Seewölfe - Piraten der Weltmeere 175

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 175
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-512-5

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Ein geschnitzter Drachenkopf ragte vom Bug des schlanken hölzernen Schiffes auf. Das Maul des Ungeheuers war weit geöffnet und schien jeden Augenblick einen Feuerhauch in die weiße Uferlandschaft speien zu wollen, der Eis und Schnee zum Schmelzen brachte.

Fast lautlos glitt das Schiff dahin und drang in die Bucht ein. Nur seine langen Riemen verursachten leise, klatschende Geräusche, wenn sie in die eisigen Fluten tauchten und sich wieder daraus hoben.

Vereinzelte Eisteppiche dümpelten noch auf den flachen Wellen, doch der harte Panzer, der während der kältesten Monate die gesamte Bucht verschloß, hatte sich jetzt, in der wärmeren Jahreszeit, fast völlig aufgelöst – der Weg zum schneeüberwachsenen Ufer hin war frei.

Rauhe Gestalten mit langem Haar und zottigen Bärten hockten auf den Ruderbänken des Schiffes und bewegten die Riemen im Takt, Kerle in dicker Kleidung aus Bären- und Moschusochsenfell mit schweren Helmen aus Bronze und aus Kupfer auf den Häuptern. Sie waren blond, rot- und braunhaarig, und in ihren überwiegend hellen Augen nisteten wilder Mut und Grausamkeit. Ihre Münder waren hart und verkniffen. Sie wechselten kein Wort miteinander.

Wild auch die Männer, die vom Bug des Schiffes aus die Uferregion beobachteten: hochgewachsen und verwegen, pelzvermummt, die Gesichter von unzähligen Kämpfen, Abenteuern und Entbehrungen gezeichnet. Ihre groben, schwieligen Fäuste hatten sich an die Waffengurte gelegt, in deren Scheiden große Schwerter und Messer steckten.

An ihrer Spitze stand die wohl unheilvollste und furchterregendste Gestalt an Bord dieses rätselhaften Schiffes, ein Mann mit schwarzem, strähnigem Haar und dem kalten Blick tödlicher Entschlossenheit in den dunklen Augen. Er überragte seine wilden Gesellen um gut einen halben Kopf, und diese körperliche Überlegenheit und seine Kampfkraft und Gnadenlosigkeit waren die Eigenschaften, die ihn dereinst zum Führer dieses Schiffes und dieser Mannschaft hatten werden lassen.

Vierzig bärtige, wildmähnige Männer auf einem Schiff, das nur einen Mast führte und aus sehr weit entfernten Gefilden zu stammen schien – an diesem Morgen unter der Mitternachtssonne, die den Tag nie verblassen ließ, durchquerte es die Bucht in ihrer ganzen Länge und steuerte genau auf die Siedlung aus halbkugelförmigen weißen Schneehäusern zu, die an ihrem Ende lag – ein Igludorf der Eskimos von Thule.

Bilonga, das Eskimomädchen, sah überrascht von ihrer Arbeit auf, als sie den Ruf des Postens vernahm. Er verhieß nichts Gutes, dieser Ruf, und ebenso beunruhigend war der Klang der anderen Männerstimmen, die jetzt draußen, vor den Iglus, ertönten.

Bilonga legte ihre Handarbeit weg, eine reich verzierte Fingermaske mit einer prächtigen weißen Mähne, die Nanoq, der Eisbär, geliefert hatte. Bilonga hatte diese Mähne selbst in die Lederumrandung der Maske genäht und war damit beschäftigt gewesen, die weißen Haare mit einem aus Karibuknochen geschnitzten Kamm zu frisieren. Viele Masken wurden um diese Zeit im Igludorf angefertigt, denn wenn die Männer, die am Vortag mit ihren Hundeschlitten zur Jagd aufgebrochen waren, zurückkehrten, sollte das Sommerfest der Schamanen gefeiert werden.

Okvik, Häuptling des Stammes und Bilongas Vater, war als Anführer des Jägertrupps mit seinem Hundegespann an der Spitze des zwanzig Schlitten zählenden Zuges unterwegs. Eisbären und Robben wollte er erlegen, um die Fleischvorräte für die Wintermonate zu ergänzen und Felle für neue Kleidung zu besorgen.

