Seewölfe - Piraten der Weltmeere 475

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 475
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Impressum

© 1976/2018 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-883-6

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Roy Palmer

Verdammt zum Sterben

Er gestand unter der Folter – aber sein Tod war schon sicher

Das nächste Opfer ankerte auf der Reede vor Havanna – eine Handelsgaleone aus Calais. Aber Jean Ribault war nicht gewillt, einen Landsmann von Küstenwölfen überfallen und ausplündern zu lassen. Und darum warnte er den französischen Kapitän. Aber auch den Küstenwölfen legte er das schmutzige Handwerk, das sie im Auftrag des neuen Gouverneurs betrieben. Zusammen mit Roger Lutz pirschte er sich zu den zehn Jollen der Kerle, mit denen sie zu mitternächtlicher Stunde über ihre nichtsahnenden Opfer herfielen, betäubte die beiden Wachen und bohrte die Boote an. Die Löcher wurden mit Werg verstopft, aber die Boote würden Wasser ziehen, sobald die Kerle unterwegs waren. Und so geschah es auch. Dieses Mal wartete der Gouverneur vergeblich auf die Beute …

Die Hauptpersonen des Romans:

Alonzo de Escobedo – der Gouverneur von Kuba hat eine neue Idee, sich zu bereichern.

Jussuf – kümmert sich um seine Täubchen und horcht sich in Havanna um.

Miguel Cajega – der Fuhrunternehmer wird in die Residenz bestellt und einem Verhör unterzogen.

Jean Ribault – tritt mit Roger Lutz einen Marsch nach Süden an, der an einem Wasserfall endet.

Arne von Manteuffel – hat Vermutungen und kombiniert richtig.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

Pablo Mendez und José Farina, zwei spanische Seesoldaten, waren am Vormittag des 6. Mai 1595 im Hafen von Havanna mit routinemäßigen Arbeiten an Bord einer der Wachschaluppen beschäftigt. Die einmastigen Schaluppen patrouillierten normalerweise vor der Hafeneinfahrt – jeweils acht, die im achtstündigen Turnus abgelöst wurden. Aufgabe der Besatzungen war es, einlaufende Schiffe zu kontrollieren und ausländische, also „nichtspanische“ Segler so lange auf der Reede vor dem Hafen festzuhalten, bis der Gouverneur entschieden hatte, ob die Kapitäne dieser Schiffe die Genehmigung zum Einlaufen erhielten oder nicht.

Hinter dieser offensichtlichen Schikane verbarg sich ein verbrecherisches Komplott. Der Gouverneur von Kuba hatte es darauf angelegt, sich auf schnelle Weise zu bereichern. Deshalb ließ er Handelsfahrer, die nicht unter spanischer Flagge segelten, nachts ausplündern. Die Beute wurde in die Gouverneurs-Residenz an der großen Plaza im Zentrum von Havanna gebracht.

Ein Handlanger des Gouverneurs war der Teniente, der als Flottillenchef der Wachboote fungierte. Dieser Mann kontrollierte die Schiffe auf der Reede und konnte auf diese Weise ausspähen, bei welchen sich ein Fischzug lohnte und bei welchen nicht.

Ferner gehörten zum Kreis der Verbündeten die Küstenwölfe, die nachts mit ihren Booten über die ahnungslosen Opfer herfielen, und die Maultiertreiber, deren Aufgabe es war, die an Land verfrachteten Beutegüter in die Residenz zu transportieren.

Jetzt aber war der Teniente verschwunden. Spurlos – keiner wußte, wo er war. Auch Mendez und Farina hatten keinen diesbezüglichen Verdacht, obwohl sie allerlei ahnten, was die geheimen Aktivitäten des Gouverneurs betraf.

„Paß auf“, sagte Mendez halblaut zu Farina, während er ein Tau aufschoß, „das gibt jetzt Verdruß.“

„Für wen denn, für uns vielleicht?“ fragte Farina, der ein wenig schwerfälliger im Denken war.

