Wettessern. Nicht die dicksten Teilnehmer können sich die meisten Hot Dogs in möglichst kurzer Zeit einverleiben. Es sind jene, die nach einer ganz normalen Mittagsportion Spaghetti Bolognese aussehen, aber die richtige Technik anzuwenden wissen. Karim ist weder stämmig noch drahtig oder voluminös. Er ist sogar ziemlich unscheinbar und gerade deshalb allzeit bereit, den potenziellen Angreifer unangenehm zu überraschen.

»Ich mache seit vielen Jahren Kampfsport«, gibt er nur sehr zögerlich und auf wiederholtes Nachfragen zu. »Eigentlich rede ich nicht so gerne darüber, denn es ist ein Teil meiner Vergangenheit.« Die Vergangenheit holt einen immer ein. Vor allem, wenn man ein Uber lenkt und mit den Fahrgästen Smalltalk führt. Ist eine Fahrt länger als von Nord-Ottakring nach West-Penzing, dann geht es eben schnell über das Bergwetter am Wochenende und das gestrige ZiB-2-Interview hinaus und führt direkt ins Private. Karim ist ein sehr guter Zuhörer aber nur ein zögerlicher Redner. Ich will mehr von ihm erfahren. Und überhaupt – gibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen seinen Fähigkeiten als Türsteher und jenen als Mietwagenfahrer? Kann Karim Störenfriede ebenso ruhig und friedvoll ausschalten wie er, von der Schwerkraft so gut wie unbemerkt, sanft die Kurve gen Inneren Gürtel nimmt? Lässt er sich vor der physischen Verteidigung auf ein ähnlich geruhsames Gespräch mit aufmüpfigen Gästen wie hier mit mir ein? Kann Karim seine treuherzigen Hundeaugen im Eifer des Gefechts wirklich so scharfstellen, dass man als unmittelbarer Opponent das Gefühl bekommt, man ließe nun lieber von ihm ab? Kaum vorstellbar, aber wohl wahr. Mit Karim ist gut Kirschen essen. Nur sollte man lieber nicht auf seinen Teller greifen, um ihn seiner Ration zu berauben.

Der Weg von der Disco ins Uber war vornehmlich seiner Familie geschuldet. Jahrelang Nachtschichten am Wochenende, hohe Verletzungsgefahren, ständig Kontakt mit der Exekutive. Neben der körperlichen Komponente wird auch die Psyche besonders stark gefordert. »Man darf nicht vergessen, dass ich diese Ereignisse mit nach Hause nehme. Du kommst irgendwann morgens nach einer anstrengenden Nacht heim zu deiner Familie und willst nur noch schlafen, während sie ihren Tag beginnt. Sie gehen raus, spielen oder essen zusammen, während du am frühen Nachmittag aufwachst, die Ereignisse des Vorabends erst verarbeiten musst und vielleicht bald wieder im Dienst stehst.« Seine Frau hat den Job Karims immer geduldet, die Tochter war noch zu klein, um mitzukriegen, wodurch Papa ihren Brei bezahlen kann. Die Reißleine zog Karim nach einigen Jahren selbst, was für ihn nicht nur die goldrichtige, sondern im Endeffekt auch einzig richtige Entscheidung bedeutete. »Mir hat der Job Spaß gemacht. Es ist nicht so, dass ich vor ihm davonlaufen wollte, aber meine Frau machte sich zunehmend Sorgen und man kommt nicht jeden Tag ohne Schrammen heim. Außerdem will ich meine Tochter aufwachsen sehen und mit ihr Zeit verbringen. Es wäre unverantwortlich, all diese Dinge zu ignorieren und einfach so weiterzumachen, als wäre nichts.«

Das Familienglück ist Karim wichtiger als alles andere. Als zwei Flugzeuge am verhängnisvollen 11. September 2001 in die Twin Towers des New Yorker World Trade Centers krachten, änderte sich Karims Leben von einem Tag auf den anderen. Taliban, Al-Qaida und der erbitterte Vergeltungsschlag der USA zerstörten seine Heimat Afghanistan in kürzester Zeit. Für den damals 22 Jahre jungen Karim stellten die tragischen Ereignisse eine Lebenszäsur da. »Wir haben ganz gut gelebt, aber Lage und Land haben sich quasi über Nacht verändert.« Karim wuchs in Kabul auf und erlebte eine genügsame Kindheit. Durch den Krieg hat er über die Jahre alles verloren und musste die Flucht antreten. »Wir haben alles versucht, um dem Krieg zu entkommen. Zuerst bin ich in den Iran und kurz darauf in die Türkei geflüchtet. Dann war ich einige Jahre in Serbien und von dort bin ich schlussendlich nach Österreich gekommen.« Wenn er von den tragischen Ereignissen aus seiner Vergangenheit erzählt, wirkt Karim erstaunlich gefasst. Weder bricht die Stimme noch werden die Augen feucht. Dass er in sehr jungen Jahren aber Unmenschliches mitansehen und verarbeiten musste, kann er nicht verbergen. Man kann es als Zufall oder Wink des Schicksals betrachten, aber dass John Lennons ewige Friedenshymne »Imagine« ausgerechnet in diesem Moment aus dem Radioäther tönt, hinterlässt einen bleibenden Eindruck.

