Loe raamatut: «Das Bild der Zeit», lehekülg 3

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7. Kamila

September 1941

Wie die anderen Frauen befindet sie sich mitten im Hof. Es ist etwa zwölf Uhr mittags; die Sonne steht hoch am Himmel und beleuchtet mit ihrem grellen Licht die düsteren Baracken und jeden Zentimeter ihres Körpers. Sie blickt auf den armseligen grauen Haufen, der vor ihr im Dreck liegt: ihre Kleider. Vor vielleicht einer Stunde sind sie mit dem Viehtransporter am Ostbahnhof angekommen.

Während der Reise war es dunkel, sie hatten keine Ahnung, wohin es in Wahrheit gehen mochte. Nur dass die ratternden Räder sie forttrugen, irgendwohin nach Deutschland, darüber waren sie sich klar. In dem Waggon hatte es nach Kuhscheiße und nach der Angst gerochen, die Tiere vor der Schlachtung empfinden. Die schwere Ausdünstung hatte sich vermischt mit ihrem eigenen Geruch nach Furcht und Wut. Doch wenigstens waren sie dicht beieinandergesessen; sie hatten sich an den Händen gehalten, polnische Lieder gesungen und sich gegenseitig getröstet: Fünf Frauen, die von einem Moment auf den anderen aus ihrem Leben gerissen wurden; fünf Frauen, die auf dem Feld gearbeitet hatten und plötzlich in eine Ladung Gewehrläufe blickten.

Nach der Festnahme waren sie von einem Arzt untersucht worden. Er machte einen Sehtest und überprüfte die Gelenkigkeit ihrer Finger. Tüchtige Arbeiterinnen wurden jetzt in Deutschland gebraucht, hatte man ihnen gesagt. Frauen, die scharf sahen und fingerfertig waren. Sie würden sogar Geld verdienen, mehr als bei dieser Drecksarbeit hier zu Felde!

Jetzt steht sie hier völlig nackt, so wie die anderen Gefangenen auch. Man hat sie in den Hof getrieben wie eine Herde Rindviecher. Eine Aufseherin hat in die Hände geklatscht und geschrien: »Kleider runter zur Entlausung!«

Die Gefangenen haben sich ungläubig angeblickt. Daraufhin hat die Frau zornentbrannt Justynas Bluse aufgerissen. Justyna hat ihren Hass gezügelt und sich mit aller Würde, die noch möglich scheint, ihrer Kleider entledigt. Die anderen Frauen haben es ihr zögernd nachgetan, Kamila zuletzt. Die resolute Frau geht auf Justyna zu und beginnt sie zu untersuchen. Kamila schließt die Augen und öffnet sie erst wieder, als sie spürt, dass jemand auf sie zutritt. Es ist ein Mann. Ein Mann!

Kamila spürt, dass sich alles in ihr verkrampft. Sie will davonlaufen und bleibt doch wie angewurzelt stehen. Sie tut dem Kerl nicht den Gefallen und senkt die Augen. Kamila blickt ihn an und sieht sein kaum unterdrücktes Begehren. Dahinter sieht sie noch etwas, das ihr gefällt: Angst. Der Herr Kurz, wie ihn die Aufseherin nennt, trägt über der linken Hand einen Sack aus Kautschuk. Das Gummi schlottert um seine Finger wie eine ekelerregende zweite Haut. Als er sie berührt, will Kamila schreien. Sie will ihm seine akribisch forschenden Pupillen auskratzen und ihm jeden einzelnen der über ihre Haut tastenden Finger brechen. Stattdessen geht ein Zittern durch ihren Körper, als sei er ein Baum, durch den ein heftiger Windstoß fährt. Sie macht sich vollkommen tot. Als er ihre Scham berührt, ist sie schon weit fort in Polen und schwitzt in der Sonne, die auf die prallen Ähren scheint. Sie lächelt ihrer Freundin zu. Nichts wird es fertigbringen, sie zu zerstören.

