Seewölfe - Piraten der Weltmeere 176

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 176
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-513-2

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

1.

Alles Unheil hatte für Kapitän Curly Saunders von der Zweimast-Karavelle „Miß Hannah“ an jenem stürmischen Maitag begonnen, an dem es den Kabeljau-Fänger von der Neufundlandbank zur Belle Isle, der nördlichen Festlandregion des von den Spaniern „Bacalaos“ genannten Landes, und von dort aus weiter nach Nordwesten verschlagen hatte – bis hin zu dem Land, das man Labrador getauft hatte.

Von diesem Tag an, den Saunders fortan den „schwärzesten Tag“ seines Lebens zu nennen pflegte, hatte die Irrfahrt der „Miß Hannah“ begonnen, die nie mehr zu enden schien.

Fockmastbruch, ein halbes Dutzend Lecks, zwei Tote und vier Verwundete – das war die Bilanz, die Saunders im Anschluß an das Toben des Wetters zog.

Das Kompaßgehäuse mitsamt dem Kompaß, das auf dem Achterdeck in zwei stabilen Messinggabeln geruht hatte, war durch einen Brecher davongerissen und außenbords gespült worden. Allein mit dem Jakobsstab und dem Astrolabium vermochten Saunders und seine Achterdecksleute die genaue Position der „Miß Hannah“ nicht mehr festzustellen, und die Suche nach der Meeresstraße, die sie zurück nach Südosten und zu den Fischgründen von Bacalaos führte, wurde zu einem verzweifelten Unterfangen.

Dann, nach vielen Tagen sinnlosen Manövrierens in unbekannten Gewässern und vor fremden, unwirtlichen, menschenabweisenden Küsten, mal den Anblick der lebensfeindlichen Tundra vor Augen, mal in den öden und grauen Weiten des Wassers verloren, hatte sich an diesem einen von vielen kalten Tagen das einschneidende Ereignis angebahnt, das ihrer aller Leben grundlegend verändern sollte.

Der Ausguck der „Miß Hannah“ hatte einen Kajak gesichtet. Aus dem Mannloch des Eskimo-Bootes heraus hatte eine Gestalt gestikuliert, ein Mann in Fellkleidung, jedoch kein Ureinwohner des kalten, häßlichen Nordlandes, sondern – wie Saunders und seine Männer beim Nähersegeln durch ihre Spektive festgestellt hatten – ganz offensichtlich ein Mensch aus der Alten Welt, ein Europäer.

Was hätte da nähergelegen, als nun mit der „Miß Hannah“ längsseits des Kajaks zu gehen und den wohl in Not befindlichen Fremden zu übernehmen? Saunders war nie ein Mann gewesen, der damit zögerte, anderen seine Hilfe zukommen zu lassen, denn er selbst hatte zur See und auf Land erfahren, was es bedeutete, im richtigen Moment Unterstützung durch entschlossene, couragierte Menschen zu erhalten.

Einem Franzosen hatten sie da beigestanden, wie sich nun erweisen sollte, und wie es schien, wäre er jämmerlich zugrunde gegangen, wenn Curly Saunders, dessen Crew und die Karavelle nicht erschienen wären.

„Mein Name ist Fagaralle“, hatte der Fremde sich vorgestellt.

Ein Jäger und Fallensteller sei er, hatte er weiter berichtet, und nur um Haaresbreite sei er den Verfolgern entwichen, deren Mordlust er zum Opfer hatte fallen sollen – wilden Eskimos, Karibu-Jägern und Strandräubern, die ihm, Fagaralle, die Beute hatten abnehmen wollen. Offenbar hatten sie letzteres auch verwirklicht, denn weder Felle noch Fleisch von erlegten Tieren hatte Fagaralle bei seiner Flucht mit dem Kajak retten können.

„Nur meine nackte Haut habe ich gerettet“, hatte er Curly Saunders immer wieder gesagt. „Und dafür gebührt Ihnen, Mister Saunders, mein ganzer Dank, denn ohne Sie wäre ich jetzt ein toter Mann. Die Wilden hätten mich mit ihren Kajaks und Umiaks eingeholt, oder aber ich wäre verhungert und verdurstet, oder die See hätte mich verschlungen.“

„Wie viele Tage haben Sie auf See zugebracht?“ hatte Saunders von ihm wissen wollen.

