Harzkinder

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Harzkinder
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Für die Mütter, Väter und Kinder, deren Familien

in der DDR durch staatliche Willkür zerrissen wurden.

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de © 2020 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln www.niemeyer-buch.de Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: C. Riethmüller Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbH eISBN 978-3-8271-8389-7

Roland Lange

Harzkinder



Über den Autor:

Roland Lange, Jahrgang 1954, lebt in der Nähe des Harzes in Kat­lenburg-Lindau. Er studierte in Hamburg Vermessungskunde und arbeitete als Vermessungsingenieur in den Katasterämtern in Göttingen und Osterode am Harz. Nebenher begann er zu schreiben: Romane, Liedtexte und Theaterstücke, seit 2010 auch Kriminalromane. 2014 beendete er seine Tätigkeit als Ingenieur und widmete sich ganz dem Schreiben. Roland Lange ist so etwas wie ein krimineller Botschafter des Harzes, denn auf seine Initiative fand 2011 das erste Mordsharz-Krimifestival statt. Seither gehört er zu den Organisatoren, die jedes Jahr im September hochkarätige deutsche und internationale Krimi-Autorinnen und -Autoren in den Harz einladen.

Lange ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS), bei den 42erAutoren e.V. und im SYNDIKAT, Autorengruppe deutschsprachige Kriminalliteratur.

On and on the rain will fall

Like tears from a star

On and on the rain will say

How fragile we are

(aus dem Song „Fragile“ von Sting)

Prolog

August 1980

Es war der vorletzte Tag ihres Urlaubs im FDGB-Ferienheim „Hermann Danz“ in Friedrichroda im Thüringer Wald.

Das Ehepaar Hanka und Ulrich Bartko war zusammen mit seinen Kindern Kerstin und Sascha zum Nachbarort Georgenthal gefahren und vom Ortsrand aus die gut drei Kilometer zur Waldgaststätte Wechmarer Hütte, einem bekannten Ausflugsziel, gewandert. Nach einer Rast an der Hütte wollten sie den Rückweg antreten.

Als die Familie das Lokal am späten Vormittag erreichte, herrschte dort bereits reger Betrieb. Sowohl in der Gaststube als auch vor dem Haus waren fast alle Plätze besetzt. Am Rand des abgegrenzten Außenbereichs fand sich noch ein freier Tisch. Eilig steuerten die beiden Kinder darauf zu, gefolgt von ihren Eltern.

Erleichtert seufzend ließen sie sich auf den Bänken nieder und packten ihren mitgebrachten Proviant aus. Als nach einer gefühlten Ewigkeit endlich eine gehetzt wirkende Bedienung zu ihnen kam und missmutig die Bestellung entgegennahm, hatten die Kinder ihre Brote bereits verschlungen und rutschten unruhig auf ihren Sitzplätzen herum.

„Mama, Durst!“, quengelte der vierjährige Sascha. „Ich will trinken!“

„Einen Moment wirst du dich wohl noch gedulden müssen.“ Vater Ulrich warf der Kellnerin einen zweifelnden Blick hinterher.

„Dürfen wir spielen?“ Kerstin, Saschas knapp sechs Jahre alte Schwester, hatte keine Lust, am Tisch auf ihre Limonade zu warten.

„Von mir aus.“ Hanka Bartko seufzte. „Aber bleibt in der Nähe, damit ich euch sehen kann.“

Kerstin nickte und forderte ihren Bruder auf, mitzukommen. Gemeinsam liefen sie über die freie Fläche hin zum Waldrand.

Ein Paar näherte sich dem Tisch der Bartkos. Die elegant-luftige Sommergarderobe der beiden deutete darauf hin, dass sie den Weg vermutlich mit dem Auto und nicht zu Fuß bewältigt hatten. Der Mann mochte um die Dreißig sein, seine Begleiterin schien einige Jahre jünger. Mit ihrem auffallend gepflegten Äußeren wirkten sie ein wenig fehl am Platz zwischen all den anderen Gästen, hauptsächlich Wanderern. Hanka blickte ihnen skeptisch entgegen, ahnte bereits die Frage, die der Mann auch gleich darauf stellte: „Entschuldigen Sie bitte, sind hier noch zwei Plätze frei?“ Er zuckte hilflos mit den Schultern. „Ist ja ordentlich was los.“

Hanka drehte sich zu ihren Kindern um, die ein Stück entfernt irgendeiner Spur auf dem Waldboden nachgingen und die Welt um sich herum vergessen zu haben schienen.

