Seewölfe - Piraten der Weltmeere 493

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 493
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Impressum

© 1976/2019 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-901-7

Internet:

www.vpm.de

 und E-Mail:

info@vpm.de









Roy Palmer











Die Scharfrichter







Sie sangen Choräle – und dabei henkten sie







Leider hatte sich die „Almeria“ auf ihrer Fahrt nach Havanna versegelt und steuerte genau jenen Punkt von East Caicos an, wo die Schatzschiffe des Seewölfe lagen und ihre Beute zurück an Bord mannten. Old O’Flynn wurde mit seiner „Empress“ der spanischen Galeone entgegengeschickt, um die Dons wegzulotsen. Das gelang auch, aber dennoch hatte der Ausguck der „Almeria“ gespitzt, was sich in der Lagune abspielte. Diego Martos, der Kapitän der Almeria, war ein schlitzohriger Halunke – und scharf auf reiche Beute. Mit einer Geiselnahme meinte er, sich die Beute holen zu können. Es wurde ein Fiasko für ihn, seine Kerle, die Ladung und sein Schiff. Die Ladung bestand aus Bluthunden – Grund genug für Hasard und seine Mannen, hart zuzuschlagen …









Die Hauptpersonen des Romans:





Jeremiah Josias Webster

 – ein heuchelnder Wanderprediger, der mit seiner Gemeinde in die Neue Welt aufgebrochen ist.



Philip Hasard Killigrew

 – der Seewolf hat etwas dagegen, unangenehme Nachbarn zu haben.



Old Donegal O’Flynn

 – mit einer Crew harter Kämpfer verfolgt er die vier Schiffe der Puritaner.



Edwin Carberry

 – der Profos hat Gelegenheit, seine Fäuste fliegen zu lassen.




Inhalt





Kapitel 1







Kapitel 2







Kapitel 3







Kapitel 4







Kapitel 5







Kapitel 6







Kapitel 7









1.





Wie verlorene Seelen taumelten die Galeonen in der kabbeligen See. Es schien, als hätten sie jeglichen Kurs verloren, als mangele es ihnen an Führung. Soeben war ein schwerer Sturm über den aus vier Dreimastern bestehenden Verband hinweggezogen.



Verwirrt blickten sich die Männer und Frauen um, die sich als erste wieder an Oberdeck wagten. Noch war der Himmel grau verhangen. Regen und Gischt sprühten über die Decks der Schiffe. Schäden hatte es gegeben: hier war der Bugspriet weggeknickt, dort hatte es den Fockmast abgetakelt, überall hingen die Segel in Fetzen, und auf einer Galeone war das Ruder ramponiert.



Verzweiflung und Resignation breiteten sich unter den Besatzungen aus. Es hatte sich schon so viel ereignet, seit man die Alte Welt verlassen hatte. Sturm und Krankheit – die Geißel Gottes schien die vormals so Mutigen zu züchtigen, die ausgezogen waren, das Gelobte Land zu suchen und zu finden.



Doch nun war es wieder die Stimme des Großmeisters, des Erhabenen, die alle wachrüttelte und zu neuen Taten antrieb. Jeremiah Josias Webster – er, das „Flammenschwert Gottes“, wie er sich selbst zu nennen pflegte, kommandierte in alter Frische und Stärke vom Achterdeck seines Flaggschiffes „Kyrie eleison“ aus. Seine Donnerstimme verlieh den Jüngern und den „Bräuten Christi“ neue Energien, sie war ein labender Balsam für die Erschöpften und Ermatteten.



So fanden die vier Schiffe wieder zueinander, und Webster legte erneut den Kurs fest, den man im Wetter verloren hatte. Gen Westen – in die Neue Welt! Neue Segel wurden gesetzt, das Rigg der Galeonen wurde überholt. Hämmern und Klopfen, Sägen und Klappern ertönte von den Decks und aus dem Inneren der Schiffe. Die Schäden wurden ausgebessert, Lecks abgedichtet, Wasser abgepumpt.



Orman Smead, einer der Pilger an Bord der „Kyrie eleison“, enterte zu den Frauen ab, die in einem großen Raum gleich neben dem eigentlichen Mannschaftslogis untergebracht waren.