Begegnungen wie diese sind immer etwas eigenartig. Man ruft jemanden anonym über eine digitale App zu sich, bezahlt ihn und seinen Arbeitgeber mittels Kreditkarte und kann dieser Person für eine kurze Weile unheimlich nah sein. Unweigerlich fühle ich mich in meine eigene Kindheit zurückversetzt, als Oma vor dem knisternden Kaminfeuer in einer verschneiten Winternacht möglichst altersgerecht von Opas Kriegsgefangenschaft erzählte, dabei einen warmen Tee zubereitete und die Vanillekipferl aus der großen Dose holte. Jener Opa, der das Kriegsgeschehen trotz aller Turbulenzen überlebte, mit der Oma aus dem sprichwörtlichen Nichts in den 60er-Jahren ein Haus gebaut hat und neun Jahre vor meiner Geburt verstarb. Die verworrenen und undurchsichtigen Stränge des Lebens wollen es so, dass mir Karim in diesem kurzen Moment näher ist als meine eigene Familiengeschichte. Er ist physisch anwesend. Aus Fleisch und Blut und in diesem Moment mit allen Sinnen greifbar. Er ist keine Geschichte und keine imaginierte Erinnerung, sondern ein lebender Beweis für erlebte Ereignisse, die man als Unbeteiligter zwar hören und verstehen will, aber niemals vollends erfassen kann. Aus einer zwanglosen Fahrt zum Hausarzt wird eine Geschichtsstunde. Aus dem Ausflug zu einem Pflichttermin ein nicht einkalkuliertes Zusatzerlebnis.

»Ich war das letzte Mal vor mehr als zehn Jahren in Afghanistan«, blickt Karim nach einer kurzen Nachdenkpause zurück. »Es ist mittlerweile wieder etwas leichter einzureisen und die ärgsten Wogen scheinen geglättet zu sein, aber ich habe dort nichts mehr. Meine Familie ist verstorben oder geflüchtet. Ich konnte noch nicht einmal mit allen Kontakt halten.« Heimat bleibe immer die Heimat, erklärt mir Karim, während er bei einer roten Ampel und viel Verkehr Zeit hat, seine Gedanken zu sortieren und sie möglichst gut in das für ihn immer noch suspekte Deutsch zu gießen. »Ich habe mir zwar in Österreich ein neues Leben aufgebaut, aber die Vergangenheit bleibt für immer bestehen.« Es ist schwer vorstellbar, wie sich für Karim die Erinnerungen an eine schöne und möglichst ungezwungene Kindheit mit den Grauen seines frühen Erwachsenenlebens paaren. Die Nostalgie spielt uns gerne Streiche, lässt uns Erinnerungen willentlich vermischen und verqueren, bis sie sich im Kopf zu einem Bild zusammenbauen, das nicht so korrekt ist, wie wir es gerne hätten. Karim versucht die Fragmente eines Lebens so zusammenzusetzen, dass der erlebte Schmerz möglichst gering bleibt. Ob er damit einen Teil einer Vergangenheit verklärt oder nicht, ist nicht die Frage. Das neu zusammengesetzte Puzzle gibt ihm seelischen Frieden und spendet Trost.