„Aber natürlich, setzen Sie sich ruhig“, hörte sie ihren Mann sagen. Sie unterdrücke ihren Einwand, dass die freien Plätze auf der Bank ja für ihre Kinder reserviert seien, nickte den Fremden stattdessen nur stumm zu.

„Vielen Dank“, entgegnete der Mann erleichtert. Er stellte sich als Joachim Aschoff und seine Begleiterin als seine Ehefrau Renate vor.

„Angenehm. Ich heiße Ulrich Bartko, das ist meine Frau.“ Er deutete auf Hanka, die freundlich nickend ihren Namen nannte.

„Sie stammen nicht aus der Gegend“, stellte Renate Aschoff lächelnd fest. „Ihr Zungenschlag ...“

Sie wurde von der Kellnerin unterbrochen, die mit den Getränken kam und sie auf dem Tisch abstellte. Ehe sie wieder verschwand, orderte Joachim Aschoff zwei Tassen Kaffee.

„Kerstin, Sascha! Eure Limonade!“ Hanka Bartko winkte ihren Kindern zu. Schmunzelnd sah sie ihnen entgegen, als sie im Sturmlauf auf den Tisch zugerannt kamen. Außer Atem griffen sie nach den Gläsern und tranken gierig.

„Langsam, langsam“, mahnte Hanka, „oder wollt ihr euch verschlucken?“

Die Kinder schielten kurz über die Glasränder hinweg zu ihrer Mutter, tranken aber bis zum letzten Tropfen weiter. Sascha musste von der Kohlensäure aufstoßen. Laut, und ohne dass er sich die Hand vor den Mund hielt, rutschte ihm der Rülpser heraus.

„Sascha! Kannst du dich nicht benehmen?“

Der Junge reagierte nicht auf die Ermahnung seiner Mutter. Stattdessen deutete er auf das Ehepaar Aschoff. „Wer sind die?“, fragte er.

„Man zeigt nicht mit dem Finger auf andere Leute“, entgegnete Hanka energisch. Das Verhalten ihres Sohnes war ihr sichtlich unangenehm.

„Lassen Sie nur, ist doch nicht schlimm“, beschwichtigte Joachim Aschoff und stellte sich und seine Frau erneut vor. Diesmal den Kindern.

„Aha“, antwortete Sascha knapp, dann war sein Interesse an den Fremden erloschen. Er zupfte seine Schwester am Arm. „Komm, weiterspielen.“

„Nette Kinder haben Sie“, sagte Renate Aschoff und sah den Geschwistern nach, die sich wieder Richtung Wald­rand entfernten.

Ulrich Bartko nickte. „Ja, aber manchmal sind sie auch ganz schön anstrengend. Na ja, kleine Wildlinge eben. Das ist übrigens unser erster richtiger Urlaub, den wir als Familie zusammen machen. Drüben, in Friedrichroda im Ferienheim. Morgen reisen wir ab. Dann ist die schöne Zeit wieder vorbei.“ Er seufzte.

„Ihr allererster Urlaub mit den Kindern?“ Renate Aschoff zog verwundert die Augenbrauen hoch.

Hanka zuckte mit den Schultern. „Wir dachten schon, es würde nie etwas werden. Doch dann haben wir aus heiterem Himmel den Ferienscheck erhalten. Nachdem wir Jahr für Jahr vergeblich unsere Anträge gestellt haben.“ Sie lächelte verlegen.

„Da sind Sie den Genossen in der Betriebsleitung wohl hin und wieder mal kräftig auf die Füße getreten, wenn man Sie so lange hat zappeln lassen, wie?“ Joachim Aschoff lachte und drohte scherzhaft mit dem Finger.