Plötzlich spürt sie eine Hand, die nach ihr greift. Sie will die Finger packen und sich darin verbeißen, doch auf einmal hört sie ein Flüstern: »Kamila, wach auf!«

Sie öffnet verwirrt die Augen und sieht vor sich das besorgte Gesicht von Justyna. Die ältere Freundin streicht ihr über das nassgeschwitzte Haar. »Hast du wieder geträumt, Vögelchen. Immer diese furchtbaren Träume …«

Kamila drückt Justynas Hand, als wolle sie sie brechen. Jetzt endlich, da sie außer der Freundin niemand sieht, kommen die Tränen.

Horst lag auf dem kühlen, nach Lavendel riechenden Laken und blickte zur Decke. Er konnte nicht einschlafen. Warum eigentlich nicht? Er hatte gut zu Abend gegessen – Königsberger Klopse, eines seiner Lieblingsgerichte. Vielleicht lagen sie ihm zu schwer im Magen? Er hätte doch, wie der Diener ihm anbot, den Digestiv trinken sollen. Der milde Likör hätte seiner Verdauung den nötigen Schwung verliehen. Nun kam er sicher stundenlang um seinen Nachtschlaf, den er so dringend brauchte. Morgen war wieder ein anstrengender Tag, und er konnte sich keine Anzeichen von Schwäche leisten. Dieser Kurz hatte ihn heute so merkwürdig angesehen. Als ob er genau wüsste, dass sich das Rädchen immer noch nicht richtig bewegte. Natürlich war das Sabotage gewesen, dachte Horst; es war nur die Frage, ob willkürlich oder unwillkürlich. Aber sollte er jede zweite Ostarbeiterin in seiner Firma vor ein Hinrichtungskommando stellen? Mit diesen Fanatikern in den eigenen Reihen musste man aufpassen. Kurz war ein Typ, der seine Mutter vor die Wand stellen konnte, wenn er glaubte, sie sei eine Sozialistin. Manche Menschen gingen völlig grundlos über Leichen. Dabei war der Mann ein hervorragender Feinmechaniker, sein bester Mitarbeiter. Horst war im Grunde von ihm abhängig, und dieses Schlitzohr wusste das nur zu genau!

Er seufzte und drehte sich auf die andere Seite. Unabsichtlich berührte er dabei Hilde, seine Gattin. Für einen Moment spürte er, dass sie erstarrte. Sie schläft nicht, dachte er erstaunt. Soll ich Konversation machen? Lieber nicht. Sie könnte vielleicht denken … sie würde denken, dass …

Horst merkte, dass sich etwas in ihm regte. Einen Moment lang fühlte er einen leichten Schwindel. Ihn überkam die Anwandlung, sich auf seine Frau zu stürzen und sie zu nehmen wie eine Hündin. Er atmete heftig und drehte sich schwerfällig wieder zurück. Ich könnte es tun, dachte er und zwang seine unruhigen Finger zur Räson; aber es würde nichts nützen. Sie würde wie eine Puppe sein, ein Stück lebloses und willenloses Fleisch.

Seit der Geburt ihres Sohnes hatte sich Hilde immer mehr von ihm zurückgezogen. Sie erfand zahlreiche Unpässlichkeiten wie Migräne, Rückenschmerzen und Anfälle von Schwäche. Einmal, als er sie ein wenig härter nahm, hatte sie geschrien, als wollte er sie abstechen. Horst war jegliche Lust sofort vergangen. Er war kein Mann, der eine Frau leiden sehen wollte. Er sehnte sich nach einer Partnerin, einer Gefährtin und Gespielin seiner Lust. All dies war seine Hilde nicht. Ihr gemeinsames Bett war nur noch eine Farce.

Horst verlegte sich auf gelegentliche Bordellbesuche und wählte seine Sekretärinnen nach Kriterien aus, in denen die deutsche Rechtschreibung die geringste Rolle spielte. Er war nicht einmal so übel damit gefahren; Hilde war ihm in allen sonstigen Lebenslagen eine wunderbare Gattin und aufmerksame Freundin.

Plötzlich musste Horst an die junge Polin denken.

Kamila, das war ihr Name … Auf einmal fühlte er solche Hitze, dass ihm fast schlecht wurde.