„In dem Kajak, meinen Sie?“

„Ja.“

„Mehr als fünfzig Stunden, Sir, wenn ich mich nicht verschätzt habe.“

„Und der Sturm?“

„Meine Flucht fand nach dem Sturm statt, der über Labrador hinwegbrauste, Mister Saunders.“

„Ja, richtig.“

„Andernfalls wäre ich darin umgekommen“, hatte Fagaralle versichert. „Aber auch bei ruhiger See wären meine Stunden gezählt gewesen, ich habe mich in dieser Beziehung keinen Illusionen hingegeben.“

Sie hatten sich stets auf englisch unterhalten, der Sprache, die auch Fagaralle, der ein kluger und belesener Mann zu sein schien, hervorragend beherrschte. Saunders war bald hocherfreut darüber gewesen, Fagaralle an Bord der „Miß Hannah“ zu haben, denn der Mann wußte nicht nur bildhaft und spannend Begebenheiten aus seinem Leben zu schildern, er verfügte auch über einen derartig großen Optimismus, daß Saunders neue Hoffnung schöpfte, bald den gesuchten Weg zurück nach Neufundland zu finden.

Wie sich Fagaralles Auseinandersetzung mit den Eskimos von Labrador im einzelnen abgespielt hatte und was die wahren Hintergründe für die Flucht des Franzosen waren – das sollte Saunders nie erfahren.

Niemals hätte er, der Kapitän eines solide gebauten und recht gut armierten Segelschiffes und einer fast vierzigköpfigen Mannschaft, diesen hochgewachsenen Franzosen an Bord aufgenommen, wenn er geahnt hätte, was er damit angerichtet hatte.

Schließlich, an einem trügerisch ruhigen Tag unter dem fortdauernden dämmrigen Licht, das die „Miß Hannah“ jetzt umgab, folgte das böse Erwachen.

Curly Saunders mußte einsehen, wie unbedarft, ja, unbekümmert er gehandelt, wie geradezu kindlich treuherzig er sich sträflicherweise benommen hatte. Jetzt erhielt er die Abrechnung dafür präsentiert.

Die Pest in Person hatte er sich an Bord geholt, eine Schlange an seinem Busen genährt. Die Maske fiel, und das grausame, unbarmherzige Antlitz eines geborenen Verbrechers trat zum Vorschein.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die „Miß Hannah“ eine Irrfahrt von nahezu vier Wochen hinter sich. Nach wie vor. hatte alles Planen und Forschen nichts genutzt – kein Weg schien zurück nach Bacalaos, zu Dorsch und Kabeljau und dem großen, erleichterten Aufatmen zu führen.

Kälter war es geworden, eiskalt. Die Besatzung fror und murrte, immer mehr griffen Unmut und Verzweiflung um sich. Wer aufmuckte, wurde vom Zuchtmeister der Karavelle ausgepeitscht oder in die Vorpiek gesperrt, und die Drohung, daß eines guten Tages der eine oder andere an der Rah baumeln würde, schwebte unausgesetzt über der Crew.

Der Proviant war auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Gegen die Kälte half keine noch so dicke Kleidung, und Feuer durfte nur noch in der Kombüse entzündet werden, da sonst die Holzvorräte der „Miß Hannah“ zu schnell zur Neige gingen und man schließlich nicht die Karavelle verheizen konnte, wie Saunders der Besatzung immer wieder zu erklären trachtete.

Die allgemeine Unlust schlug in Zorn und Haß um. Dies war der ideale Nährboden für eine Meuterei.

Saunders rechnete mit einem Aufstand an Bord. Daß aber ausgerechnet Fagaralle der Aufwiegler sein würde, war für ihn ein echter Schock – mehr noch, etwas zerbrach in Curly Saunders.

Fagaralle zeigte sein wahres Ich.