Ulrich und Hanka Bartko lächelten verlegen zurück, wollten sich aber nicht näher dazu äußern. Der Mann hatte, ohne es zu wissen, ihre wunde Stelle getroffen. Es fiel ihnen beiden schwer, in den Chor der vorgegebenen, hohlen Phrasen einzustimmen und ein Hohelied auf Partei und Staat zu singen. Schon immer. Sie gehörten nicht unbedingt zu den Menschen, die man als linientreu bezeichnen konnte. Besonders Ulrich war in der Vergangenheit des Öfteren auf der Arbeit durch das eine oder andere falsche Wort unangenehm aufgefallen. Hanka und ihr Mann waren im selben Betrieb beschäftigt, sie als Freizeitpädagogin, er als Fahrer. Also durfte sie die Konsequenzen von Ulrichs unvorsichtigem Verhalten mit ihm gemeinsam ausbaden. Ganz sicher war es seinem vorlauten Mundwerk zu verdanken, dass ihre Urlaubsanträge immer wieder abgelehnt wurden. Aber einmal hatte es ja klappen müssen. Hanka und Ulrich hatten sich keine Gedanken darüber gemacht, woher der plötzliche Sinneswandel rührte. Sie hatten endlich den begehrten Scheck und einen Platz im Ferienheim erhalten! Nur das hatte gezählt!

Joachim Aschoff, der zu spüren schien, dass die Bartkos nur ein geringes Interesse zeigten, das Gespräch richtig in Gang zu bringen, übernahm das Wort und plauderte munter drauf los. Er sei Facharzt für innere Medizin an der Poliklinik Eisenach, sagte er, und Renate, seine Frau, sei Lektorin in einem kleinen Kinderbuchverlag. Eigene Kinder hatte das Ehepaar noch nicht.

Die Aschoffs zog es immer wieder mal auf einen Kaffee zur Wechmarer Hütte. Es sei mit dem Auto ja nur ein Katzensprung von Eisenach, wo sie in einem kleinen Eigenheim wohnten. Auch heute habe sie das herrliche Sommerwetter nach draußen gelockt. Und wo könne man einen der seltenen freien Tage besser genießen als hier, in der Natur, fernab vom städtischen Trubel?

Joachim Aschoff sog tief die würzige Waldluft ein und breitete die Arme aus. Er schien den ganzen Wald umfassen und an sich drücken zu wollen. Seine Frau warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu, vielleicht war es aber auch ein geheimes Signal unter Eheleuten, jedenfalls erhob sie sich gleich darauf und verschwand mit einer knappen Entschuldigung in Richtung Toiletten. Ulrich Bartko sah ihr hinterher. Mit einem Blick, der seiner Frau nicht verborgen blieb. Hanka kannte diesen Blick. Die Lektorin gefiel ihm. Zugegeben, sie war attraktiv und man musste als Mann schon blind sein, um das nicht zu bemerken. Trotzdem brauchte Ulrich ihr nicht so ungeniert auf den Hintern zu starren! Mehr, um sich von ihrer aufsteigenden Eifersucht abzulenken als aus Sorge, drehte sie sich nach ihren Kindern um.

 

Kerstin und Sascha tauchten gerade in den Wald ein, drohten aus ihrem Blickfeld zu verschwinden. Sie rief nach ihnen, wollte, dass sie zurückkamen.

„Lassen Sie die zwei doch“, wurde sie von Joachim Aschoff unterbrochen, „was soll ihnen schon passieren? Der Wald da hinten ist ein idealer Spielplatz. Keine Gefahrenstellen, weder Klippen, ein reißender Bach oder eine viel befahrene Straße.“

Hanka nickte. Der Mann hatte ja recht. Ihre Angst um die Kinder war zuweilen etwas übertrieben.

Zehn Minuten später war die Frau des Mediziners immer noch nicht zurück. Joachim Aschoff hatte ununterbrochen geplaudert und die Bartkos mit amüsanten Anekdoten in seinen Bann gezogen. Jetzt unterbrach er sich selbst in seinem Erzählfluss, schaute auf die Armbanduhr. Abrupt erhob er sich von seinem Platz.