„Ach wo“, erwiderte Mendez verstohlen grinsend. „Aber für den Gouverneur. Der hat sich eingebildet, so schlau und gerissen wie Don Antonio zu sein. Aber er wird noch einsehen müssen, daß er kein so großer Fuchs ist, wie er glaubt.“

„Aber wo, zur Hölle, steckt der Teniente?“

„Vielleicht hat ihm jemand das Maul gestopft“, brummte Mendez. „Für immer, meine ich. Vorstellen könnte ich es mir. Er hat seine vorlaute Klappe wieder mal zu weit aufgerissen, und irgend jemandem hat das nicht gepaßt.“

„Dem Gouverneur, meinst du?“ fragte Farina verblüfft.

„Ach, ich weiß es nicht“, entgegnete Mendez. „Vielleicht ist er ja auch in der Residenz, und sie hecken gerade wieder eins ihrer krummen Geschäfte aus.“

„Und deswegen fehlt er beim Appell?“

„Frag nicht so blöd!“ zischte Mendez, dem die Bemerkungen des anderen allmählich auf den Geist gingen. „Ich bin kein Hellseher. Ich kann nur so einiges vermuten.“

Immer wieder blickten sie zum Kai. Dort stiefelten die Offiziere der Hafenwachbehörde auf und ab und warteten auf den Teniente, damit die Befehlsausgabe erfolgen konnte. Dazu gehörte auch die Einteilung der Wachtörns für die Schaluppen. Da aber der Teniente nicht erschienen war, lagen die Einmaster vorläufig noch an den Piers.

Auch bei den anderen Seesoldaten herrschte Ratlosigkeit. Wo war der Teniente? Keiner wußte es – auch die Männer der Teniente-Schaluppe nicht. Sie ahnten von den Machenschaften des Tenientes sicherlich mehr als alle anderen, doch wo der Mann abgeblieben war, war auch ihnen nicht bekannt.

Es wurde gemunkelt in Havanna, seit der neue Gouverneur Alonzo de Escobedo im Amt war. Es war erst knapp zwei Wochen her, seit der ehemalige Gouverneur Don Antonio de Quintanilla Havanna verlassen hatte. Don Antonio war an Bord einer Galeone, die zu einem großen Konvoi gehörte, zum Vaterland Spanien unterwegs – denn ihm wurde die große Würde zuteil, von Seiner Allerkatholischsten Majestät Philipp II. höchstpersönlich zum Vizekönig von Neu-Spanien und Neu-Granada ernannt zu werden. Als seinen Nachfolger hatte er de Escobedo eingesetzt, der vormals Hafen- und Stadtkommandant von Havanna gewesen war.

Daß Don Antonio Spanien nie erreichen würde, weil er Philip Hasard Killigrew, dem Seewolf, in die Hände gefallen war, wußte in Havanna niemand. Es war nicht einmal den Männern der „Goldenen Henne“ bekannt, die inzwischen – nach einigen Widrigkeiten – im Hafen eingetroffen waren. Sie hatten von Arne von Manteuffel nur erfahren, daß der dicke Don Antonio Havanna mit dem Geleitzug verlassen hätte.

Alonzo de Escobedo kannte keine Skrupel, in diesem Punkt glich er Don Antonio. Nur war die Art, nach der er aus allem Kapital zu schlagen trachtete, anders. Don Antonio, der rein äußerlich schon wie der Inbegriff der Korruption wirkte, hatte es auf höchst raffinierte Weise verstanden, sich seine Pfründe zu schaffen und zu erhalten.

De Escobedo war körperlich der Gegensatz des Dicken – ein hagerer Mann. In seiner Gier übertraf er seinen Vorgänger noch, doch in der Wahl der Mittel war er zu ungestüm. Don Antonio wäre es niemals eingefallen, auf der Reede ankernde Schiffe überfallen zu lassen.

Pablo Mendez und José Farina verfolgten, wie auf dem Kai der Subteniente erschien. Er schien zu überlegen, was er tun solle. Dann fiel sein Blick auf die beiden Soldaten.

„Mendez und Farina“, sagte er. „Ihr übernehmt als Schaluppenführer unverzüglich zwei Schiffe und lauft zur Reede aus. Wir dürfen keine weitere Zeit verlieren.“

Die Soldaten zeigten klar.