Nur wenige Männer waren im Dorf zurückgeblieben, um es zu bewachen und die Frauen, Kinder und Greise vor jeder Gefahr zu beschützen.

Bilonga wußte, daß eine solche Gefahr jetzt in unmittelbarem Verzug war, und deshalb kroch sie durch die Zugangspassage des Iglus ins Freie, um nach dem Rechten zu sehen.

Im Windfang der Passage saß die Großmutter. Sie hatte auf enthaarter Robbenhaut gekaut, um sie weich und geschmeidig zu machen, damit aus dem so entstehenden Rohleder Stiefelsohlen zurechtgeschnitten werden konnten. Jetzt aber reckte auch sie ihren Hals, schlug den Fellvorhang des Iglus ein Stück beiseite und spähte halb neugierig, halb ängstlich ins Freie.

Bilonga schob sich an ihr vorbei, strebte nach draußen und richtete sich vor dem Eingang auf.

Sie erstarrte, als sie sah, warum der Posten den Warnruf ausgestoßen hatte. Ein Schiff, hoch aus dem Wasser aufragend und von einem rot und weiß gestreiften Segel gekrönt, bewegte sich durch die langgestreckte Bucht direkt auf das Dorf zu. Es schob eine Bugwelle vor sich her, und seine Riemen wirkten wie die langen Beine eines urweltlichen Ungeheuers. Dieser Eindruck wurde durch den Drachenkopf am Bug noch verstärkt – eine Höllenkreatur, kein Schiff, schien über das Wasser auf die Siedlung zuzukriechen.

Am Ufer liefen die jüngeren Männer des Stammes zusammen. Sie riefen durcheinander, gestikulierten und schienen erregt zu beratschlagen, wie sie sich verhalten sollten.

Bilonga sah Ipiutak, ihre Mutter, und zwei andere Frauen vom Iglu der Schamanen aus zu den Männern hasten.

„Das ist das Schiff des Todes“, sagte die Großmutter hinter Bilongas Rücken. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie aus dem Iglueingang. „Ich habe davon gehört, daß es die südlicheren Küsten heimsucht, es gehen die schaurigsten Geschichten über seine Besatzung und seinen mörderischen Führer um. Ja, das ist das Schiff des Todes.“

Bilonga spürte, wie die Angst von ihr Besitz ergriff und ihr die Kehle zuschnürte.

„Sprich doch nicht so“, stieß sie entsetzt hervor.

„Die Männer mit den Bärten“, fuhr die Alte dessen ungeachtet fort. „Sie werden über uns herfallen. Sie werden euch jungen Mädchen Gewalt antun und die Alten töten.“

„Nein!“

„Und doch ist es so. Du wirst es sehen.“

„Aber dann müssen wir etwas tun!“ rief Bilonga aus.

„Es gibt nichts zu tun. Wir sind nicht stark genug, um uns zur Wehr zu setzen“, sagte die Alte. „Wir können auch nicht fliehen. Wir können nur geduldig unser Schicksal abwarten.“

„Vielleicht sind sie nur neugierig, diese Männer mit den Bärten“, sagte das Mädchen. „Vielleicht schauen sie sich unser Dorf an und fahren dann wieder fort. Vielleicht wollen sie auch etwas zu essen eintauschen.“

„Sie nehmen sich, was sie brauchen“, murmelte die Alte.

Bilonga hätte sie am liebsten angeschrien, sie solle endlich schweigen, doch der Respekt vor dem Alter verbot es ihr. So stand sie nur mit fest geballten Händen da und beobachtete einerseits das Schiff, das immer näher heranglitt, und andererseits ihre Mutter Ipiutak und die anderen Frauen, die bei den Männern angelangt waren und mit ihnen zu debattieren schienen.

Ipiutak wandte sich schließlich als erste von den Männern ab und hielt im Laufschritt auf ihre Tochter zu. Die anderen Frauen folgten ihrem Beispiel und kehrten zu den Iglus zurück.

„Bilonga!“ rief Ipiutak heftig atmend. „Die Fremden von dem Schiff scheinen nichts Gutes im Schilde zu führen. Wahrscheinlich sind sie Seeräuber.“

„Ich habe es ja gesagt“, murmelte die Großmutter. „Sie sind die Teufel und Dämonen der großen Wasser, die sich das, was sie haben wollen, einfach nehmen.“

„Die Männer versuchen, das Schiff aufzuhalten“, sagte Ipiutak, die jetzt dicht vor ihrer Tochter verharrte. „Es ist der einzige Versuch, den sie unternehmen können, um Unheil von unserem Dorf abzuwenden.“

„Sie werden scheitern“, ließ sich die Alte vernehmen.