Mit nur zehn gut bewaffneten Männern stürmte er an diesem allerschwärzesten Tag in Saunders’ Dasein das Achterdeck. Widerstand wurde seitens der Achterdecksleute kaum gezeigt. Der Franzose und seine Mitverschwörer sensten jede Verteidigung mit ihren Handwaffen nieder, und plötzlich hatte Fagaralle seinen einen Arm um den Hals des Bootsmannes geschlungen, hielt diesem mit der rechten Hand ein Messer gegen die Gurgel gedrückt und rief dem Kapitän, der eben seinen Degen zückte, zu: „Willst du diesen Mann sterben sehen?“

Saunders antwortete nicht, er stand mit wachsbleichem Gesicht auf dem eisbedeckten Achterdeck, fixierte den Verräter und zog seinen Degen ganz aus der Scheide.

„Captain“, stieß der Bootsmann hervor. „Mister Saunders, ich flehe Sie an …“

„Streich die Flagge, Saunders!“ schrie Fagaralle. „Du bist unfähig, dieses Schiff und diese Crew zu führen. Du hast den falschen Kurs eingeschlagen. Er führt uns immer weiter nach Norden hinauf, weit fort von Labrador und der großen Bucht der Häuptlinge! Und du suchst vergeblich nach einer östlichen Passage, die uns die Rückreise nach Neufundland ermöglicht. Du bist ein Versager, Saunders!“

„Fagaralle …“

„Fort mit dem Degen, Saunders, du Narr!“

„Fagaralle, du hast dir mein Vertrauen erschlichen …“

„Laß das Geschwätz und gib auf!“

„Wie konntet ihr auf diesen Mann hören?“ rief Curly Saunders. „Er ist ein aalglatter, doppelzüngiger Hundesohn, der euch alle ins Verderben stürzt, wenn ihm das gelingt, was er vorhat!“

„Streich die Flagge!“ schrien die Meuterer – und die Passiven, die auf der Kuhl standen und alles beobachteten, schwiegen dazu. Längst waren die Zeiten vorbei, in denen einige von ihnen sich noch für Saunders aufgeopfert hätten. Fast teilnahmslos wohnten sie der Szene bei. Sie trieb ihrem Höhepunkt zu – Fagaralle hatte den Bootsmann unverändert in seiner Gewalt, und der Rest des Meuterer-Trupps hatte die übrigen Achterdecksleute überwältigt. Saunders stand auf verlorenem Posten.

 

Fagaralle grinste plötzlich. „Ich verlange deine Kapitulation“, sagte er zu dem Kapitän. „Und du solltest noch froh sein, daß ich es auf diese Art und nicht im Zweikampf tue. Genausogut könnte ich dir jetzt eine Kugel durch den Kopf jagen lassen.“ Mit einer ruckartigen Kopfbewegung deutete Saunders auf einen seiner Komplicen, der eine Muskete in Anschlag gebracht hatte und damit auf Saunders zielte.

Curly Saunders sah nicht nur den Musketenschützen, er schaute auch auf seine treuen Kameraden, die auf dem eisglitzernden Deck in ihrem Blut lagen. Einige von ihnen regten, sich nicht mehr. Sie würden sich nie mehr bewegen.

Er verlor jede Beherrschung und sprang mit dem erhobenen Degen auf Fagaralle zu. Mit einem Wutschrei wollte er den Franzosen niederstechen, aber Fagaralle reagierte augenblicklich und stieß seine Geisel auf Saunders zu.

Ohne daß sich sein Geist richtig dessen bewußt wurde, nahmen Saunders’ Augen das Bild des Bootsmannes auf, der mit dem Messer im Hals auf dem eisglatten Deck ausrutschte und stürzte. Saunders konnte sich nicht mehr rechtzeitig bremsen und ausweichen. Er stolperte über den sterbenden Mann und verfehlte Fagaralle mit seinem Degen. Die Spitze stieß ins Leere.

Der Musketenschuß krachte, ehe Fagaralle die Radschloßpistole, die er jetzt aus dem Gurt gerissen hatte, auf den Kapitän der „Miß Hannah“ abfeuern konnte. Saunders brach getroffen zusammen. Sein letzter, ungläubiger Blick war auf den grinsenden Fagaralle gerichtet. In seiner Sterbeminute gelangte er zu der bitteren Erkenntnis, daß er ein riesengroßer Narr gewesen war.