»In Afghanistan herrscht seit mehr als 40 Jahren Krieg und viele Städte sind komplett zerstört«, reflektiert er plötzlich wieder nüchterner, »aber es ging mir eigentlich nicht schlecht. Wir hatten alles, was wir brauchten. Ich habe meine Kindheit sehr gut in Erinnerung.« Meidlinger Hauptstraße, das Ziel ist nur mehr wenige Meter entfernt. Wir fahren schon eine knappe halbe Stunde zusammen durch Wien und nun herrscht ein wohliges Gefühl gegenseitiger Vertrautheit. Karim setzt gerade dazu an, Details aus seiner Kindheit und seiner alten Heimat zu erzählen. Er geht sehr offen mit seiner Geschichte um und hätte vermutlich über seine Flucht, die verschiedenen Heimatorte und die unterschiedlichen Berufe erzählt. Woher er seine Kampfsportkenntnisse hat. Wie stark er selbst vor seiner Flucht im Krieg beteiligt war. Wie er die Erlebnisse verarbeitet hat und heute so in sich selbst ruhen kann. Was ihm Europa und Österreich bedeuten und was in seinem Kopf, dem Kopf eines Kriegsflüchtlings, vorgeht, wenn er sich um 4 Uhr morgens vor der Pratersauna mit einem sich aufplusternden Jus-Studenten auseinandersetzen muss. Es gäbe so viele Fragen, doch die Uhr tickt unerbittlich und es bleibt keine Zeit für Antworten. Das Ziel ist erreicht, auf den Handshake wird verzichtet. Bei der Oma könnte man einfach so lange sitzen bleiben, bis man alle Details erfragt und alle interessanten Winkel der Geschichte erforscht hat. Karims Geschichte bleibt hingegen nur angeschnitten. So abrupt kann gefühlte Nähe enden.

Anonyme Erlebnisse

Warum öffnet man sich eigentlich einem wildfremden Menschen, den man höchstwahrscheinlich nie mehr wiedersieht? Wie kommt es, dass sich aus dieser Anonymität heraus zeitlich begrenzte, aber inhaltlich oft gewichtige Gespräche ergeben? Im Taxi oder Uber scheinen sämtliche Hemmungen zu fallen und man wird für kurze Zeit zu einem gläsernen Menschen. Orest heißt natürlich nicht so, schützt sich damit aber vorwiegend selbst. Sagt er mir zumindest, denn während wir mit dem Uber über die Ringstraße fahren und an uns die prunkvollen Fassaden der Wiener Innenstadt vorbeiziehen, erklärt er mir den Grund für seine Geheimniskrämerei. »Weißt du, ich schreibe im Internet meine Erlebnisse und Gedanken nieder, die ich den ganzen Tag so habe. Man erlebt in diesem Job so einiges, aber ich mache das natürlich völlig anonym, denn sonst würde ich Probleme kriegen.« Orest sagt, er stamme ursprünglich aus Bosnien-Herzegowina, nur einen Steinwurf von der Hauptstadt Sarajevo entfernt. Das Interesse für Autos hat ihm schon sein Vater vererbt und als die Familie mit ihm im Kleinkindalter nach Wien zog, habe sich diese Leidenschaft manifestiert. »Das waren ja ganz andere Modelle, die gab es in Bosnien nicht. Audi, Mercedes, schöne Limousinen. Eine ganz neue Welt.«

Wir beide werfen heute mit Blendgranaten, denn wirklich offen ist niemand zum anderen. Orest verrät mir nicht seinen richtigen Namen und auch nicht, wie man seinen Blog oder seine Online-Mitschrift, so genau sagt er das nicht, findet. Ich sage ihm nicht, dass ich einzig und allein deshalb in seinem Auto sitze, um seine Geschichte zu erfahren, und mich diebisch darüber freue, ihn mit einer solchen Geschichte getroffen zu haben. Orest macht einen akkuraten Eindruck. Seine dunkelbraunen Haare sind penibel geschnitten, das rot karierte Hemd kann seine Oberarmmuskeln nur schlecht bändigen und die verschieden blauen Flecken auf der Jeans deuten nicht auf Fabrikationsfehler, sondern einen Modetrend hin. Ich würde ihn Mitte 20 schätzen, liege aber daneben. »32«, lacht er, »aber keine Sorge, ich bin nicht beleidigt. Jünger sein will man immer und ich habe halt wenig Bartwuchs. Das macht sicher einiges aus.« Auf den schwarzen Mercedes hat Orest lange gespart und sich dafür zu unterschiedlichsten Jobs verdingt. Für ihn war immer klar – wenn schon Gäste chauffieren, dann auch so, wie er es selbst für würdig befindet.