Bilonga legte ihre rechte Hand auf den Arm der Mutter. „Bitte sag ihr, sie soll nicht so reden – bitte.“

„Wir sind zum Sterben verdammt“, sagte die Großmutter.

Ipiutak kniete sich neben sie hin und sprach eine Weile auf sie ein. Die Alte beruhigte sich daraufhin ein wenig und beschränkte sich darauf, Unverständliches zu murmeln. Ipiutak berührte kurz das zerknitterte, ledrig wirkende Gesicht mit den Fingern, lächelte der Alten aufmunternd zu und richtete sich wieder auf. Die Greisin war Akviks, nicht ihre Mutter, und doch hatte Ipiutak dank ihrer freundlichen, umgänglichen Wesensart ein sehr gutes Verhältnis zu ihr.

Ipiutak trat wieder zu ihrer Tochter Bilonga, und sie verfolgten beide, wie die Männer über die schmalen, wackeligen Anleger in ihre Kajaks kletterten, die Leinen lösten, sich abstießen und zu den Paddeln griffen. Rasch nahmen sie Fahrt auf und hielten mutig auf das große Drachenboot zu.

Die Männer in den insgesamt acht Kajaks hatten nicht einmal Zeit, den bärtigen Fremden etwas zuzurufen und sich nach deren Absichten zu erkundigen. Kaum hatte sie die Distanz, die das Schiff noch von dem Ufer der Bucht trennte, auf etwas mehr als die Hälfte überbrückt, da wurden sie auch schon von einem Pfeilhagel empfangen.

 

Die Pfeile rasten von den Sehnen der Bogenschützen, die auf der vorderen und achteren Plattform des Drachenbootes standen, und fanden mit erschrekkender Präzision ihr Ziel. Ihre scharfen Spitzen durchdrangen die Fellkleidung der Eskimos, bohrten sich in die Leiber der aufschreienden Männer und löschten ihr Leben mit einem Schlag aus. Vier Krieger ließen die Paddel los, rissen die Arme hoch, sackten auf die Seite und gingen mit ihren kippenden Kajaks unter.

Im Dorf gellten die Schreie der Frauen.

Die vier anderen, nicht von Pfeilen getroffenen Eskimos hoben mit Wutgebrüll ihre Harpunen und zielten auf das Drachenboot. Für einen Augenblick schienen die Angreifer fasziniert zu sein von der Kunst, mit der die Eskimos, die Harpune in der einen, das Paddel in der anderen Faust, in ihren wackligen Kajaks balancierten. Der Pfeilbeschuß ebbte ab.

Die Eskimos schleuderten ihre Harpunen. Es schien dabei ein Wunder zu sein, daß sie mit ihren Kajaks nicht kenterten.

Zwei Harpunen bohrten sich mit dumpfem Laut in die Bordwand des fremden Schiffes und blieben darin stecken. Die beiden anderen huschten flach über das Schanzkleid und rissen zwei der Ruderer von ihren Bänken.

Die bärtigen Kerle heulten vor Wut auf, als sie ihre Kumpane blutüberströmt zusammenbrechen sahen. Sie schossen Pfeile und Speere auf die vier mutigen Eskimos ab. Der Abstand zwischen den feindlichen Parteien verringerte sich mehr und mehr, und damit wuchs die Chance, den jeweiligen Gegner zu treffen.

Ein fünfter Eskimo brach mit gurgelndem Todeslaut in seinem Kajak zusammen. Der Kajak schlug um, sein Besitzer tauchte in die eisigen Fluten der Bucht und ertrank darin.

Die drei restlichen Krieger warfen die Reserve-Harpunen, die sie in ihren Kajaks mitführten. Wieder hatten sie zwei Treffer zu verzeichnen: Ein Ruderer des Drachenbootes stürzte, schwer am Hals verletzt, von seinem Sitzplatz. Ein anderer, der auf der vorderen Plattform stand und sich gerade anschickte, einen weiteren Pfeil mit seinem Bogen abzuschießen, sank aufstöhnend neben seinem schwarzhaarigen Anführer zusammen. Die Harpune steckte mitten in seiner Brust und wippte leicht hin und her, als er leblos auf dem Rücken liegenblieb.