Fagaralle trat zu dem Mann, der sein Leben auf den Planken seines Schiffes aushauchte, beugte sich über ihn und sagte triumphierend: „Saunders, mein Freund – hiermit trete ich deine Nachfolge an.“

„Fahr – zur Hölle“, flüsterte Curly Saunders.

Fagaralle schüttelte wie in aufrichtigem Bedauern den Kopf. „Tut mir leid, aber den Gefallen tue ich dir nicht. Ich weiß, es klingt überheblich. Aber überheblich bin ich nun mal.“

Er erhob sich, trat an die Schmuckbalustrade, die den vorderen Querabschluß des Achterdecks bildete, blickte auf die versammelte Crew hinunter und verkündete: „Ich habe das Kommando über dieses Schiff übernommen, und ich versichere euch, daß ich euch vor Kälte und Hunger und vor dem Tod bewahren werde. Wer sich mir anschließen will, der braucht sich jetzt nur zurück auf seinen Posten zu begeben. Wer die Karavelle lieber verläßt, kann dies tun, er wird in einem der Beiboote ausgesetzt und erhält ein wenig Proviant und Trinkwasser mit.“ Er legte seine Hände auf die hölzerne Leiste. „Nun?“

Die Männer murmelten etwas, nickten dann, wandten sich ab und begaben sich wieder an die Arbeit.

Nicht, daß sie Fagaralle vertrauten, aber wer war schon so dumm, zu glauben, daß der Franzose eventuelle Gegner friedlich ziehen ließ? Das Beiboot wurde gebraucht, nichts konnte man hier entbehren. Jeder, der sich jetzt dem neuen Kapitän gegenüber rebellisch zeigte, wurde erschossen, soviel war sicher. Oder aber er wurde an die Rahnock gebaumelt oder mit einem Gewicht an den Füßen in die eiskalte See geworfen.

Fagaralle gab seine Befehle. Er ließ die Segel neu trimmen, sagte dem Rudergänger, was er zu tun habe, und ließ die Zweimast-Karavelle nordöstlichen Kurs segeln.

Dies geschah Mitte des Monats Juni 1589.

Anfang Juli 1589 hatte Fagaralle die Karavelle längst auf den französischen Namen „L’Invulnérable“ umgetauft. „Die Unverwundbare“ segelte zwischen vorbeiziehenden Treibeisschollen nach Westen. Raumer Wind brachte sie rasch voran. Sie glitt über Steuerbordbug liegend dahin und drückte eine steile Bugwelle vor sich her.

Die Karavelle befand sich jetzt zwar noch weit nördlicher als während der Meuterei gegen Kapitän Saunders und die Achterdecksleute, deren Leichname tief unten auf dem Grund der See nördlich der riesigen Bucht der Häuptlinge ruhten. Aber die Mannschaft litt weder Hunger und Durst noch Kälte, und Fagaralle hatte allen glaubwürdig versichern können, daß er den Weg zurück nach Neufundland genau kenne.

Dieser, so behauptete er, führe jetzt am schnellsten im Norden um das Kap einer großen Insel herum und von dort aus in die Nähe der Küste von Grönland, jener Insel, die die Wikinger einst besiedelt hatten. Weiter ginge es nach Süden durch die Meeresstraße, die Davis vor zwei Jahren entdeckt und so benannt hatte – und dann war „Bacalaos“ nicht mehr fern. Jede Rückkehr nach Labrador und der Belle Isle wäre nur ein Umweg gewesen.

Fagaralle, davon war die Crew mittlerweile überzeugt, mußte es wissen. Er kannte sich in den Gepflogenheiten der Eskimos aus und wußte, wie man das Leben in der Polargegend ertrug. Nur hatte er all seine Kenntnisse für sich behalten, bis er Saunders erledigen und das Kommando an sich reißen konnte.

Davon hatte er immer geträumt – ein eigenes Schiff zu haben.

Schon einmal hatte sich ihm die Chance geboten, ein Schiff zu kapern – eine wunderschöne große Dreimast-Galeone fortschrittlichster Bauart. Aber Fagaralle und seinen Eskimos war es nicht gelungen, die Mannschaft dieses Seglers niederzumetzeln. Sie hatten eine furchtbare Niederlage erlitten und fliehen müssen – und dann hatte Ajataq, der Eskimohäuptling, mit seinen Kriegern eine gnadenlose Jagd auf ihn, den Franzosen, und die Abtrünnigen des Stammes veranstaltet. Fagaralle konnte noch froh sein, daß er ein Kajak ergattert hatte, mit dem er sich hatte absetzen können.