DIENSTAG

8. Erwachen

14. September 2010

Er wachte auf von einem Klopfen. Unmittelbar darauf spürte er einen bohrenden Schmerz. Einen Augenblick hatte er das Gefühl, sein Körper sei in tausend Einzelteile zersplittert; dann lokalisierte er das Klopfen wie auch den Schmerz im Inneren seines Kopfes. Er stöhnte auf, rieb sich über die verklebten Augen, blinzelte und öffnete sie zu Schlitzen. Wie es schien, befand er sich in einem Keller. Von irgendwoher bahnte sich ein Lichtstrahl seinen Weg und befreite Myriaden Staubkörner aus der Welt der Schatten. Etwas kitzelte ihn in der Nase, und er musste niesen.

Der Schmerz explodierte wie eine Bombe. Sekundenlang war er vollkommen blind; dann erblickte er vereinzelte Sterne, die über den Horizont torkelten und einer nach dem anderen verpufften. Sigi wischte sich den Schweiß von der Stirn, richtete sich auf und stellte fest, dass er auf einer Art Pritsche lag. Er biss die Zähne zusammen, riss sich mit einem Ruck hoch und sackte wieder an die feuchte Wand. Wo war er und was hatte er in Gottes Namen in diesem Kabuff verloren? Sein Blick irrte durch den halbdunklen Raum. Von den Wänden tropften feuchte Rinnsale, die ineinander liefen zu seltsamen Formen und Figuren. Davor lagerten alte Lumpen, vergessene Farbkübel, rostiges Eisen und die Puzzleteile eines zerbrochenen Spiegels. Auf einer Scherbe erblickte er den blutroten Abdruck eines schönen Mundes, der ihm zulächelte wie die Anmutung an ein lang vergessenes fernes Glück. In der Mitte des Raums standen zwei klapperige Stühle und ein alter Tisch.

Er blickte auf die gegenüberliegende Wand. Dort befand sich eine weitere Pritsche. Und dort lag lang ausgestreckt und leise schnarchend er selbst. So, als habe sich sein Spiegelbild nach einem langen und aufzehrenden Streit selbstständig gemacht und endgültig von seinem Verursacher getrennt.

Einen Moment lang setzte sein Herz aus. Ängstlich senkte er die Augen und starrte auf eine goldberingte fremde Hand, eine Designerhose und ehemals schwarz glänzende Schuhe: Lebende und tote Materie, die allesamt dem Überbegriff Karl-Heinz zuzuordnen war; nur, dass in dem zugehörigen Kopf er selber steckte. Seine Gliedmaßen durchlief ein Zittern. Er atmete hastig und kniff die Augen zusammen. Dann stand er mit wackeligen Knien auf, wankte auf den schlafenden Sigi zu und rüttelte ihn wach. Er wartete, bis der sich um-drehte, und fragte so trocken wie möglich: »Wer bist du?«

Sigi Nummer zwei rieb sich die Augen, knurrte unwillig und drehte sich wieder zurück. Plötzlich war es mit seiner Selbstbeherrschung geschehen. Er riss den Kopf seines Alter Ego in die Höhe und schrie: »Wer bist du, verdammt noch mal?«

Sein Spiegelbild betrachtete ihn wütend. Es machte Anstalten, zurückzuschreien, doch plötzlich erstarb ihm das Wort auf der Zunge. Der zweite Sigi rieb sich über die Augen, riss sie dann weit auf und begann zu stöhnen. Sein Oberkörper sackte in sich zusammen und stürzte, wie Minuten zuvor Nummer eins, zurück an die Wand. Mit glasigen Augen musterte er seine Glieder. »Ich bin eigentlich Karl-Heinz … und du, lass mich raten … Sigi?«

Der Maler setzte sich neben seine treulose Hülle und krächzte: »Kannst … kannst du mir erklären, was passiert ist?«

Karl-Heinz stierte auf seinen Ex-Körper und strich sich über die nicht vorhandenen Locken. Statt ihrer wanderte seine Hand über eine beginnende Glatze. Er blickte an sich hinunter, schüttelte den Kopf und versuchte, einen Gedanken zu fassen, der irgendwie weiterhalf.