Der Schwarzhaarige schleuderte einen Speer, den er gerade hatte werfen wollen, von sich, griff statt dessen zu einer Muskete, die einer seiner Gefährten ihm reichte, spannte den Hahn, legte auf einen der Kajakfahrer an und drückte ab.

Schwer brach der Schuß. Eine weiße Qualmwolke löste sich, stieg in den Himmel und trieb zu den Iglus hinüber. Der Eskimo, dessen Harpune den Bogenschützen getroffen hatte, reckte die Arme auf groteske Weise und verlor die Balance. Er tauchte unter, wie auch die fünf Stammesbrüder vor ihm untergegangen waren, aber er war schon tot, als das kalte, klare Wasser ihn aufnahm, denn die Musketenkugel hatte sein Herz getroffen.

Zwei Kajakkrieger waren jetzt noch geblieben. Sie griffen zu Pfeil und Bogen, um die Invasion der stark überlegenen bärtigen Kerle doch noch aufzuhalten – ein ebenso beherztes wie aussichtsloses Unterfangen.

Der Schwarzhaarige vertauschte die leergeschossene Muskete mit einer zweiten, frisch geladenen.

„Wir hätten ihnen gleich mit Kugeln einheizen sollen“, stieß er mit verzerrter Miene aus. „Es kann mir doch verdammt egal sein, ob die Schüsse weithin zu hören sind! Wer will uns aufhalten?“

„Keiner, Jor!“ rief einer der Männer an seiner Seite.

Jor, der schwarze Pirat, richtete die Muskete auf den einen Kajakmann, der nun längsseits des Drachenbootes glitt, drückte wieder ab und quittierte den furchtbaren Aufschrei des Eskimos mit einem grimmigen Laut der Zufriedenheit.

Auch dieser Krieger der Eskimos war somit ins Jenseits befördert worden – sieben gekenterte Kajaks trieben wie große, behauene Baumstämme in dem klaren Wasser, während das unheimliche Schiff sich weiterschob. Sie blieben hinter dem Heck des Einmasters in der Bucht zurück – als grausige Gräber für die in ihren Mannlöchern steckengebliebenen Toten.

Der achte Kajakfahrer hatte hastig gewendet und paddelte in panischem Entsetzen zurück zu den Anlegern. Jeder neue Versuch, die Angreifer doch noch zu stoppen, war ein reines Selbstmordunternehmen. Er kehrte zu seinem Stamm zurück, um zu retten, was noch zu retten war.

Jor, der schwarze Pirat, feuerte die Ladung einer dritten Muskete auf den Rücken dieses Eskimos ab, doch diesmal traf er nicht. Um gut zwei Handspannen raste die Kugel an der linken Schulter des Mannes vorbei.

Mit seinem leichten Kajak war der Eskimo sehr schnell und beweglich, schneller und gewandter als das Schiff. Er hatte einige Entfernung zwischen sich und die Feinde zu legen vermocht, und dieser Abstand vergrößerte sich jetzt noch ein wenig, bevor er die Anleger des Dorfes erreicht hatte.

Bilonga, die das Sterben der sieben Eskimos fassungslos beobachtet hatte, stammelte: „Wir müssen etwas tun– wir können doch nicht einfach dastehen und zusehen wie …“

„Wir fliehen“, sagte ihre Mutter.

Sie blickte zu den älteren Männern des Dorfes, die soeben Anstalten trafen, die letzten Kajaks und Umiaks des Stammes zu bemannen.

Der Überlebende des Kampfes paddelte jedoch mit seinem Kajak direkt auf sie zu und rief: „Nicht! Es hat keinen Sinn! Wir können uns nur noch zurückziehen!“

„Ins Landesinnere“, sagte Ipiutak, Bilongas Mutter. „Dort liegt unsere letzte Chance. Beeilen wir uns. Wir müssen fort sein, ehe diese Teufel landen.“

Bilongas Finger hatten sich um den Arm ihrer Mutter verkrampft. Sie stand stocksteif da und fühlte sich wie gelähmt. Sie hatte in diesem entsetzlichen Moment den Eindruck, sich nie wieder bewegen zu können, sondern wie eine Statue aus Eis ausharren zu müssen, bis die grausamen Kerle mit den zottigen Bärten und den Helmen auf den Häuptern heran waren und wie die reißenden Bestien über sie herfielen.