Unbändiger Haß stieg in ihm auf, wenn er an diese schimpfliche Episode aus seinem Leben zurückdachte. Sie lag knapp drei Monate zurück.

Jetzt hätte er die Möglichkeit gehabt, mit den Männern der großen Galeone abzurechnen, denn die Kanonen der ehemaligen „Miß Hannah“ konnten es wahrscheinlich mit den Batterien jener „Isabella“ aufnehmen. Die Karavelle führte je sechs 17-Pfünder auf jeder Seite der Kuhl und je drei bewegliche, rasch zu ladende Serpentinen auf der Back und dem Achterdeck. Dies war eine für einen Kabeljau-Fänger außergewöhnliche Armierung, aber Saunders hatte wohl sicher sein wollen, gegen jeden Piraten-Überfall gewappnet zu sein. Solche Überfälle hatten gerade in der letzten Zeit arg zugenommen.

Fagaralle dachte in diesen Tagen hin und wieder daran, ob er die „Isabella“ und ihren höllischen schwarzhaarigen Kapitän wohl jemals wiedersehen würde.

Wohin war sie überhaupt gesegelt?

Fagaralle stand auf dem Achterdeck der „Invulnérable“, ganz in Eisbärfell gehüllt, und ließ seinen Blick zufrieden über das Hauptdeck wandern. Dreißig Männer hatte er noch unter sich – und die machten einen zufriedenen, fast verwegenen Eindruck.

Der Kabeljau, den sie einst gefischt hatten, war längst aufgegessen, aber Fagaralle hatte die Männer in der Jagd auf Robben, Narwale, Walrosse, Eisbären und andere Polartiere unterrichtet. Auch auf eine Herde Rens waren sie gestoßen, als sie das letzte Mal auf der großen Insel im Osten gelandet waren, und diese hatten ihnen nicht nur ihr vorzügliches Fleisch, sondern auch ausreichend Fell für warme Kleidung geliefert. Die ausgekochten Speckseiten der Narwale wurden in den Bordöfen und im Kombüsenherd verfeuert, so daß man sich wieder ausreichend wärmen konnte.

„Dies ist nur der Anfang“, sagte Fagaralle, als er eine kurze Ansprache an „seine“ Mannschaft hielt. „Ich habe euch vor dem sicheren Tod bewahrt, aber ich werde euch auch zu Reichtum verhelfen. Gemeinsam sind wir stark genug, um uns all das zu holen, was man durch die Fischerei oder jede andere Art mühseliger Arbeit doch nie kriegen kann.“

„Hoch lebe Fagaralle!“ schrien die Männer der Karavelle. „Ein dreifaches Hurra für unseren Kapitän!“

2.

Ipiutak konnte wieder lächeln.

Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, hatte sie an Bord seiner „Isabella“ bis nach Qanaq, Thule, gebracht, und noch während der Überfahrt hatte sich der Kutscher redlich um die Frau von Okvik, dem Häuptling des Stammes der Jäger, bemüht.

Der Kutscher hatte Ipiutak die Musketenkugel aus dem Rücken geholt, die die räubernden Wikinger ihr verpaßt hatten.

Er hatte sie vorgezeigt und aufatmend gesagt: „Gott sei Dank, da ist sie ja – und ich glaube, die Frau hat keine schwerwiegenden inneren Verletzungen erlitten. Die Wirbelsäule ist unversehrt, und auch die Lunge scheint nicht angekratzt zu sein. Also, ich will ja nicht zuviel versprechen, aber ich schätze, sie kommt rasch wieder auf die Beine.“

„Kutscher“, sagte der Seewolf, als sie in der großen Bucht von Thule eintrafen. „Wenn du damit recht behältst, kriegst du von mir mehr als nur eine Sonderration Rum.“