Er trat an die Koje, in der seine Frau Judith lag, und sprach mit fester Stimme: „Judith, es ist vollbracht.“



Judith Smead hatte Fieber. Sie war wachsbleich im Gesicht und wurde hin und wieder von Schüttelfrost gepackt. Noch wußte keiner, um welche Art von Krankheit es sich handelte. Vielleicht nur Erkältung, vielleicht aber auch Schlimmeres. Webster hatte vorgeschlagen, die Frau in eine andere Kammer zu legen, beispielsweise ins Achterdeck. Doch die Frauen hatten einmütig erklärt, sie wollten sich lieber hier im Vordeck der Kranken widmen. Judith Smead war bei allen beliebt, sie hatte sich stets aufopfernd für Hilfsbedürftige eingesetzt – sowohl in ihrer Heimat als auch während der Überfahrt.



„Was – ist vollbracht?“ fragte die Frau leise.



„Wir segeln wieder“, antwortete ihr Mann stolz.



„Du glaubst, wir schaffen es?“



„Er sagt es.“



„Und er irrt sich nicht?“ fragte sie zweifelnd.



„Das darfst du nicht sagen“, tadelte Orman Smead. „Das ist Sünde. Der Erhabene irrt sich nie. Sein Wort ist das Wort Gottes.“



„Du meinst, wir werden die Neue Welt erreichen?“



„Wir schaffen es.“



„Auch ich werde die Neue Welt noch sehen?“ fragte Judith Smead.



Ihr Mann berührte mit den Fingern der rechten Hand ihre Stirn. „Aber sicher doch. Ich habe nie daran gezweifelt. Der Herr ist mein Hirte, er weist mir den Weg.“



Es stimmte: Orman Smead hatte nie den geringsten Zweifel an dem gehegt, was der Großmeister Webster suggerierte und auferlegte. So ging es auch den anderen. Websters Wort war Gebot und Gesetz zugleich.



Er war der Führer dieser Sekte, und alle folgten ihm bedenkenlos. Kritik war nicht üblich. Kritik war Sünde. Die Pilger waren ausgezogen, das Gelobte Land zu besiedeln und die Burg Zions zu erbauen. Nichts und niemand konnte sie davon abbringen.



Der Glaube versetzte bekanntlich Berge. Drei Monate waren vergangen, seit der Verband Plymouth verlassen hatte. An Bord der Galeonen hatten sich insgesamt fast 450 Menschen befunden, zusätzlich das Getier, das während der Reise als Frischverpflegung diente.



Inzwischen waren es nur noch etwas über vierhundert Männer und Frauen – doch auch der Sturm hatte ihren Willen, die Neue Welt zu erreichen, nicht ganz zerstören können. Kaum ließ Jeremiah Josias Webster die Posaune des Erzengels Gabriel ertönen, schufteten die Frommen wieder wie die Besessenen.



Später, als die wichtigsten Ausbesserungsarbeiten vollzogen waren, ließ Webster eine Andacht anberaumen. Die Gläubigen stimmten einen schmetternden Choral an. Am lautesten sang Webster. Daß er beim Singen aber die jungen Frauen beobachtete, die sich unter ihm auf der Kuhl ganz in der vordersten Reihe der Gemeinde versammelt hatten, fiel keinem auf. Ihr Hühnchen, dachte er selbstgefällig und zufrieden, bald ist wieder eine von euch dran.





Er war ein stiernackiger und grobschlächtiger Kerl, dieser Jeremiah Josias Webster. Sein Gesicht war kein richtiges Gesicht, sondern eher eine Hauklotzvisage, doch darüber sahen die Gläubigen gern hinweg. Mußte der Messias denn unbedingt ein Adonis sein? Und wie sah Jehova überhaupt aus? Du sollst dir kein Bild von Gott machen, hieß es in der Bibel. Also war es Sünde, den Herrn auf Gemälden darzustellen. Dies war der Grund, warum der „Erleuchtete“, wie Webster gelegentlich auch genannt wurde, es seiner Gefolgschaft verboten hatte, Bilder vom Herrn zu zeichnen. Es gab auch keine Heiligenbilder in der Gemeinde. Puritanisch karg und sparsam lebten diese Menschen – und vor allen Dingen selbstzüchtig.



Nach der Andacht zog sich Webster an diesem Abend in seine Kapitänskammer im Achterdeck der „Kyrie eleison“ zurück. Er ließ sich auf dem Gestühl hinter dem Pult nieder und grinste. Seine hellen Augen funkelten. Na, war es nicht großartig, wie er diese Hammelherde im Zaum hielt?