2.

„Deck ho!“ schrie Bill, der Moses, aus dem Großmars der „Isabella VIII.“ „Treibendes Objekt Steuerbord voraus! Eine Eisscholle mit einem Lebewesen darauf!“

„Mit einem Lebewesen?“ wiederholte der Seewolf. Er stand auf dem Quarterdeck, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und spähte zu seinem Ausguck hinauf.

„Scheint mir ein Tier zu sein, Sir!“

„Etwa wieder ein Eisbär?“

„Nein, etwas Dunkleres und Fetteres als ein Eisbär!“

„Ich komme selbst ’rauf!“ rief Hasard.

Er sprang die Stufen des Niederganges zur Kuhl hinunter, lief an Carberry, Ferris Tucker, Batuti und den anderen, die noch mit dem Ausweiden des Eisbären beschäftigt waren, vorbei und stieg auf die Rüsten der Luvhauptwanten. Rasch enterte er die Webeleinen hoch und kletterte oben, am Großmars, über die Segeltuchumrandung.

Er stand nun neben Bill, der gerade wieder durch seinen Kieker geblickt hatte, und fragte ihn: „Na, hast du etwas Genaueres herausgefunden, Bill?“

„Ja, Sir. Es ist ein Walroß.“

„Sehr gut.“

„Ich soll mich präzise ausdrücken, hat der Profos gesagt, aber das kann ich nur, wenn ich genügend Einzelheiten erkenne. Daran habe ich mich gehalten – sonst hätte ich vorher kein ‚treibendes Objekt‘ gemeldet.“

Hasard, mußte lachen. „Ist ja auch richtig So, Bill.“

„Danke, Sir.“

Der Seewolf hatte inzwischen selbst ein Spektiv aus der Tasche seiner dick gefütterten Renfelljacke gezogen und hob es ans Auge. Er vermochte durch die Optik ebenfalls ziemlich gut die Konturen des mächtigen Meeressäugers zu erkennen. Mit erhobenem Kopf hockte das Walroß da und erinnerte in seiner Bewegungslosigkeit an eine Statue aus grauschwarzem Stein. Als scharfer Kontrast zu dieser Masse aus Speck und Fleisch ragten die weißen Stoßzähne aus dem Oberkiefer.

Im Juni brach in Nordgrönland das Meereseis auf, wie Hasard von Hendrik Laas, dem Dänen, den sie bei Plymouth getroffen hatten, wußte. Wenn die riesigen Packeisschollen mit dem Strom nach Süden trieben, dann zogen die Walroßherden nach Norden, zu den reichen Muschelbänken in den Fjorden von Thule. Zum Schlafen schoben sich die massigen Tiere auf die Meereseiskante oder auf Treibeisschollen, und dabei konnte es passieren, daß, das eine oder andere im Schlummer etliche Meilen nach Süden befördert wurde. Wachte das Walroß auf, schob es sich in die Fluten und schwamm wieder nach Norden hinauf.

Dieser Einzelgänger hier schien ans Fortschwimmen jedoch vorläufig nicht zu denken – oder er döste mit erhobenem Haupt vor sich hin und nahm gar nicht wahr, was um ihn herum geschah.

„Wir sind nach meiner Schätzung noch gut fünf Meilen von ihm entfernt, Sir“, sagte Bill.

„Ja“, entgegnete der Seewolf. „Die Scholle bewegt sich aber nicht genau auf uns zu, sondern scheint von einer Abdrift erfaßt worden zu sein, die sie weiter nach Osten befördert, also auf die Westküste von Grönland zu.“

„Ja, das fällt mir jetzt auch auf, Sir.“

„Mit anderen Worten, wenn wir das Walroß haben wollen, dann können wir nicht darauf warten, daß es uns sozusagen in die offenen Arme treibt.“

„Sie wollen diesen Burschen dort erlegen?“

„Das habe ich vor, Bill.“

„Ist Walroßfleisch denn genießbar?“

„Bestimmt genießbarer als Walspeck und Tran, unsere einzigen wirklichen Reserven“, sagte Hasard. „Wir heften uns dem Kameraden also an die Fersen und versuchen ihn zu jagen. Du läßt ihn nicht aus den Augen, klar?“

„Aye, Sir!“

Hasard verließ den Großmars und enterte zur Kuhl ab. Steifgefroren waren die Webeleinen der Großwanten. Hier und da brach das Eis unter Hasards Stiefeln weg wie dürres Reisig, aber er konnte sich nicht immer darauf verlassen. Ständig mußte er damit rechnen, abzugleiten und den Halt zu verlieren.