„Ich denke, ich sehe mal nach meiner Renate. Sie wird ja wohl nicht in die Toilette gefallen sein.“ Er lachte glucksend. „Und dann müssen wir auch schon wieder fahren. Es wird höchste Zeit für uns. Schön, dass wir uns kennengelernt haben.“ Mit einem flüchtigen Abschiedsgruß wendete er sich ab und entfernte sich mit schnellen Schritten.

„Nette Leute“, sagte Ulrich Bartko zu seiner Frau gewandt.

„Vor allen Dingen sie“, entgegnete Hanka giftig. „Mit ihrem prallen Hintern!“ Sie konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen.

„Hanka, bitte!“, brauste Ulrich auf. „Nicht schon wieder!“

Sie hörte nicht hin, wandte sich zu ihren Kindern um. Kerstin und Sascha waren nirgends zu sehen. Sie kniff die Augen zusammen, versuchte, die bunten Jacken der beiden zwischen den Bäumen zu entdecken. Nichts.

„Uli, siehst du sie?“

„Wen?“, fragte ihr Mann begriffsstutzig.

„Die Kinder! Sie sind verschwunden!“

„Blödsinn! Sie können doch nicht weg sein! Wahrscheinlich spielen sie nur Verstecken.“

Hanka sprang auf. „Los, komm. Wir müssen sie suchen.“ Ihre Stimme klang schrill.

„Jetzt beruhig dich mal. Sie werden gleich wieder auftauchen.“ Ulrich Bartko konnte die Sorge seiner Frau nicht verstehen.

„Dann bleib doch sitzen! Ich suche sie allein“, fauchte Hanka und rannte los. Seufzend erhob sich ihr Mann und lief ihr hinterher. Er hatte Mühe, ihr zu folgen.

Sie erreichten den Waldrand. Von den Kindern keine Spur. Hanka rief ihre Namen, Ulrich stimmte lautstark in das Rufen ein, hatte sich von Hankas Angst anstecken lassen. Auf dem Platz vor dem Ausflugslokal waren etliche Gäste auf sie aufmerksam geworden und beobachteten ihr Treiben. Niemand machte Anstalten, ihnen zu helfen.

„Mami!“

Endlich! Es war Kerstins helle Stimme, die sie hörten, noch bevor sie das Mädchen sahen. Aufgeregt kam die Kleine zwischen den Fichten hindurch auf sie zugestolpert.

„Kind, da bist du ja!“, rief Hanka erleichtert und fing ihre Tochter auf, die sich in ihre Arme stürzte.

„Mami, Mami, da hinten gibt es Rehe und Hasen und einen Fuchs und ...“

„Wo ist dein Bruder? Wo ist Sascha?“, unterbrach Ulrich Bartko das aufgeregte Plappern des Mädchens.

Hanka warf ihrem Mann einen irritierten Blick zu, schien erst in diesem Moment zu begreifen, dass ihre Tochter allein zurückgekommen war. Ohne ihren Bruder. Sie schob das Mädchen auf Armlänge von sich weg, blickte ihr fest in die Augen. „Wo ist Sascha?“, fragte sie ernst.

„Die ... die Frau“, stammelte Kerstin verschüchtert, „die wollte uns die Tiere zeigen.“

„Welche Frau? Los, sag schon!“ Hanka schüttelte ihre Tochter unsanft an der Schulter.

„Die Frau von unserem Tisch“, greinte das Mädchen, „die mit dem Mann da gesessen hat. Ich durfte nicht mit. Weil die Tiere Angst kriegen, wenn zu viele Leute kommen, hat die Frau gesagt. Erst sollte Sascha die Rehe sehen, dann ich. Ich sollte warten. Da hinten.“ Kerstin drehte sich um, deutete auf einen unbestimmten Punkt zwischen den Bäumen.

„Sascha!“ Hanka stürzte, von plötzlicher Panik getrieben, vorwärts. „Sascha!“ Ihre Verzweiflung wurde vom Wald verschluckt.