Eine Weile dachte er darüber nach, dann erhob er sich wieder, trat an eins der Schapps und holte eine Flasche Rotwein heraus. Natürlich war es den Pilgern nicht gestattet, zu saufen, zu huren und der Völlerei zu frönen. Was er aber, der Großmeister, tat, stand auf einem ganz anderen Blatt. Im übrigen war es den gemeinen Sterblichen nicht gestattet, das Allerheiligste des Erhabenen zu betreten. Was er hier trieb und welchen Gepflogenheiten er nachging, war einzig und allein seine Sache.



Webster bewaffnete sich mit der Flasche und einem großen Zinnbecher und kehrte zum Kapitänspult zurück. Mit einem Seufzer setzte er sich. Er öffnete die Flasche, drehte den Korken zwischen den Fingern und rieb ihn an dem bauchigen Behältnis auf und ab. Das erzeugte ein neckisches Quietschen. Der Großmeister lachte glucksend. O ja: auch wenn er seiner Gefolgschaft menschliche Gelüste verbot – er selbst wußte nur zu gut, was Genuß bedeutete.



Mit zufriedenem Gesicht füllte Jeremiah Josias Webster den Becher. Er roch erst einmal an dem Wein, bevor er ihn trank, und atmete den blumigen Duft des schweren, herben Rebensaftes voll ein. Seine Miene war jetzt verzückt. Er konnte sich zu der Idee, vor der Abreise aus England zwei Dutzend Fässer Wein eingekauft zu haben, nur immer wieder gratulieren. Spanischer Rotwein aus Murcia – ein vorzüglicher Tropfen! Aber nur er konnte beurteilen, welchen Wert dieser Wein hatte. Die Gläubigen kannten sich ja nicht einmal mit gewöhnlichem Bier aus.

 



Die meisten Weinfässer hatte Webster seiner Gemeinde gegenüber natürlich als Essig deklariert, damit keiner auf den Verdacht verfiel, der Erhabene sei vielleicht ein heimlicher Säufer. Der Rest der Partie Rebensaft war Abendmahlswein. Selbstverständlich mußte man einen entsprechenden Vorrat mitnehmen, denn dort, wo man in der Neuen Welt Fuß fassen würde, gab es bestimmt keinen Wein. Man mußte – dessen war Webster sicher – die Rebstöcke erst anbauen. Wie aber sollte man das Heilige Abendmahl zelebrieren, wenn es keinen Wein und keine Oblaten gab?



Webster ließ den Wein die Kehle hinunterrinnen. Was für ein Tropfen! dachte er. Was für ein Leben!



Es ging ihm gut. Der Sturm war überstanden, die Schäden waren nicht allzu groß und ließen sich reparieren. Ein Grund zum Feiern. Webster hob erneut den Becher an den Mund un trank. Er schloß die Augen. Der Abend ließ sich gut an, und im Verlaufe der nächsten Stunden würde er seine Vollendung finden.



Es befanden sich genug junge Frauen und Mädchen an Bord. Hin und wieder vergnügte sich Webster mit einer von ihnen. Natürlich war das keine Sünde, sondern vielmehr eine besondere Art der Teufelsaustreibung.



Die meisten der „Hühnchen“ unterwarfen sich der Prozedur recht bereitwillig. Nur zu gern ließen sie sich den Teufel aus dem Leib treiben. Webster war ein großartiger Exorzist, er kannte alle Mittel und Tricks. Und wenn der Leibhaftige wieder Einzug hielt in den sündigen Körper einer Jüngerin, so mußte er eben erneut verjagt werden. Je öfter man ihn verscheuchte, desto besser war es.



Andere Mädchen wieder – wie diese Jessica Baker zum Beispiel – ließen sich nicht so ohne weiteres in die Kammer des Großmeisters locken. Das Mißtrauen schien ihnen angeboren zu sein. Bei Jessica mußte Webster besonders aufpassen.



Sie war die Nichte von John Baker, einem redlichen Mann, der seine ganze Familie mit an Bord der „Kyrie eleison“ gebracht hatte. Mit diesem Baker durfte es Webster auf keinen Fall verderben. Alle gehorchten dem Erhabenen, aber auch auf Männer wie John Baker hörte die Gemeinde. Gerade während der Überfahrt war es wichtig, daß die Einigkeit und der Zusammenhalt der „Auserwählten Gottes“ durch nichts beeinträchtigt wurde.