An Deck war die Gefahr des Ausrutschens weitgehend durch den Sand und die Asche gebannt, die der Kutscher auf die Anweisung seines Kapitäns hin ausgestreut hatte. Hier konnte man sich bewegen, ohne das Gefühl zu haben, über rohe Eier zu laufen und jeden Augenblick auszurutschen.

Nanoq, den toten Eisbären, hatten Carberry und die anderen auf die Kuhlgräting gebettet, damit sein schönes weißes Fell durch den Sand und die Asche nicht verunziert wurde. Sie waren derart damit beschäftigt, ihr Werk zu vollenden, daß sie es kaum bemerkten, wie der Seewolf zu ihnen trat.

Hasard sah dem Kutscher zu, wie dieser das Fleisch des Bären sorgsam mit einem scharfen Messer zerlegte.

„Also gibt es doch Eisbärensteaks, Kutscher“, sagte er. „Und dabei warst du anfangs so überzeugt davon, daß man nur das Fell von Nanoq verwenden könne.“

Der Kutscher schaute auf und lächelte. „Ich hoffe, einer Täuschung erlegen zu sein. Womöglich habe ich Hendrik Laas’ Worte falsch interpretiert …“

„Kutscher, du sollst keine Reden halten, sondern arbeiten“, polterte der Profos los. „Komm zu Pott, Bursche, wir wollen heute mittag was Kräftiges in den Magen kriegen.“

„Ed, du vergißt, daß ich den Kutscher angesprochen habe“, sagte Hasard. „Hast du daran etwas auszusetzen?“

Carberry wurde fast rot in seinem wüsten Narbengesicht. „Natürlich nicht, Sir. Äh, Verzeihung, aber – Himmel, Arsch, ich hab’s ja immer gesagt, an unserem Kutscher ist ein Bordkaplan verlorengegangen. Hölle, ich verlange ja nur, daß er sich klar und deutlich ausdrückt. Kutscher, du Himmelhund, kann man das Fleisch nun essen oder nicht?“

„Das muß ich erst ausprobieren.“

„Zum Donnerwetter noch mal …“

„So, wie das Fleisch aussieht, wie es sich anfühlt und wie es riecht, müßte es eigentlich ganz gut schmecken“, fuhr der Kutscher rasch fort, ehe der Profos eine seiner Wortkanonaden loslassen konnte. „Aber um ganz sicher zu sein, müssen wir es eben mal ausprobieren.“

„Dann heiz deine Kombüse an“, brummte Ed Carberry. „Fang an zu braten, Mensch – und vergiß nicht, uns Salz zu bringen, damit wir das Fell an der Fleischseite damit einreiben können.“

„Sonst noch was?“ erwiderte der Kutscher gallig.

„Hasard und Philip!“ rief der Seewolf über Deck. „Helft dem Kutscher, das Bärenfleisch in die Kombüse zu schaffen!“

„Aye, aye, Sir!“ Die Zwillinge meldeten sich von der Back, wo sie gerade mit Siri-Tong und den beiden O’Flynns gestanden hatten, um nach dem Walroß Ausschau zu halten. Sie wandten sich um, setzten sich in Marsch und hasteten den Niedergang hinunter, um die Order ihres Vaters zu befolgen.

 

„Kutscher“, sagte der Seewolf. „Angenommen, das Bärenfleisch ist tatsächlich genießbar – wie viele Tage kannst du die Crew damit verpflegen?“

„Nicht mehr als drei.“

„Und danach?“

„Danach stehen uns praktisch nur noch unsere Wal-Reserven zur Verfügung.“

„Wir brauchen Fleisch, dringender denn je“, sagte der Seewolf. Er drehte sich nach achtern um, während Philip und Hasard junior herbeiliefen und mit dem Kutscher zusammen das Bärenfleisch in die Kombüse schleppten, und rief Ben Brighton und Pete Ballie, dem Rudergänger, zu: „Wir nehmen Kurs auf das Walroß und folgen ihm!“

„Aye, Sir!“

Pete Ballie bewegte das Ruderrad und hielt mehr Steuerbord. Carberry, von dem Ruf des Seewolfs ebenfalls angetrieben, ließ von der Arbeit an der Jagdbeute ab, erhob sich und trieb die Crew mit den üblichen freundlichen Worten an. Sein Gebrüll hallte über Deck.