„Komm!“ Ulrich Bartko schnappte sich seine Tochter, nahm sie auf den Arm, stolperte mit ihr seiner Frau hinterher.

Hanka stoppte abrupt. „Wo lang?“, fragte sie keuchend. Sie drehte sich um, blickte ihre Tochter an. Verzweiflung in den Augen. „Wo habt ihr mit der Frau gesprochen?“

„Da ...“ Kerstin deutete zögernd in eine Richtung, dann in eine andere. „Ich weiß nicht mehr.“

Sie liefen weiter. Ziellos. Rufend. „Sascha! Sascha ...!“

Dann, plötzlich, ein leises Motorengeräusch. Nicht das helle Zweitakt-Hämmern eines Trabbis. Mehr ein Brummen, voller und dunkler. Irgendein größeres Fahrzeug. Sie änderten ihre Richtung, liefen dem Geräusch entgegen. Genau in dem Moment, als sie den Waldweg erreichten, fuhr die dunkelblaue Limousine an ihnen vorbei. Ein Moskwitsch. Am Steuer saß eine Frau. Die Lektorin? Und hinten auf der Rückbank ein Kindergesicht, das ihnen durch die Scheibe entgegenblickte. Das Gesicht eines kleinen Jungen? Dann war der Wagen um eine Biegung aus ihrem Blickfeld verschwunden. Es war alles so schnell gegangen.

„Sascha! Das war Sascha!“ Hanka sah sich panisch nach ihrem Mann um. Der stand nur da, wie zur Salzsäule erstarrt. Kerstin, seine Tochter, rutschte durch seine Arme langsam zu Boden. „Ich weiß nicht“, murmelte er tonlos, „ich habe kaum etwas erkannt. Vielleicht war das jemand anderes. Ein anderes Kind.“

Sie schüttelte den Kopf, kroch auf allen vieren hastig die kleine, steile Böschung zum Weg hinauf, rannte wie eine Verrückte dem Auto hinterher. Zwanzig, dreißig Meter vielleicht, dann wurde sie langsamer, torkelte noch ein paar Schritte vorwärts, blieb stehen. Sie hielt sich die Arme vor den Bauch, beugte sich krampfhaft vor. Ihr Gesicht war schmerzhaft verzerrt, sie hatte Tränen in den Augen. „Der Junge in dem Auto ...“, keuchte sie. „Das war Sascha!“

1. Kapitel

Ende August 2018

Der Spätsommer trug diesen besonderen Duft in sich, den sie so sehr liebte. Überfluss, Süße, Reife und auch ein wenig Trägheit und Melancholie angesichts des nahen Sterbens und Abschiednehmens.

Hanka Altmann blickte in den Rückspiegel und ließ ihre Augen eine Sekunde lang auf den Kisten im Laderaum ihres Škoda Yeti ruhen, ehe sie sich wieder auf den Verkehr konzentrierte. Zufrieden lauschte sie dem leisen Klicken der Einweckgläser, die das Vibrieren und Schwingen der Karosserie aufnahmen und, dem Rhythmus des welligen Straßenbelags folgend, aneinanderschlugen.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Immer, wenn sie, wie jetzt, unterwegs war, um ihre Waren auszuliefern, verspürte sie diese seltenen Glücksgefühle. Ihre Marmeladen und ihr Eingemachtes waren heiß begehrt. In den nahe gelegenen Städten Braunschweig und Wolfsburg sowieso, aber auch etwas weiter entfernt, im Harz. Gaststätten, Hotels und Supermärkte gehörten zu ihren Hauptabnehmern. Doch es waren auch ein paar Privatkunden darunter, vornehmlich in den etwas abgelegeneren Ecken des Mittelgebirges.

Sie verkaufte nur sehr kleine Mengen, so viel, wie sie zusammen mit ihren drei Helferinnen aus der Nachbarschaft eben ernten und verarbeiten konnte. Doch das war immer noch weit mehr als das, was sie damals, vor ihrem Renteneintritt, hergestellt hatte. Gelegentlich packte auch ihr Mann mit zu, wenn es sein Gesund­heitszustand erlaubte. Aber eine wirkliche Hilfe war er nicht.