Der Kutscher lächelte – ein wenig verlegen und auch ein bißchen verschmitzt. „Aus dem Rum mache ich mir gar nicht soviel, Sir. Mir ist es ja viel mehr wert, wenn man meine Arbeit würdigt.“

„Tun wir das denn nicht?“

„Selbstverständlich, Sir.“

„Dann verstehe ich nicht, wie du das eben gemeint hast.“

Der Kutscher wurde sichtlich verlegen und druckste herum, was er sonst eigentlich nicht tat, aber eine Erwiderung auf die Worte des Seewolfs konnte er sich vorläufig ersparen, denn Ipiutak schlug die Augen auf, lächelte und formulierte mit schwachen, blassen Lippen die Namen ihres Mannes und ihrer Tochter.

„Okvik – Bilonga …“

Okvik und Bilonga, die die ganze Zeit über in der Achterdeckskammer der „Isabella“ auf dem Rand einer zweiten Koje gekauert hatten, standen auf und beugten sich über das Lager der Patientin. Bilonga hielt ihre Tränen nicht zurück, es waren Tränen der Freude und Zuversicht. Okvik, dessen Miene man sonst so wenig Gefühlsregungen ablesen konnte, zeigte offen seine Ergriffenheit. Auch ein Jäger aus dem eisigen Thule, und sei er noch so hart, brauchte sich in einem Augenblick wie diesem seiner Gefühle nicht zu schämen.

Hasard trat dicht neben den Kutscher. Sie standen beide am Fußende der Koje und nickten Ipiutak, Okvik und Bilonga aufmunternd zu. Der Kutscher hatte die Frau nicht nur operiert, er hatte mit seinen Arzneien und Mixturen auch ihren Blutverlust zum Stoppen gebracht, die Wunde nach allen Regeln der Feldscherkunst gesäubert und keimfrei gemacht und Ipiutak dann einen Verband aus blütenweißem Leinenstoff angelegt.

„Ja, unser Kutscher“, sagte der Seewolf versonnen. „Wenn wir dich nicht hätten, was wäre dann? Aber ich glaube, du würdest ein dickes Lob viel lieber aus dem Mund von Siri-Tong hören, was? Ich schätze, das hast du sagen wollen, als du von einer entsprechenden Würdigung deiner Arbeit sprachst.“

Der Kutscher wurde rot bis an die Ohren, puterrot sogar. Er fuhr sich mit der Hand übers Kinn und suchte verzweifelt nach Worten.

Hasard hatte natürlich den Nagel auf den Kopf getroffen. Als Siri-Tong am Ufer des Fjords, in dem die Seewölfe Walrosse gejagt hatten, von Okviks Bas, dem Leittier der Schlittenhundmeute, an Händen und Armen verletzt worden war, hatte der Kutscher ihr die Wunden behandelt. Sie hatte sich daraufhin bewundernd geäußert, weil ihre Schmerzen wirklich rasch vergangen und dann auch nicht wiedergekehrt waren – und der Kutscher war mächtig stolz darüber gewesen.

„Sir“, sagte er. „Ich möchte nicht, daß du einen falschen Eindruck von mir kriegst.“

„Welchen denn?“

„Du weißt schon, was ich dir erklären will …“

„Nein.“

„Also, was mich betrifft, ich würde es Madam gegenüber nie an dem nötigen Respekt mangeln lassen. Das will ich dir nur hoch und heilig versichern.“

Hasard legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich weiß doch, daß die ganze Crew die Rote Korsarin anhimmelt, und das kann ich auch keinem von euch übelnehmen. Genausogut weiß ich aber auch, daß kein Mann auf diesem Schiff außer mir sie auch nur mit dem kleinen Finger anrühren würde. Ich vertraue euch und verlasse mich auf euch.“

„Danke, Sir.“

„Ist jetzt soweit alles in Ordnung?“

„Ja. Aber ich glaube, die Sonderration Rum würde ich jetzt doch ganz gern annehmen.“

„Genehmigt“, sagte der Seewolf. Damit wandten sie sich wieder dem Krankenlager zu und versuchten, mit ihren wenigen Brocken Eskimo-Sprache und durch Gestikulieren Okvik und Bilonga auseinanderzusetzen, daß Ipiutak jetzt Ruhe brauche, sehr viel Ruhe.