Das Wasser im Donaukanal ist gewohnt trüb, als wir uns in der Nähe des Schwedenplatzes auf der mehrspurigen Straße durch den nachmittäglichen Berufsverkehr schlängeln. Ich bin bestimmt noch keine drei Minuten in seinem Auto, als er bereits euphorisch von seinem Hobby erzählt. Er habe mit dem Uber-Fahren schon begonnen, als das Unternehmen in Österreich aufpoppte. Der Taxischein sei ihm zu mühsam gewesen. Zwei Anläufe hatte er, zweimal sei er an den strengen Prüfungen gescheitert. Dann habe er aufgegeben, sei Lieferwagen gefahren und habe sein Geld für den Mercedes gespart. Uber und sein System der gefühlten Selbstständigkeit sind für Orests Vorstellungen genau richtig. »Ich war handwerklich nie wirklich begabt und einen Job als Chauffeur für Politiker oder so habe ich nie bekommen. Uberfahren kommt meiner Liebe zu Autos am nächsten. Und ich lerne viele interessante Leute kennen.« Die ihm fremden Menschen fand er schon nach den ersten Wochen in diesem Job dermaßen interessant, dass er die Geschichten in seinem Kopf abzuspeichern begann. Als Millennial und leidenschaftlichem Internet-User kam ihm die Idee, viele dieser Erlebnisse aufzuschreiben.

»Es sind ja nicht nur die Geschichten, die ich unter der Hand mitkriege«, erzählt mir Orest, »sondern auch Dinge, die mir tatsächlich erzählt werden. Leute, die miteinander rummachen und kurz vorm Sex sind. Betrunkene oder von Drogen weggeschossene, die entweder komplett aufgeputscht auf der Rückbank hin- und herrutschen oder elendiglich in sich zusammenfallen. Geschäftsmänner mit Sonnenbrillen, die so tun, als würde ich sie spätabends zu einem Geschäftstermin in ein Hotel fahren, obwohl wir ohnehin alle wissen, dass es da um etwas ganz anderes geht.« Orest kennt sie alle. Etwa vier Jahre im Uber mit zehn bis 15 Tagesfahrten fünfmal die Woche – man kann sich sehr einfach ausrechnen, dass da genug Begebenheiten für seine Mitschriften dahinterstecken. »Mit dem Uber fahren ja alle. Junge Leute und alte Leute. Männer und Frauen. Reiche Leute und ärmere Leute. Geschäftsmänner und Tischler.« Orest bringt mich zum Nachdenken. Wo sonst erlebt man einen derart bunten Querschnitt der Gesellschaft? Jedenfalls nicht an der Supermarktkassa, wo die Begegnungen sehr flüchtig sind. Vielleicht noch als Monteur von Küchen oder Gasthermen bei Privatkunden, aber selbst dort ist man nie so direkt mit Sein und Wesen unterschiedlichster Gegenüber konfrontiert.

Als Uber-Fahrer bekommt man die wahre Stimmung in der Gesellschaft eigentlich am besten mit. Nicht umsonst spricht der erzürnte Volksmund gerne davon, dass sich ein Politiker ans Steuer eines Taxis setzen sollte, um die Stimmung in der Bevölkerung möglichst getreu einzufangen. Bevor ich mit Orest tiefer ins Detail gehe, frage ich ihn, warum er mir das alles überhaupt erzählt. »Du warst selber neugierig und hast mir am Anfang Fragen gestellt. Da dachte ich, warum nicht? Wir unterhalten uns gut.« Und was sei dann der große Unterschied zu anderen Gästen? »Na ja, die Unterhaltung«, führt er aus, »denn mit den meisten Fahrgästen gibt es keine Unterhaltung. Die reden sich ihren Stress von der Seele und behandeln mich wie einen Psychiater. Eine Frau hat mir auf einer Fahrt mal bis ins kleinste Detail von ihren drei letzten misslungenen Tinder-Dates erzählt. Wirklich alles. Dinge, die man gar nicht wissen will. Alles, was ich vorher zu ihr gesagt habe, war ›hallo‹ und die übliche Einstiegsfrage, ob sie eh mein Gast wäre.« Orest hat sich an seinen »unbezahlten Zweitjob« gewöhnt. Anfangs fand er die Gesprächigkeit vieler Gäste seltsam, mittlerweile ist er eher amüsiert.