Hankas Produkte zeichneten sich dadurch aus, dass sie echt und natürlich waren, eingekocht zu Hause in der geräumigen Kellerküche. Nach den alten sorbischen Rezepten ihrer Mutter. In die Gläser kam nur das, was der Garten hinter dem Haus und die Obstbäume auf der gepachteten Wiese hergaben. Sie kaufte kein importiertes Obst und Gemüse ein, um es zu verarbeiten. Sie warb mit Echtheit, Ehrlichkeit und Natürlichkeit – keine Chemie, keine industrielle Massenware. Und es steckte ein Stück Erinnerung in jedem einzelnen Glas, Erinnerung an die gute alte DDR-Zeit, die bei Licht betrachtet alles andere als gut gewesen war – zumindest für sie. Aber den Kunden gefiel es, sie mochten die Ostalgie, diese rosaroten Träume von einer untergegangenen Republik, die sie mit den Aufklebern auf ihren Produkten verkaufte – das Emblem mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz und darunter die Aufschrift „Natur im Glas – so schmeckt der Osten!“ Solche Sachen gingen weg wie warme Semmeln. Wurden gehandelt wie Andenken, standen für Bodenständigkeit und Zusammenhalt der kleinen Leute in der ehemaligen DDR. Auch jetzt noch, knapp drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall.

Zusammenhalt – oh ja! Gepaart mit der Angst vor Verrat. Misstrauen. Lügen. Wem konnte man glauben, wem nicht? Sie konnte ein Lied davon singen, hatte am eigenen Leib die Konsequenzen ihrer vermeintlichen Fehltritte erfahren, wusste nur zu gut, zu welchen niederträchtigen Schandtaten die Handlanger eines durch und durch verdorbenen Staatsapparates fähig gewesen waren. Und dennoch betrieb sie mit ihren Einmachgläsern diese absurde Schönfärberei. Eigentlich müsste sie sich vor sich selbst und vor allen, die ebenfalls Opfer des Systems geworden waren, in Grund und Boden schämen! Galle stieg in ihrer Speiseröhre auf. Bitterer Geschmack im Mund. Sie schluckte heftig. Nicht schon wieder. Nicht jetzt! Der Tag war so schön verlaufen. Warum ihn zum Schluss mit düsteren Gedanken verderben?

Der Edeka-Markt in Elbingerode war die letzte Station auf Hankas heutiger Harz-Tour. Sie hatte die Bestellung, Kirsch- und Erdbeermarmelade, Pflaumenmus, Mixed Pickles und Gurken nach Spreewälder Art, in der Waren­annahme abgeliefert, jeweils zehn Gläser, von den Marmeladen die doppelte Anzahl. Danach hatte sie noch ein paar schnelle Worte mit dem Marktleiter, Dietmar Knoche, gewechselt, hinten, vor seinem Büro. Knoche war ein gutmütiger, kleiner Mann, Mitte vierzig, korpulent und mit schwammigem, rosafarbenem Gesicht. Um seine Glatze lag ein Kranz dünnen, hellblonden Haares. Seit Knoche den Supermarkt vor einem Jahr übernommen hatte, war sie schon öfter mit ihm zusammengetroffen. Für gewöhnlich hatte Knoche reichlich Zeit für sie übrig. Immer war er begierig, mit ihr über die alten Zeiten zu sprechen. Auch er war ein Kind der DDR und schien ein wohlbehütetes Zuhause gehabt zu haben. Obwohl die Wende ihn, nach allem, was sie von ihm wusste, nicht ins soziale Abseits gespült und er sich im kapitalistischen System durchaus seinen Platz erobert hatte, schien seine Sehnsucht nach der guten alten DDR-Zeit nicht abklingen zu wollen. In Hanka und ihren Einweck-Produkten fand er ein Stück dieser Zeit wieder.