Der Stammesführer und seine Tochter begriffen es mehr intuitiv als den Worten Hasards und des Kutschers nach. Sie bedeuteten ihnen durch Gebärden, daß sie sich ganz nach den Anweisungen ihrer weißen Freunde richteten – und dann hob Okvik plötzlich den Kopf, lauschte und sagte: „Qanaq – Thule.“

 

Stimmen waren zu vernehmen, sowohl vom Oberdeck der „Isabella-VIII.“ aus als auch von weiter her.

Ipiutak ließ einen freudigen Laut vernehmen, dann schloß sie wieder die Augen und atmete tief und gleichmäßig durch.

Okvik und Bilonga drängten zur Tür der Achterdeckskammer. Hasard öffnete sie, und die beiden Eskimos traten auf den Gang hinaus und begannen mit der alten Frau zu sprechen, die die ganze Zeit über draußen im Halbdunkel und in der Kälte gehockt hatte, als müsse sie dort Wache halten.

Sie war, wie Hendrik Laas dem Seewolf erklärt hatte, die Mutter Okviks. Als die Wikinger das Igludorf überfallen hatten, hatte sie dortbleiben und sich töten lassen wollen, aber Ipiutak und Bilonga hatten sie bei der Flucht in die Berge mitgeschleppt.

Ein Aufleuchten war in den kleinen dunklen Augen der Alten, und auch ihre Züge hellten sich auf, denn Okvik hatte ihr soeben gesagt, daß Ipiutak auf dem Weg der Genesung sei.

Siri-Tong näherte sich vom Schott, das auf die Kuhl hinausführte, und sagte aus drei Schritten Entfernung: „Wir sind da. Die Eskimos bereiten uns einen großartigen Empfang. Woher wissen die überhaupt, wer wir sind?“

„Erstens segelt die ‚Sparrow‘ von Hendrik Laas neben uns her“, erwiderte Hasard. „Allein das ist ein Zeichen, daß wir nur Freunde, keine Feinde sein können. Zweitens hatte Okvik eine Hundeschlitten-Patrouille vorausgeschickt, während wir noch auf die ‚Isabella‘ warteten, und diese hat wohl bereits alles berichtet, was es zu berichten gibt.“

„Geht ihr nur an Oberdeck“, sagte die Korsarin. „Ich löse euch hier ab und passe auf Ipiutak auf.“

„Die alte Frau wird dir dabei Gesellschaft leisten“, meinte der Seewolf. Okvik und Bilonga trafen nämlich Anstalten, das Achterkastell zu verlassen, nachdem sie wußten, daß sie um Ipiutaks Leben nicht mehr zu bangen brauchten, aber Bilongas Großmutter schien sich nicht vom Fleck rühren zu wollen.

Siri-Tong griff nach ihrer Hand, lächelte ihr zu und zog sie mit sich in die Kammer der verletzten Frau. Hier bedurfte es keiner Worte, hier verstand man sich auch so, schweigend und ohne jede überflüssige Geste.

Hasard und der Kutscher suchten mit Okvik und Bilonga das Hauptdeck auf, traten zu den Männern der Crew ans Steuerbordschanzkleid und nahmen die Szene in sich auf, die sich ihren Augen bot.

Fünf Dörfer aus weißen, kugligen Schneehütten erhoben sich am Ufer der großen Bucht Thules. Dies also war das Zentrum, die Hauptsiedlung von Qanaq – und mit einemmal erfüllte quirliges, eilfertiges Leben die sonst so öde und einsame weiße Welt. Da liefen große und kleine Gestalten am Ufer zusammen, da waren Kajaks und Umiaks losgebunden und besetzt worden, und so viele der schlanken, schnellen Boote glitten auf die „Isabella“, die „Sparrow“ und das Drachenboot der Wikinger zu, daß man sie schon nicht mehr zählen konnte.

Jubellaute wehten den Seewölfen und ihren Freunden von der Galeone „Sparrow“ entgegen.

Von Bord des Drachenbootes wurden diese Rufe erwidert – dort befanden sich einige von Okviks Kriegern, die den Einmaster sicher an das natürliche Hafenbecken der Bucht pullten.