„Welche Besatzung nehmen wir an Bord?“ fragte Mendez.

„Ihr könnt sie selbst zusammenstellen“, erwiderte der Subteniente.

„Ja, Señor“, sagte Mendez. „Und der Teniente?“

„Ich nehme an, daß der Teniente sich zur Zeit in der Residenz des Gouverneurs aufhält“, entgegnete der Subteniente. „Ich werde einen Boten hinschicken.“

Die Seesoldaten begaben sich kurz darauf an Bord der beiden Wachschaluppen. Mendez und Farina ließen alles zum Ablegen und Auslaufen vorbereiten. Insgeheim fragten sie sich, wie sie auf der Reede wohl der Kapitän der französischen Handelsgaleone begrüßen würde, die dort immer noch vor Anker lag. Der Mann würde inzwischen gewiß vor Wut toben. Aber was sollten sie dagegen unternehmen? Befehl war Befehl, und Dienst war Dienst.

Der Subteniente trat unterdessen auf dem Kai auf einen anderen Soldaten zu und sagte: „Bove, du gehst sofort zur Residenz des Gouverneurs und erkundigst dich, wo der Teniente ist.“

Bove, ein stiernackiger Mensch mit rotem, vierschrötigem Gesicht, sah seinen Vorgesetzten ziemlich betroffen an. „Wen soll ich denn fragen, Señor Subteniente?“

„Den Gouverneur persönlich“, erwiderte der Subteniente.

„Und wenn er nicht weiß, wo der Teniente ist?“

„Dann kehrst du wieder hierher zurück und meldest mir das“, erwiderte der Subteniente ziemlich ungehalten. „Los, beweg dich! Lauf gefälligst!“

Bove setzte sich in Bewegung und verschwand in einer der Gassen. Er fluchte leise vor sich hin. Warum mußte er laufen und durfte sich kein Pferd nehmen? So nah war die Plaza, an der der Residenzpalast stand, nun auch wieder nicht. Wer war er denn? Ein Schnelläufer?

 

Nein, dachte Bove aufgebracht, der letzte Dreck. Er hatte keine Lust, in der einsetzenden Wärme wie ein Verrückter durch die Stadt zu rennen. Lieber hätte er noch ein wenig am Hafen herumgelungert, bis um zwölf Uhr die Ablösung erfolgte. Danach hatte er vor, sich ein gutes Mittagsmahl zu genehmigen und einen ordentlichen Schluck Rotwein dazu zu trinken. Bis zur nächsten Wache hatte er dann noch genug Zeit, Juanita, seine Freundin, zu besuchen.

Aber erst mal scheuchte der Subteniente ihn durch die Gegend. Und wenn der Teniente nicht in der Residenz war und man weiterhin nach ihm suchte, würde die Rennerei kaum ein Ende nehmen. Verdammter Teniente, dachte Bove, zur Hölle mit dir! Daß der Teniente dort inzwischen längst eingetroffen war, konnte er – wie alle anderen – nicht wissen.

Jean Ribault, Renke Eggens und die anderen Männer an Bord der „Goldenen Henne“ konnten sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Sie konnten alles genau verfolgen: die Ratlosigkeit und Unsicherheit der Spanier, das Auslaufen der beiden Wachschaluppen und den Einsatz des Boten, der mit zornig gerötetem Gesicht davoneilte.

„Da“, sagte Ribault. „Der ist bestimmt zur Residenz unterwegs, um nachzusehen, wo der Teniente so lange bleibt.“

„Na, dann laß sie mal schön suchen“, sagte Renke Eggens. „Irgendwann wird ihnen wohl aufgehen, daß der saubere Teniente nicht mehr unter den Lebenden weilt.“

Der Teniente war von seinen eigenen Spießgesellen getötet worden – in der vergangenen Nacht, als die Kerle beschlossen hatten, „auf eigene Rechnung“ die französische Galeone zu überfallen und die Beute nicht bei de Escobedo abzuliefern.