Webster leerte den Becher und setzte ihn auf dem Pult ab. Nun, er hatte ja viel Zeit. Diese Jessica konnte er sich immer noch schnappen. Im „gelobten Land“ hatte er dazu noch reichlich Gelegenheit. Er sparte sie sich ganz einfach für später auf, als besonderen Leckerbissen.



Während er über die „Hühnchen“ nachdachte, die sich an Bord der Galeone befanden, trank Webster in aller Gemütsruhe die Flasche Wein aus. Was gab es Besseres als ein kleines Ein-Mann-Gelage und anschließend eine Teufelsaustreibung in der Koje? Webster lachte leise in sich hinein. Hölle und Teufel, er hatte wirklich den richtigen Dreh gefunden. Alle waren ihm mit Leib und Seele verfallen. Er konnte sie kommandieren, wie er wollte. Und er hatte keine Repressalien zu fürchten wie daheim in England.



Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse des Hasses und der Verachtung. England! Zum Teufel mit dem Land! Er, Webster, wünschte seinen Landsleuten, die auf jener Insel des Elends ihr Dasein fristeten, daß sie allesamt über den Jordan gingen oder vom Blitz getroffen wurden. Sie hatten es nicht anders verdient. Nach ihren Gesetzen hätte er bereits irgendwo am Galgen gebaumelt.



„Ketzer“, murmelte Webster. „Sünder! Natterngezücht!“



In England hatte er tüchtig gegen die Krone gewettert und die Königin eine „babylonische Hure“ genannt. Mut hatte er, das mußte man Webster lassen. Allein das Wettern gegen die „barbarischen Zustände am Hof“ hätte in manchem anderen Fall schon ausgereicht, um den betreffenden Moral-Prediger an den Galgen zu bringen oder dem Schwert des Scharfrichters auszuliefern.



Nicht so im Falle Jeremiah Josias Webster. Der schien tatsächlich so etwas wie einen Schutzengel zu haben. Ein Umstand, der ihm seitens seiner Gemeinde natürlich noch mehr Achtung einbrachte. Was denn – dieser Kerl fluchte und schimpfte gegen das Königshaus und die Regierung, und man ließ ihn leben?



Keineswegs. Einen derartigen Schwächebeweis konnte sich Elizabeth I. nicht leisten. Sie hatte auch, als Webster seine Rede von der „babylonischen Hure“ vom Stapel ließ, sicherlich mit dem Gedanken gespielt, den Kerl öffentlich verbrennen zu lassen, wie man es in einem ähnlichen Fall in Florenz mit einem Mönch namens Savonarola getan hatte. Aber dann hatte sie sich eines Besseren belehren lassen. Es war sehr unklug, Webster hinzurichten. Immerhin hatte er es verstanden, einige Volksmassen um sich zu scharen. Ihn aufzuknüpfen, konnte Revolution bedeuten.



Also mußte die Angelegenheit anders gehandhabt werden. Die Königin war eine scharfe Gegnerin der Puritaner, und der Elisabethanische Strafvollzug sah vor, daß Kerle wie Webster zur Rechenschaft gezogen wurden, indem man sie entweder zum Zappeln aufhängte oder um einen Kopf verkürzte. Diese Gesetze wollten geschickt umgangen werden. Folglich wählte die Königin den Weg des geringeren Widerstandes: Sie schob Jeremiah Josias Webster einfach aus England ab – samt seiner wachsenden Anhängerschaft.



Die Frage war, ob ein Rammklotz wie Webster, ein Fanatiker und Draufgänger, sich so einfach abschieben ließ. Doch hier verfuhren die Schergen der Königin, die Webster heimlich aufsuchten, nach dem Prinzip des Zuckerbrotes und der Peitsche. Sie überreichten Webster einen Ledersack voll Golddukaten, damit er sich ein Schiff kaufen konnte. Gleichzeitig drohten sie, ihn meuchlings ermorden zu lassen, wenn er nicht schleunigst England verließ.



Webster hatte sich die Sache gründlich überlegt. Eigentlich hatte er schon immer vorgehabt, auszuwandern. Die Möglichkeiten, so eine Anhängerschaft tüchtig auszubeuten, sollten in der Neuen Welt viel größer sein als in Europa, wo das eigentliche Problem die Landbeschaffung war.