Die „Isabella“ fiel etwas ab. Der Wind aus Südwesten drückte sie zügig auf die Eisscholle mit dem Walroß zu.

Wenig später rief Bill aus dem Ausguck: „Deck! Sir! Land in Sicht! Wir haben die Küste Steuerbord voraus!“

Hasard nickte. Es war so, wie er es sich gedacht hatte – eine Strömung, die nicht mit der Drift der Fluten nach Süden zur Davis-Straße konform ging, dirigierte den dicken Eisteppich mit dem Walroß darauf auf Grönland zu.

So kehrten die Seewölfe zu der riesigen Insel zurück, auf der sie vor zweieinhalb Tagen ein wenig erfreuliches Abenteuer durchgestanden hatten. Sie hatten Nanoq, den Eisbären, gejagt und dabei gehofft, auch auf andere Beute zu stoßen, da sie unbedingt Fleisch brauchten, aber dann war ein Blizzard mit Urgewalten über sie hergefallen und hatte ihren Landtrupp versprengt.

Carberry, Ferris Tucker und Batuti waren verschollen gewesen. Sie hatten auf einem Eisberg festgesessen, der sich im Blizzard vom Festland gelöst hatte – ein tragisches Ereignis, das die drei Männer für immer von ihren Kameraden hätte trennen können.

Doch dann hatte sich alles zum Guten gewendet: Hasard und seine Crew hatten die Vermißten wiedergefunden. Dem Profos, dem Schiffszimmermann und dem schwarzen Herkules aus Gambia war es indes gelungen, den „Nanohuaq“, den sehr großen Eisbären, zur Strecke zu bringen.

Sie hatten dies fast ohne Schußwaffen fertigbringen müssen, und Batuti hatte eine Blessur am Arm davongetragen. Inzwischen befand er sich jedoch auf dem besten Weg zur Genesung, konnte den Arm schon wieder bewegen und auch kräftig mit zupacken. Die Dämonen von Grönland, die er so sehr fürchtete, hatten ihn wohl doch nicht bei sich in den Schlünden der Finsternis haben wollen.

Carberry hatte sich sehr schuldbewußt gezeigt, da er ja schließlich zur Jagd auf Nanoq gedrängt hatte, aber Hasard hatte ihm seine Selbstvorwürfe ausgeredet. Immerhin waren sie aus Notwendigkeit, nicht aus reiner Abenteuerlust und Eitelkeit auf Jagd gegangen, und er, der Kapitän, hatte sein Einverständnis gegeben.

Auf dem Eisberg hatten sie noch eine Weile umhergeforscht und auf diese Weise Nanoqs Höhle entdeckt. Und wirklich, der Bär hatte den Schnapphahn-Revolverstutzen und die Muskete, die Carberry und seine beiden Begleiter im Kampf gegen das Tier verloren hatten, in seinen Schlupfwinkel geschleppt. Schlau war er gewesen, das mußte man ihm lassen.

Kein anderes Wild hatte es auf dem Eisberg gegeben. Deshalb hatte der Seewolf den Riesenblock so schnell wie möglich wieder verlassen und war etwas weiter nördlich erneut an Land gegangen. Aber auch hier war die Suche nach jagdbarem Wild ergebnislos verlaufen.

So hatte er beschlossen, zwei Tage lang nach Norden hinaufzusegeln, dem legendären Thule näher – und hoffentlich auch jenen Tieren näher, die ihnen das Überleben in der arktischen Kälte und Trostlosigkeit garantierten. Zu den Narwalen, den Robben, Walrossen, Polarfüchsen und Schneehühnern wollte der Seewolf, denn die Proviantvorräte der „Isabella“ waren bedenklich zusammengeschrumpft. Wenn sie nicht bald etwas erlegten, nagten sie am Hungertuch.