Der Teniente hatte gedroht, sie alle füsilieren zu lassen. Kaum hatte er das ausgesprochen, hatte er prompt ein Messer im Kreuz gehabt. Dann hatte die Bande den Toten in ein Boot verfrachtet und war aufgebrochen, um den „Franzmann“ zu entern.

Doch sie hatten ihr Ziel nicht erreicht. Jean Ribault und Roger Lutz hatten die Boote heimlich angebohrt. Die Küstenwölfe waren baden gegangen – willkommene Opfer für die Haie, die sich vor dem Küstenufer herumtrieben.

Mit Genugtuung beobachteten auch Arne von Manteuffel, Jörgen Bruhn und Isabella Fuentes von der Faktorei aus die Vorgänge im Hafen.

„Das geschieht den Dons recht“, sagte Arne. „Und de Escobedo wird ganz hübsch ins Schwitzen geraten, schätze ich.“

„Hoffentlich“, sagte Isabella. „Dieser Widerling! Man sollte ihm das Handwerk legen!“ Sie war immer noch entrüstet darüber, wie de Escobedo sie angesehen hatte, als er am Vortag die Faktorei besucht hatte, um Schmiergeld für das Einlaufen der „Goldenen Henne“ zu kassieren. Ein richtiger Lüstling, dieser Mann!

Er hatte sie sogar unter dem Kinn kitzeln wollen. Mehr noch – er hatte Arne gefragt, ob Isabella nicht als Zofe in der Residenz arbeiten könne. Arne hatte ihn jedoch darauf hingewiesen, daß Isabella gelegentlich an Wahnvorstellungen leide. Daraufhin hatte der sehr ehrenwerte Herr Gouverneur doch lieber auf das Mädchen verzichtet.

„Bleib ganz ruhig“, sagte Jörgen Bruhn. „Ich glaube, Alonzo de Escobedo bricht sich noch selbst das Genick.“

„Das wünsche ich ihm von Herzen“, sagte Isabella grimmig.

Jörgen grinste. „Und wer wird nach ihm Gouverneur?“

„Das steht in den Sternen“, erwiderte Arne. „Aber eins ist sicher: der ständige Wechsel von Autoritäten bekommt der Kasse des Handelshauses von Manteuffel nicht sonderlich gut.“ Richtig: am Vortag hatte Arne ein Ledersäckchen mit Goldtalern berappen müssen, um den werten Alonzo de Escobedo freundlich zu stimmen. Wenn das so weiterging, überstiegen die „Investitionen“ in den neuen Gouverneur bei weitem das Maß an Kapital, das Arne für den dicken Don Antonio hatte aufwenden müssen.

Isabella und Jörgen verfolgten von einem der Fenster der Faktorei aus, was weiter am Hafen und insbesondere bei der Wachbehörde passierte. Arne indessen betrat den Hof und gesellte sich zu Jussuf und den Männern der „Goldenen Henne“, die damit beschäftigt waren, transportable Verschläge für die Brieftauben zu zimmern.

Tom Coogan, der Schiffszimmermann, und Mel Ferrow, der Mann mit dem Haizeichen, sägten die Bretter zurecht und fügten sie entsprechend zusammen. Jussuf brachte mit einem großen Hammer die Nägel an. Einmal hieb er Mel Ferrow um ein Haar auf die Hand.

„Mann, paß bloß auf“, sagte Mel Ferrow. „Hau dir lieber auf den eigenen Daumen.“

Jussuf lächelte schwach. „Selbstverständlich, mein Freund. Aber meine kleinen Lieblinge wären zu Tode erschrocken, wenn sie mich schreien hören würden.“

„Und was ist, wenn sie Mel schreien hören?“ fragte Tom Coogan.

„Ach, sie kennen ihn ja nicht“, erwiderte Jussuf.

Damit hatte Jussuf die Lacher wieder einmal auf seiner Seite. Auch Arne konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Das war typisch Jussuf: stets zu Späßen aufgelegt. Auch in den kniffligsten und schwierigsten Situationen verlor er seinen Humor nicht.