»Du kommst in unglaubliche Situationen. Etwa wenn sich ein Pärchen zu streiten beginnt und dich in die Diskussion mithineinziehen will. Oder wenn dir jemand mit einer massiven Bierfahne nach dem Rapid-Spiel erzählt, wie fett er noch vor zehn Jahren nach solchen Spielen war und ihm dabei der Bauch rausrutscht. Es gibt wirklich nichts, das man nicht erlebt.« Große Breitenwirksamkeit erreicht Orest mit seinen Geschichten angeblich zwar keine, aber er sieht das Niederschreiben dieser skurrilen, witzigen, tragischen und atemberaubenden Situationen auch mehr als eine Art Eigentherapie. »Ich rede natürlich mit meiner Freundin darüber, die ist immer ganz perplex von meinen Geschichten. Aber so vergisst man einfach nichts. Es ist ein bisschen wie Tagebuchschreiben. Nur, dass es für andere einsehbar ist, wenn man danach sucht.« Für besonders viel Aufsehen sorgt der Bosnier offenbar im Kollegenkreis. Teilweise kennen sich Uber-Fahrer untereinander, einige sind auch sehr gut Freunde von Orest. Und wenn man die Erlebnisse mit Gleichgesinnten teilt, bekommen sie noch einmal eine ganz spezielle Note. »Natürlich tauscht man sich darüber aus. In welchem Beruf ist das nicht der Fall?«

Vorbeigezogen an der Urania befinden wir uns auf direktem Weg in den dritten Bezirk. Die Straßen werden enger, Parkplätze nehmen zu, rasante Radfahrer und ampelignorierende Fußgänger machen Orest die Arbeit nicht leichter. Wie eine Katze schleicht er mit seiner schwarzen Limousine durch die Gassen und wirkt von all den Hindernissen des Alltags gänzlich unbeeindruckt. Auch wenn wir uns gerade nicht im Lockdown befinden, ist der einsetzende Berufsverkehr ungewohnt sanft. Orest trägt die für seine Zunft prekäre Situation mit Gelassenheit. Er habe noch immer genug Fahrten, auch wenn sich schon einiges geändert habe, betont er. Vor allem aber liefern die weniger gewordenen Gäste umso mehr Stoff für seine Hobby-Schriftstellerei. »Absolut jeder hat dir was zu erzählen. Absolut jedem geht es in der momentanen Zeit beschissen. Dem einen mehr, dem anderen weniger, aber Corona trifft uns alle.« Der Mietwagenfahrer als privater Seelsorge. Das ist keinesfalls eine Neuigkeit, sei aber in verstärktem Ausmaß zu beobachten.

Natürlich frage ich Orest nach den wildesten Geschichten, die er im Laufe seiner Tätigkeit erlebt habe. Schnell macht er zu und druckst herum. Er übt sich in Geheimniskrämerei. »Es gibt Dinge, die müssen nicht im Internet stehen«, antwortet er prompt. »Bei manchen ist das so, weil ich mir selbst denke, die sind irgendwie zu privat. Andere wiederum erschienen mir zu traurig. Auch wenn das alles anonym ist, hätte ich ein schlechtes Gefühl, wenn ich es veröffentlichen würde.« Orest ordnet seine Gäste in unterschiedliche Typen. Manche sind wütend und schimpfen über Gott und die Welt. Andere durchleben gerade eine schwierige Phase und suchen Halt. Wiederum andere echauffieren sich über Verkehr, Wetter, Politik oder seinen Fahrstil, während manche sich dazu bemüßigt fühlen, trotz des Fixpreises ständig Abkürzungen oder vermeintlich bessere Wege vorzuschlagen. Ein dickes Fell brauche man in diesem Job auf jeden Fall, sagt Orest. »Und viel Humor. Am besten Humor und Selbstironie – ansonsten solltest du vielleicht was anderes machen.«

Wie oft kommt es vor, dass Orest dem Gast seine eigenen Geschichten erzählt? »Immer dann, wenn ich gefragt werde. Also so gut wie nie. Das hier gerade ist eine seltene Ausnahme, aber eigentlich geht es auch keinen etwas an, wer ich bin und wie ich lebe.« Er weiß, dass wir uns in einer gläsernen Gesellschaft bewegen und glaubt, dass die Leute dadurch keine Hemmungen mehr haben. »Ich weiß nicht, ob das früher anders war, dafür bin ich zu jung. Doch es hat jeder ein Facebook- oder Instagram-Profil. Jeder teilt sein Leben mit Leuten, die gar nicht zu diesem Leben gehören. Deshalb ist es den meisten wahrscheinlich auch längst egal, wem sie was sagen.« Und die Anonymität bleibe ja trotz allem immer gewahrt, auch wenn Orest Name und Heimadresse seiner Gäste manchmal weiß. Möglicherweise erscheinen seine Erlebnisse irgendwann sogar in Buchform – wohl anonym.

Tasuta katkend on lõppenud.