In Amerika, so hatte Webster vernommen, brauchte man nur zu landen, und schon gehörte einem die Insel oder die Erde, auf die man seinen Fuß gesetzt hatte. Tauchten irgendwelche Eingeborenen auf, die einem das Leben erschwerten, so genügte es, sie zu erschlagen oder zu vergiften.



Gewiß, einen Teil, dieser Neuen Welt beanspruchten die Spanier für sich. Doch weiter oben im Norden sollte der neue Kontinent noch mehr oder weniger Niemandsland sein. Also, hatte Webster gedacht, dorthin wollen wir segeln.



Darum hatte er seine Gemeinde um sich versammelt und ihr verkündet, der Herr habe ihm ein Zeichen gegeben und ihn im übrigen dahingehend erleuchtet, daß der Weg der Auserwählten Zions und Jehovas über den Atlantik in die Neue Welt führe, wo sie das gelobte Land vorfinden würden.



Zu diesem Zweck müsse man in England allen Besitz aufgeben und verkaufen und eine Anzahl von Galeonen erstehen, mit denen man das Jammertal und das Sündenbabel hinter sich lassen werde. Schließlich könne man nicht über das Meer spazieren, wie es dereinst Jesus getan hatte.



Man konnte auch nicht erwarten, daß sich die Fluten teilten, wie es der Fall gewesen war, als Moses und das Volk der Juden Ägypten verlassen hatten, um nach einer neuen Heimat zu suchen. Damals hatte es eben noch keine so guten und soliden Schiffe gegeben. Außerdem war der Atlantik größer als der See Genezareth oder das Rote Meer.



All das sahen Websters Anhänger ein. Prompt verkauften sie Haus und Hof und sahen sich in Plymouth nach entsprechenden Schiffen um. Vier Galeonen mußten schon her, um die Gemeinde Jehovas zu befördern. So kauften die Auserwählten die Segler und tauften sie auf Namen um, die dem Sinn und Ziel ihrer Sache entsprachen. „Kyrie eleison“ hieß das Flaggschiff – Herr, erbarme dich! „Cherubim“ lautete der Name der zweiten Galeone, und die dritte und vierte hatten ähnliche Namen biblischer Herkunft.



Die Gläubigen hatten also ihr letztes Hemd hergegeben, um die Schiffe zu kaufen. Webster indes hatte nicht im Traum daran gedacht, auch die Golddukaten zu verwenden. Die behielt er für sich – als Rücklage für schlechtere Zeiten. Man konnte nie wissen, was kam.



Im übrigen hatte Webster seiner Gemeinde wohlweislich vorenthalten, daß er sozusagen auf den sanften Druck des Königshauses hin England verließ. Nein, das brauchte keiner zu wissen. Sein Weichen wäre als Schwäche ausgelegt worden. Das schadete dem Charisma. Also erwähnte es Webster erst gar nicht.



Innerlich frohlockte er. Er nannte vier wertvolle Schiffe sein eigen, hatte einen Sack voll Gold und auch sonst alles, was er wollte: Wein, genug zu essen, Frauen. Was wollte er mehr? In der Neuen Welt würde er sich ein gutes Stück Land aneignen. Vielleicht eine Insel? Er würde sehen, wie sich die Dinge ergaben. Auf jeden Fall brauchte er selbst keinen Finger zu rühren. Die Jünger Zions würden wie üblich für ihn schuften. Sie würden Häuser bauen und Vieh züchten, die Felder bestellen und ernten. Websters Aktivitäten würden sich auf Predigen, aufs Teufelaustreiben und eventuell auf die Vermehrung der Gemeinde beschränken.



Jeremiah Josias Webster öffnete noch eine Flasche Wein und holte ein Stück kaltes Schweinefilet aus dem Schapp, das er mit ein paar Scheiben Brot verspeiste. Ja, auch das konnten die Auserwählten Jehovahs: Sie hatten säckeweise Mehl mit an Bord gebracht. Jede Woche der Überfahrt wurde frisches Brot gebacken.



Und jede Woche wurde auch eins der Tiere geschlachtet, mal ein Schwein, mal ein Schaf oder eine Ziege. Auf den Galeonen standen Verschläge, in denen die Tiere untergebracht waren. Es gab auch Federvieh – Legehennen und Suppenhühner, aber auch junge, kräftige Hähne, die die Fortpflanzung der Art sicherten.