Sie nahm ihm seine Schwärmereien nicht übel, hatte durchaus Verständnis. Auch sie kannte die Zeiten, als sie ein beschauliches, zufriedenes Leben geführt hatte. Mit ihrem Mann und den beiden Kindern. Bis zu jenem Tag, an dem sich alles binnen weniger Minuten geändert hatte. Aber das konnte Dietmar Knoche nicht wissen und sie hatte nicht vor, es ihm jemals zu sagen. Deshalb ließ sie sich auf seine schwärmerischen Erinnerungen ein, plauderte nett mit ihm und hielt ihre wahren Empfindungen verborgen.

Heute hatte sie sich nicht verstellen müssen. Knoche hatte keine Zeit für alte Geschichten gehabt, hatte irgendwie unter Druck gestanden. Zumindest war es ihr so vorgekommen. Na ja, er war der Marktleiter, trug Verantwortung. Hatte vielleicht die Konzernleitung im Nacken. Wer wusste das schon?

Sie war nach vorn und durch den Haupteingang in den Verkaufsraum gegangen, um die Einkäufe für das bevorstehende Wochenende zu erledigen. Wenn sie schon hier war, konnte sie das eine gleich mit dem anderen verbinden.

Zielstrebig schob sie den Einkaufswagen durch die Gänge, sammelte alles ein, was sie an Lebensmitteln und anderen Haushaltswaren benötigte. Dann steuerte sie auf die Spirituosenabteilung zu. Sie gönnte sich nur selten einen guten Tropfen. Aber heute war ihr danach.

Unentschlossen ließ sie ihre Augen über die Reihen mit Hochprozentigem gleiten, griff sich hier und da eine Flasche, nur um sie nach kurzem Zögern wieder ins Regal zurückzustellen. Vielleicht sollte sie es mit einem der Weine versuchen, die ein Stück weiter rechts in unüberschaubarer Vielfalt aufgereiht waren. Eine Spätlese von der Mosel, gut temperiert, wäre nicht schlecht.

 

Sie machte einige energische, schnelle Schritte in die entsprechende Richtung, die Augen fest an die aufgereihten Flaschen geheftet, als sie mit dem Wagen gegen einen Mann prallte, der plötzlich wie aus dem Nichts vor dem Regal aufgetaucht war. Sie sah den Mann straucheln und dann zu Boden gehen. Reflexartig versuchte er, sich an einem kreisförmig aufgebauten Display mit einem Sonderangebot spanischer Weine festzuhalten. Der Griff ging ins Leere, seine Hand streifte lediglich ein paar der Flaschen, die ins Schwanken gerieten, aber nicht herunterfielen. Einen Moment lag der Mann da auf dem Rücken und starrte seine Unfallgegnerin mit weit aufgerissenen Augen an.

Hanka klammerte sich erschrocken mit einer Hand an den Griff des Wagens, fasste sich mit der anderen an ihr Herz.

„Mein Gott! Entschuldigen Sie bitte!“, rief sie aus. „Ich habe Sie gar nicht kommen sehen!“

Der Mann erwiderte nichts. Ein, zwei Sekunden hing sein Blick noch an Hanka, lange genug, um eine Erinnerung in ihr wachzurufen. Dann rappelte er sich umständlich auf, wobei er sich mit der rechten Hand am Boden abstützte – die Anomalie war für einen Augenblick deutlich zu erkennen. Er brummte etwas Unverständliches in seinen schwarzen Vollbart und drückte sich an ihr vorbei.

Hanka sah ihm nach, die Augen auf seine Strickmütze geheftet, unter der drahtige Haare hervorquollen, die, von einem Gummiband zusammengehalten, bis auf den Kragen seines hellgrauen Overalls reichten. Dann war der Mann hinter einer der Regalwände verschwunden.