„So“, sagte Coogan. „Jetzt zimmern wir noch zwei Käfige zurecht, dann sind wir fertig.“

„Und bald können wir wieder auslaufen“, fügte Mel Ferrow hinzu. „Es wird auch Zeit, daß wir die Verbindung zwischen der Cherokee-Bucht und hier endlich herstellen. Jussuf, bist du sicher, daß deine Vögelchen die neue Lage kapieren und sich darauf einstellen?“

Jussuf zeigte sich empört. „Sicher? Ich habe nicht den geringsten Zweifel! Meine Lieblinge haben mehr Grips in ihren Köpfchen als du!“

„Langsam“, sagte Ferrow mit ziemlich drohender Miene. „Oder gleich gibt’s Zunder!“

„Streitet euch nicht“, mischte Arne sich ein. „Und du, Jussuf, solltest deine Zunge im Zaum halten.“

„Natürlich!“ stieß Jussuf mit geweiteten Augen hervor. „Aber ich verteidige doch nur meine gefiederten Schätzchen! Ist das nicht mein gutes Recht?“

„Ja, schon gut“, entgegnete Arne. „Keiner will deine Tauben beleidigen. Sie werden uns auch weiterhin nützliche Dienste erweisen, wie sie es im Pendelverkehr zwischen Havanna und der Schlangen-Insel getan haben.“

Mel Ferrow nahm Jussuf den Hammer ab und trieb selbst die Nägel in das Holz.

„Alles ganz schön und gut“, meinte er. „Aber wir müssen Jussufs Anwesenheit an Bord erdulden. He, Tom, was meinst du? Halten wir das bis zur Cherokee-Bucht durch?“

„Mal sehen“, erwiderte der bärtige Mann. „Wenn er zu vorlaut wird, können wir ihn ja auch in die Vorpiek der ‚Henne‘ stecken.“

„Das würdet ihr mir antun?“ fragte Jussuf entsetzt. „Feine Kameraden seid ihr!“

So ging es weiter. Das Gespräch der Männer begleitete die Arbeiten. Tatsächlich war es einer der Hauptgründe, warum Jean Ribault und die Crew der „Goldenen Henne“ samt Renke Eggens und fünf anderen Deutschen auf Hasards Befehl nach Havanna gesegelt waren: Jussuf und seine Tauben sollten zur Cherokee-Bucht zurücksegeln, damit die Tiere von dort aus etappenweise auf die neue Flugroute Südwesten-zum-Westen beziehungsweise Nordosten-zum-Osten, also Cherokee-Schlangen-Insel – Havanna und umgekehrt eingetrimmt werden konnten.

Die neue Position des Schlupfwinkels brachte in dieser Hinsicht einen wesentlichen Vorteil mit sich. Im Gegensatz zur früheren Flugroute Schlangeninsel-Havanna und umgekehrt betrug die neue Distanz zwischen der Cherokee-Bucht und Havanna nur etwa 400 Meilen Luftlinie. Zuvor war die Entfernung ungefähr doppelt so groß gewesen. Folglich würde sich auch die Flugzeit der Brieftauben entsprechend verringern. Sie würden in Zukunft die Route in sieben Stunden bewältigen; vorher waren es an die vierzehn Stunden gewesen.

Diesen Vorteil konnten die Männer des Bundes der Korsaren nicht hoch genug einschätzen, zumal sich ja auch der Anmarschweg zum „Kampfgebiet“ in der nördlichen Florida-Straße von Great Abaco aus ganz erheblich verkürzt hatte.

Die Männer vom Bund der Korsaren hatten die Schlangen-Insel verloren, aber mit dem neuen Stützpunkt hatten sie taktische und strategische Vorteile gewonnen. Unter diesem positiven Aspekt setzten sie ihr Werk fort – und fieberten bereits neuen Aktionen entgegen. Daß Hasard, Ben Brighton und der Wikinger inzwischen den Konvoi mit der „Isabella IX.“, der „Chubasco“ und dem Schwarzen Segler angegriffen und „aufgeknackt“ hatten, wußten die Männer in Havanna noch nicht.