Das Auftauchen des Walrosses schien jedoch eine Wende anzukündigen. Wenn das Fleisch eines solchen Tieres auch alles andere als eine Delikatesse war – es war immer noch besser, fettige, tranig schmeckende Braten zu kauen als überhaupt nichts.

Mit dem fachgerechten Ausweiden des Bären war man nun endlich fertig, aber die Rationen, die der Kutscher aus dem Fleisch für die zweiundzwanzigköpfige Crew zubereiten würde, hielten auch nicht mehr als drei oder höchstens vier Tage vor, und danach mußte Nachschub vorhanden sein.

Die „Isabella“ glitt dahin und holte rasch auf. Das Walroß auf der Eisscholle war inzwischen deutlich mit bloßem Auge zu erkennen – und auch die Küste sah man von der Back aus, eine weiße, öde, entmutigende Küste, der auch der größte Optimist dieser Welt nichts Einladendes abgewinnen konnte.

Durch das Spektiv gewahrte Hasard, daß das Walroß ihnen den Rükken zugekehrt hielt und unausgesetzt zur Küste zu blicken schien. Das bedeutete, daß sie sich von achtern an den Koloß heranpirschen konnten. Hasard holte eine besonders weittragende Muskete mit sehr langem Lauf aus dem Waffenschrank seiner Kapitänskammer, stieg damit auf die Back und trat zu Siri-Tong und den O’Flynns.

„Haltet auch ihr eure Waffen bereit“, sagte er. „Gleich ist es soweit. Wir sind fast auf Schußweite an dem Kameraden dran.“

Old Donegal Daniel O’Flynn klopfte mit der Hand gegen das Bodenstück der an der Backbordseite des Vordecks montierten Drehbasse. „Wie wäre es, wenn wir ihm hiermit ein Ding verpassen? Das Geschütz hat eine größere Reichweite als jede Handfeuerwaffe. Außerdem können wir völlig sicher sein, daß ein einziger Schuß dem Walroß sofort den Garaus bereitet – was bei Musketenkugeln nicht unbedingt gewährleistet ist.“

„Die Drehbassenkugel würde das Tier zerreißen“, erwiderte Hasard. „Damit ist uns nicht gedient. Außerdem ist es nicht gerade weidmännisch, mit Kanonen auf Tiere zu schießen.“

„Na ja, das sehe ich ein“, brummelte der Alte. Er ließ sich von seinem Sohn, der inzwischen Waffen geholt hatte, eine Muskete geben, prüfte die Ladung und die sachgerechte Anbringung des Flints, legte dann probeweise an und visierte über den Lauf weg den breiten Rücken des Walrosses an.

Siri-Tong und Dan O’Flynn verfuhren ähnlich. Dann traten auch Smoky, Al Conroy, Ferris Tucker und Big Old Shane hinzu und bereiteten sich auf die Jagd vor.

Hasard hätte sich mit dem Radschloß-Drehling oder dem Schnapphahn-Revolverstutzen bewaffnen können, zwei hervorragenden Waffen, die über Trommeln mit jeweils sechs Schuß verfügten. Doch für diesen Einsatz hatten beide Waffen einen erheblichen Nachteil – ihre Läufe waren zu kurz. Sie waren für das rasche Abfeuern einer Serie von Ladungen im Kampf vorzüglich geeignet, nicht aber für das Präzisionsschießen über die relativ große Distanz von fast hundert Yards.

Die Rote Korsarin und die Männer standen abwartend an der vorderen Querbalustrade der Back und warteten, daß der Abstand zur Eisscholle noch mehr zusammenschrumpfte.

Carberry hatte sich, nachdem die Crew unter seinen barschen Befehlen die Segel neu getrimmt hatte, an das Backbordschanzkleid der Kuhl begeben, lehnte sich ein wenig außenbords und blickte zu dem Walroß, das man auch von diesem Platz aus sehr gut erkennen konnte.

Plötzlich ertönte ein langgezogener Laut – eine höchst verdächtige Geräuschmischung, die nur eine einzige Deutung zuließ: Irgend jemand mußte seine Verdauungswege ein bißchen zu laut erleichtert haben.

Carberry fuhr herum und sah zu der grinsenden Crew. Matt Davies grinste besonders breit und gab ein unterdrücktes Glucksen von sich. Er konnte sein Lachen kaum zurückhalten.

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