Schmatzend beendete Webster seine Mahlzeit. Dann leerte er auch die zweite Flasche Wein. Er wollte sich erheben, um sich eine der jungen Frauen zu holen und zum gemütlicheren Teil des Abends überzugehen, doch plötzlich näherten sich der Kapitänskammer polternde Schritte. Webster hob den Kopf. Seine Augen verengten sich. Sein Gesichtsausdruck war lauernd. Was hatte das zu bedeuten?





Orman Smead atmete auf. Ein Wunder schien geschehen zu sein: seine Frau hatte fast kein Fieber mehr. Endlich lächelte sie wieder, und eben hatte sie von der heißen Suppe gegessen, die von den anderen Frauen zubereitet worden war. Judith war über den Berg, wie die Frauen dem Mann glaubhaft versichert hatten. Der Sturm schien ihre Krankheit weggeblasen zu haben.



Jawohl, es war der Glaube, der ganze Berge versetzte. Orman Smead legte seiner Frau ergriffen die Hand auf die Stirn.



„Dem Herrn sei Dank“, sagte er.



Etwas später, als Judith Smead eingeschlafen war, beschloß ihr Mann, die Kuhl aufzusuchen und ein Gebet zu sprechen. Immer wenn er nachts sein Antlitz dem Mond und den Sternen zuwendete, hatte Smead das Gefühl, besonders enge Zwiesprache mit Gott zu halten.



Orman Smead schritt durch das Schiff, tief in seine Gedanken verstrickt. Fast überhörte er die Geräusche, die gedämpft aus einer der Kammern drangen. Dann aber schien es eine innere Stimme zu sein, die ihn bremste und alarmierte. Himmel – was für Laute waren das?



Betroffen verharrte Smead. Einen Augenblick stand er mit verhaltenem Atem da. Dann konnte er nicht anders – er mußte sein Ohr an das Schott der Kammer legen und lauschen. Heilige Mutter Gottes, dachte er, was geht hier vor?



Die Laute schienen ziemlich eindeutig darüber Auskunft zu geben. Die Töne der Lust waren da zu hören, mal ein unterdrücktes Stöhnen und dann wieder eine Art Keuchen.



Orman Smead richtete sich wieder auf und schnappte nach Luft. Er war versucht, das Schott einzurennen und empört in die Kammer zu stürmen. Doch durfte er das? Nein – es lag nicht im Bereich seiner Kompetenzen. Nur einer war befugt, in einem Fall wie diesem einzuschreiten, und das war der Großmeister selbst.



Smead zögerte keine Sekunde. Statt das Oberdeck aufzusuchen, eilte er geradewegs zur Kammer des Kapitäns und klopfte heftig gegen das Schott.



Von innen ertönte eine dumpfe Stimme. Klang sie nicht auch etwas verzerrt? Unsinn, es konnte nur die Einbildung sein, die Smead etwas Derartiges vorgaukelte. Der Großmeister war allzeit wach und bereit, nichts konnte seine Umsicht und Aufmerksamkeit beeinträchtigen.



„Was ist los?“ brummte die Stimme.



„Erhabener?“ sagte Smead vorsichtig.



„Ja. Was willst du?“ Um ein Haar hätte Webster gesagt: ‚Was, zum Teufel, willst du?‘ Aber er konnte sich gerade noch rechtzeitig genug beherrschen.



„Ich habe etwas zu melden“, erwiderte Smead drängend.



Jeremiah Josias Webster war mit einem Satz auf den Beinen, mußte sich jedoch mit einer Hand am Pult festhalten, weil er ins Schwanken geriet. Diese Art von Gleichgewichtsstörung war nicht auf den Seegang, sondern auf den Rotwein zurückzuführen. Webster brummelte etwas Unverständliches, dann ging er zum Schott und riß es auf.

 



Moses höchstpersönlich schien ihm gegenüberzustehen, es fehlten nur die Gesetzestafeln. Argwöhnisch und fragend zugleich musterte Webster den weißbärtigen Riesen, der im dämmrigen Licht der Öllampe, die am Deckenbalken der Kammer baumelte, auf ihn zutrat.