Während auf dem Hof der Faktorei die Verschläge für die Brieftauben gezimmert wurden, waren die anderen Männer der „Goldenen Henne“ damit beschäftigt, das Schiff mit jenen Gütern zu beladen, die im neuen Stützpunkt an der Cherokee-Bucht gebraucht wurden: geschnittene Hölzer, geschmiedete Nägel in jeder Größe und Dicke, Tauwerk, Segeltuch- und Stoffballen sowie auch Nähzeug, Küchengeräte, Geschirr, Stoffe und Seife für die Ladys, die eine entsprechende Liste angefertigt hatten und auf die Waren warteten.

Jean Ribault beobachtete durch einen Kieker, wie die beiden Wachschaluppen den Hafen verließen und durch die Zufahrt zwischen dem Castillo de la Punta und dem Castillo del Morro auf die Reede hinaussegelten. Wieder mußte Ribault grinsen, denn er dachte daran, wie der Kapitän der französischen Handelsgaleone, Marcel Giraud, die Spanier empfangen würde.

Giraud blickte mit grimmiger Miene zu den beiden Einmastschaluppen, die sich seinem vor Anker liegenden Schiff näherten. Kaum waren sie auf Rufweite heran, preite er ihre Besatzungen an: „Wahrschau! Was geht hier eigentlich vor, zur Hölle noch mal? Was ist das für eine Sauerei, einem friedlichen Handelssegler die Einfahrt in den Hafen zu verweigern?“

„Señor!“ rief Pablo Mendez, der eine der beiden Schaluppenführer, zurück. „Das ist nicht unsere Schuld!“

„Es ist mir scheißegal, wer die Schuld hat!“ brüllte Giraud. „Sagen Sie Ihrem Gouverneur und Ihren verdammten Hafenbehörden, daß ich den bürokratischen Dreck satt habe!“ Er ließ noch einige saftige Flüche vom Stapel, die seine Worte bekräftigen sollten.

Mendez und Farina blickten betroffen drein, und auch ihre Besatzungen waren noch ratloser, als sie das im Hafen von Havanna gewesen waren. Sie wußten nicht, daß der Kapitän der Galeone sie bewußt „zur Schnecke machte“. Giraud bereitete es ein geradezu diebisches Vergnügen, nach den Ereignissen der Nacht jetzt die Spanier kräftig zur Brust zu nehmen.

„Verfluchter Mist!“ schrie er. „Wir sind schließlich an die sechs Wochen auf See gewesen! Und da ist es eine Rücksichtslosigkeit, Mannschaft und Kapitän auf Reede warten zu lassen! Zumal wir Trinkwasser und Proviant ergänzen müssen!“

„Señor, beruhigen Sie sich!“ rief Farina.

„Ich will mich aber nicht beruhigen!“ brüllte Giraud zurück. „Wir sind keine Bettler, merkt euch das, ihr spanischen Satansbraten!“

„Señor!“ schrie nun auch Mendez noch einmal, aber weiter gelangte er nicht. Giraud brüllte schon wieder.

„Wir sind ehrliche Kauffahrer!“ stieß er hervor. „Und wir haben es nicht nötig, uns hier schikanieren zu lassen! Entweder läßt man uns innerhalb einer Stunde einlaufen, oder wir suchen uns für unsere Geschäfte einen anderen Hafen, wo man mehr Wert legt auf gute Handelsbeziehungen als in Havanna! Verstanden?“

Mendez und Farina tauschten einen Blick miteinander. Sie sahen ziemlich begossen aus. Recht hatte er, der Franzose, sie an seiner Stelle hätten sich wohl noch viel schlimmer aufgeführt. Aber das konnten sie natürlich nicht offen eingestehen. Sie suchten nach Worten. Mendez war es schließlich, der sich wieder an den Franzosen wandte.

Er blickte zu dem blondbärtigen, stämmigen Mann mit den energischen Zügen hoch und sagte: „Señor, wir haben verstanden. Wir können uns nur mit der Order des Señor Gouverneurs entschuldigen.“

„Wissen Sie, was Ihr Señor Gouverneur mich kann?“ rief Giraud barsch.