Sie hatten das Gefährt der Nordmänner übernommen und würden es wohl auch immer behalten. Die gefangenen Wikinger-Piraten waren auf das Drachenboot, die „Sparrow“ und die „Isabella“ verteilt worden und wurden streng bewacht.

Hendrik Laas, Bert Anderson, Sheldon Gee und die anderen von der „Sparrow“ stießen Pfiffe und Hurra-Rufe aus und warfen ihre Fellmützen in die Luft.

Dann stimmten auch die Seewölfe ihr „Arwenack“-Geschrei an, daß es einem angst und bange werden konnte.

„Sir!“ rief Ben Brighton seinem Kapitän in dem allgemeinen Gebrüll zu. „Ich schätze, das gibt noch ein Fest, wie wir’s so schnell nicht wieder vergessen!“

„Ja“, sagte der Seewolf. „Und es gibt keinen hier an Bord, der es nicht verdient hätte, sich mal wieder ein bißchen auszutoben.“

„Bloß das eine merkt euch, ihr Rübenschweine“, fuhr Carberry, der es natürlich nicht sein lassen konnte, die Crew an. „Es wird nicht übermäßig gesoffen, sonst gibt es Ärger! Wer randvoll umkippt und liegenbleibt, den lasse ich einschneien und steiffrieren, ohne Pardon. Und daß mir ja keiner die Eskimomädchen antatzt! Wir sind hier Gäste und haben uns anständig zu benehmen. Das ist hier kein Hafenviertel, in dem ihr die Mäuse auf den Kneipentischen tanzen lassen könnt, verstanden?“

„Aye, aye“, brummten die Männer.

„Die Eskimos sind sittsame Menschen und anständige Kerle, die man nicht beleidigen darf“, fuhr der Profos in seinen Belehrungen fort. „Von denen hat so manch einer mehr Benimm im Leib als zehn von euch Kakerlaken zusammen. He, Bob Grey, du Walroß, was hast du so dämlich zu grinsen?“

„Erst vor kurzem hat jemand gesagt, wir sollen aufpassen, daß die Eskimos nicht auch noch unsere letzten Bienenwachskerzen auffuttern“, rief Bob Grey fröhlich. „Und jetzt sind sie plötzlich sehr zivilisiert. Also, irgendwie paßt das doch nicht zusammen.“

„Wer ist der Idiot, der solch einen Quatsch von sich gegeben hat?“ brüllte der Profos.

„Du selbst, Ed“, teilte Dan ihm gelassen mit.

„Was, wie? Ich – also, das muß glatt ein Irrtum sein.“

„Mit zunehmendem Alter wird man vergeßlich, Profos“, sagte Dan O’Flynn. „Aber mach dir nichts daraus, wir können das gut verstehen.“

Carberrys Augen funkelten plötzlich angriffslustig. „So? Soll der alte Profos dir mal vorexerzieren, wie er mit so kiebigen Stinten wie dir umspringt – soll er das?“

„Schon gut, es war nur. Spaß, Ed“, versuchte Dan den aufkommenden Streit zu schlichten. Der Profos konnte ganz schön wild werden, wenn man ihn zu sehr auf den Arm nahm.

„Ich mache ja auch nur Spaß!“ brüllte Carberry.

Die Eskimos, die mit Okvik an Bord der „Isabella“ gegangen waren, nachdem diese dank der Flaschenbomben aus dem Packeis des Fjordes freigekommen war, stießen sich untereinander an. Sie konnten sich köstlich über die Sprache der Seewölfe amüsieren, und im übrigen schienen sie den Wortwechsel zwischen Carberry, Bob Grey und Dan O’Flynn tatsächlich für einen prächtigen Scherz zu halten.

Die Kajaks und Umiaks drängten sich um die „Isabella“ und um die „Sparrow“ zusammen und begleiteten sie bis auf eine Art natürliche Reede, auf der sie offenbar ankern sollten. Hendrik Laas kannte sich hier ja bestens aus. Er ließ Hasard signalisieren, daß man nun getrost die Anker fallen lassen könne. Solide Anleger am Ufer, an denen die Galeonen vertäuen konnten, gab es nicht, und auch die Wassertiefe schien dort nicht ausreichend zu sein.

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