„Nun?“ fragte der Großmeister. „Was ficht dich an, Orman Smead?“



Smead erwiderte: „Es geschieht Ungeheuerliches auf diesem Schiff, Erhabener.“



„Geht es deiner Frau schlechter?“



„Nein. Das Fieber hat nachgelassen.“



Websters Miene hellte sich etwas auf. „Dann freue dich. Der Herr hilft seinen Schäflein. Da hast du wieder den Beweis. Laß uns gemeinsam beten, Bruder.“



„Es geht nicht um meine Frau Judith“, erklärte Smead. „Es gibt Schlimmeres zu vermelden.“



„Spann mich nicht auf die Folter.“



Smead senkte die Stimme. „In einer der Kammern geht es drunter und drüber. Ich fürchte, da wohnt einer der Seeleute einem der Mädchen bei.“



Fast hätte Webster wegen der Ausdrucksweise des anderen aufgelacht, aber auch das konnte er sich verkneifen. „Bist du ganz sicher?“



„Ja, leider.“



„Diese Nattern gehören bestraft“, sagte Webster.



„Ich wollte schon einschreiten“, sagte Orman Smead. „Aber erst wollte ich mich deiner Zustimmung vergewissern.“



„Das übernehme ich selbst“, sagte Webster. Er drehte sich um, stolperte durch die Kammer und nahm die neunschwänzige Katze vom Haken. Dann kehrte er zu Smead zurück. „Ich werde sie schon züchtigen, diese Sünder!“ verkündete er.



Smead war ein wenig irritiert. Wäre er nicht ganz sicher gewesen, daß Webster in Askese und Abstinenz lebte, dann hätte er in diesem Augenblick geschworen, daß der Erhabene torkelte und auch ein wenig nach Wein roch. Aber das war natürlich eine Täuschung. Er, Orman Smead, war zu aufgeregt, das war es. Zum einen war er überwältigt, weil Gott seiner Frau zur Besserung verholfen hatte, zum anderen versetzte ihn der Sittenverfall an Bord der „Kyrie eleison“ in kochenden Zorn.



Webster stapfte an Smead vorbei. Smead drehte sich um und folgte seinem Großmeister. Gemeinsam suchten sie den Mittschiffsbereich auf. Hier konnte sich Webster davon überzeugen, daß sich der Weißbart weder getäuscht noch irgendwie übertrieben hatte. Da waren sie, die eindeutigen Geräusche. Und Smead war sogar sicher, daß sie an Lautstärke noch zugenommen hatten. Er war entsetzt und schockiert.



Der Großmeister fackelte nicht lange und warf sich gegen das Schott der Kammer. Da der von innen vorgeschobene Riegel standhielt, mußte auch Orman Smead mit einschreiten. Gemeinsam brachen die Männer das Schott auf. Sie stürzten in die Kammer. Webster rutschte aus und fiel sofort hin. Smead stolperte über ihn. Webster wollte fluchen, biß sich aber sofort auf die Unterlippe. Er rappelte sich wieder auf und packte den Mann, der aus der Koje sprang und zu entwischen versuchte.



Das Mädchen hockte aufrecht in der Koje und preßte die Decke gegen die Brust.



„Nein“, flüsterte sie erschrocken. „Nein, bitte nicht. Nur das nicht.“



Der Seemann versuchte, sich loszureißen. Aber da war er bei Webster an der falschen Adresse. Webster schleuderte ihn gegen die Wand und drosch mit der Neunschwänzigen auf ihn ein.



„Natter!“ brüllte er. „Hurenbock!“



Der Seemann brach unter den klatschenden Hieben zusammen. Die junge Frau schrie auf.



„Laß ihn in Ruhe!“ rief sie.



Da griff auch Orman Smead ein, der nun weiß Gott nicht mehr an sich halten konnte. Wütend verpaßte er dem Mädchen zwei schallende Ohrfeigen. Sie sank schluchzend auf die Koje.



„Hure!“ brüllte Smead. „Schäm dich!“



„Schämt euch!“ brüllte auch Webster.



Inzwischen war das ganze Schiff lebendig geworden. Trappelnde Schritte näherten sich, Rufe wurden laut. Die Mitglieder der Gemeinde Jehovas wollten wissen, was los war.



Webster blieb ihnen keine Erklärung schuldig. Mit brutaler Gewalt zerrte er den Seemann auf den Gang hinaus.



„Da!“ schrie er. „Seht ihn euch an! Er ist ein Verbrecher! Ein geiler Hurenbock!“



„Pfui Teufel!“ schrie eine Frau.



„Er hat sich mit dieser Hure eingelassen!“ stieß Smead her

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