Mendez räusperte sich. „Ich glaube schon. Aber er hat die Order erlassen, daß fremde Schiffe nicht sofort einlaufen dürfen, und wir müssen uns danach richten.“

„Noch einmal“, sagte Giraud laut und vernehmlich. „Meine Leute und ich warten jetzt noch eine Stunde. Danach gehen wir ankerauf und laufen einen anderen Hafen an – zum Beispiel Cartagena. Dort ist man bestimmt freundlicher und gewillter, ein paar gute Geschäfte mit uns abzuschließen.“

Mendez biß sich auf die Unterlippe. Sein Bruder hatte in Havanna vor kurzem den Laden eines Schiffsausrüsters übernommen. Er konnte gar nicht genug Kunden kriegen, um das Geschäft richtig anzukurbeln, und immer, wenn jemand nach einem Ausrüster fragte, verwies auch Mendez den Betreffenden sofort an seinen Bruder. Sicherlich brauchte auch der Franzose für sein Schiff das eine oder andere Zubehör. So war einer der vom Verdienstausfall Betroffenen Mendez’ Bruder, falls der Franzose den Anker lichtete und die Reede von Havanna verließ.

 

Mendez und Farina gehörten nicht zu den Männern, die als Handlanger für den Gouverneur de Escobedo arbeiteten. Sie ahnten aber – besonders aufgrund der letzten Vorkommnisse –, daß hier auf der Reede des Nachts recht üble Dinge passierten, in die ihr verschwundener Teniente und der Gouverneur verwickelt sein mußten.

Mendez schaute wieder zu Giraud hoch und sagte: „Señor, wir werden uns um die Einlaufgenehmigung kümmern.“

„Dann beeilen Sie sich“, sagte Giraud. „Sonst könnte es sein, daß Sie uns bei Ihrer Rückkehr nicht mehr vorfinden.“

Mendez gab seinen Männern das Zeichen, die inzwischen aufgetuchten Segel der Schaluppe wieder zu setzen.

„Ich segle in den Hafen zurück“, sagte er zu Farina. „Halte du hier solange die Stellung.“

„In Ordnung“, erwiderte Farina. Etwas Besseres fiel ihm ohnehin nicht ein. Und was konnte man anderes unternehmen?

Die Schaluppe von Mendez kehrte in den Hafen zurück. Farina und dessen Männer nahmen mit ihrer Schaluppe ebenfalls wieder Fahrt auf und segelten vor der Hafeneinfahrt auf und ab.

Giraud wandte sich grinsend zu seinen Männern um. „Ist das nicht herrlich? Ich möchte mal das Gesicht des Gouverneurs sehen, wenn er erfährt, daß man unser Schiff nicht geentert hat und wir alle noch am Leben sind.“

„Ich würde ihm gern was reinhauen in das Gesicht“, brummte einer der Männer. „So ein Dreckskerl. Wenn wir von unserem Landsmann nicht gewarnt worden wären, hätte man uns die Gurgeln durchgeschnitten.“

Ja, der Landsmann – sie kannten zwar immer noch nicht den Namen ihres Freundes und Helfers, aber sie waren sich darüber einig, daß der Mann ein feiner Kerl war. Das einzige, was Giraud bedauerte, wenn er die Reede von Havanna doch verließ, war die Tatsache, daß er diesen Mann nicht wiedersehen würde.

Jean Ribault war es gewesen, der Marcel Giraud am Vortag entsprechend unterrichtet hatte. Mit Costa, dem Fischer, war er unbemerkt auf die Reede und an Bord der französischen Galeone gelangt. Giraud hatte, als er von dem geplanten Überfall auf sein Schiff erfahren hatte, die Galeone sofort gefechtsklar machen lassen. Ribault hatte ihm empfohlen, nach Cartagena auszulaufen, doch Giraud hatte beschlossen, noch die Nacht und den nächsten Morgen abzuwarten. Im übrigen hatte Jean Ribault seinen Landsleuten auch berichtet, was in der Vornacht mit der portugiesischen Galeone und deren Besatzung geschehen war.

Die Küstenwölfe, die die französische Galeone ausplündern wollten, waren allesamt den Haien zum Opfer gefallen. Jean Ribault und Roger Lutz hatten durch ihre Aktion die Bande vernichtet. Doch wie würde der Gouverneur reagieren?

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