Die Augen, dachte sie, diese hellen blauen Augen, die passten nicht. Sie standen in einem merkwürdigen, leuchtenden Kontrast zu den schwarzen Haaren, die sein Gesicht einrahmten und seinen Kopf bedeckten. Sie passten auch nicht zu den Augenbrauen, zwei dicken, dunklen Balken, die seinen ohnehin düsteren Gesichtsausdruck zusätzlich verstärkten. Die Augen des Mannes erinnerten sie vielmehr an den kleinen vierjährigen Jungen mit seinem strohblonden Schopf, dem von Geburt an der kleine Finger der rechten Hand fehlte. An ihren Sohn, den sie vor fast vier Jahrzehnten verloren hatte. Ihr kleiner Sascha, den alle Welt für tot hielt. Aber er lebte! Sie hatte es immer gewusst. Sie war seine Mutter! Sie hatte die Suche nie aufgegeben. Und jetzt dieser Mann. Seine Augen, der fehlende Finger. Sie hatte doch richtig gesehen? Der kleine Finger an seiner Hand hatte gefehlt, ganz sicher! Oder doch nicht? Es war alles so schnell gegangen.

Sie wendete ihren Einkaufswagen, schob ihn eilig vor sich her, blickte links und rechts in die Regalgänge, bog in einen der Gänge ab, rempelte Kunden an, die ihr im Weg standen, drückte sich mit einer flüchtigen Entschuldigung an ihnen vorbei. Den Mann mit den blauen Augen konnte sie nirgends entdecken.

Dann sah sie ihn doch. Vorn an einer der Kassen. Hinter ihm hatte sich eine beträchtliche Schlange gebildet, sodass sie ihn erst bemerkte, als er sich zur Kassiererin vorbeugte und mit ihr sprach. Er nahm etwas in Empfang, vermutlich Wechselgeld, und steuerte mit einem kleinen Stoffbeutel in der Hand auf den Ausgang zu.

Hanka wollte ihm hinterherrufen, seinen Namen – Sascha, ihn zum Warten bewegen. Im letzten Moment begriff sie, wie aussichtslos das war. Stattdessen ließ sie ihren Einkaufswagen einfach stehen, hetzte zur Kasse und drängelte sich, ohne Rücksicht zu nehmen, an den Kunden in der Schlange vorbei. Die verärgerten Proteste überhörte sie. Es interessierte sie nicht, was die Leute ihr zuriefen. Sie musste dem Mann hinterher, ihn aufhalten, mit ihm sprechen!

Vor dem Eingang stoppte sie ab, sah sich suchend um, ließ ihre Augen über den Parkplatz gleiten. Weg! Er war weg! Sie konnte ihn nirgends entdecken. Hinten links stieß ein klappriger silbergrauer Kastenwagen rückwärts aus der Reihe der parkenden Autos, der Vorwärtsgang wurde eingelegt und der Wagen rollte auf sie zu. Langsam fuhr er an ihr vorbei. Die tief stehende Sonne blendete sie und so erkannte sie die Person hinter dem Steuer erst im letzten Moment. Es war der Mann!

„Halt! Stopp!“, rief sie dem Kastenwagen hinterher, hob die Arme, winkte verzweifelt. Zwecklos. Der Fahrer machte keine Anstalten zu bremsen oder gar zu halten. Vielleicht hatte er sie nicht gesehen oder er wollte sich nicht von ihr aufhalten lassen. Der Wagen verließ den Parkplatz, bog in die Straße ein, beschleunigte und war wenige Sekunden später aus ihrem Blickfeld verschwunden.

Hanka senkte den Kopf, drehte sich um und schlich enttäuscht in den Markt zurück. Nein, es war vermutlich eines ihrer Hirngespinste gewesen, gestand sie sich ein. Wieder einmal. Und dennoch – bei allem, was dagegen sprach, so eine starke innere Gewissheit hatte sie noch nie gehabt, in all den Jahren nicht, in denen sie nach Sascha suchte. Oder hatten diejenigen doch recht, die ihr eine massive psychische Instabilität bescheinigten und sie am liebsten aus dem Verkehr ziehen würden? Diejenigen, die ihr klarzumachen versuchten, dass sie mit ihrer Pene­tranz und ihrem neurotischen Verhalten eine Zumutung für ihre Mitmenschen war? Wurde sie langsam tatsächlich verrückt?