»Ich glaube, wir waren sternhagelbesoffen; wir hatten …«, langsam kamen seine grauen Zellen – waren es tatsächlich seine? – wieder in Fahrt. »Wir haben ein wenig lamentiert und im Spaß überlegt, wie es wäre, unsere Leben zu tauschen. Dann saß so ein dünner Schwarzer bei uns am Tisch. Du Vollidiot hast ihn zu einem Glas Wein eingeladen, er hat ein paar Kunststücke vorgeführt, und auf einmal saßen wir mit dieser Frau im Keller.«

Er schreckte aus seinen Gedanken hoch. »Vielleicht ist sie ja noch hier und kann …«

Sigi winkte ab. »Die ist längst über alle Berge.«

Sein waidwunder Blick – den Karl-Heinz’ Augen nur mangelhaft umsetzten – blieb an seinem Freund hängen. »Gib mir meinen Körper wieder, bitte. Ich kann doch nicht …«

Er schloss die Augen, und langsam überfiel ihn die volle Konsequenz seines Debakels. Wie Nadelstiche spürte er die Fremdartigkeit dieser Augäpfel und schuppigen langen Haare. Seine Muskeln waren verkrampft, seine Haut trocken und um seinen Brustkorb lag ein Ring, der ihm das Atmen schwer machte. Er wollte auf und davon laufen, doch alles, was ihn ausmachte, steckte in diesem idiotischen Körper, der sich so unsinnlich bewegte wie eine Puppe aus Styropor. Er spürte einen Knoten im Hintern und starrte Karl-Heinz wütend an: »Du … du hast Hämorrhoiden!«

Der grinste verlegen und zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, ich konnte ja nicht ahnen, dass du eines Tages in meine Haut fahren würdest.«

Plötzlich überfiel Sigi das Unglück wie ein Sturm: Wie sollte er in diesem Aufzug, mit diesem Gesicht und verspannten Körper zurück zu Joana, zu seiner Staffelei, seinen Bildern und Schulden? Seine brennenden Augen füllten sich mit Tränen … Das ist interessant, dachte ein weit entfernter Teil von ihm. Kann man Traurigkeit malen?

Karl-Heinz legte den Arm um seine Schultern, fischte aus seiner ehemaligen – nun Sigis – Hose ein frisches Taschentuch und drückte es ihm in die Hand. »Tja, mein Alter«, sagte er und ließ den Blick von Sigis Augen über den Raum schweifen. »Da haben wir uns ganz schön in die Scheiße geritten …«

Er horchte in seinen neuen Leib hinein und stellte überrascht fest, dass er ihm gefiel. Auf einmal begann er zu verstehen: Dieser Körper war in sich zu Hause. Sein Atem glitt wunderbar leicht durch die Lungen, und sein Blick war … frei, das war das richtige Wort. Vielleicht nicht unbedingt wie ein Adler, aber doch so ungebunden wie ein Spatz, der angeregt durch die Luft flattert und fröhlich pfeifend sein Nest putzt.

»Machen wir das Beste daraus«, erklärte er tapfer und kratzte sich an einem Mückenstich, der an einem anderen Körper juckte. »Hatte diese … Maria Mulambo nicht etwas gesagt von einer Woche?«

»Eine Woche?« Sigi starrte ihn wütend an. »Eine Woche lang mit meinem Körper Joana vögeln, so hast du dir das wohl gedacht?«

Karl-Heinz musterte ihn kühl. »Mach halblang, mein Lieber. Glaubst du, ich habe mir diese Geschichte ausgesucht? … Wenn du willst, können wir gemeinsam bei Joana auftauchen und ihr das Malheur erklären. Und du darfst sieben Tage mit meinem Körper so tun, als wäre alles beim Alten. Ich überlasse ihn dir gern. Allerdings müsste sie dann mit ein paar Unterschieden leben … und du musst meiner Sekretärin und meinen Kunden erklären, warum ich mit deinem Körper in meinem Büro erscheine.«

»Das darf alles nicht wahr sein!«, stöhnte Sigi und stellte angewidert fest, dass die Hämorrhoiden juckten.

9. Entscheidung

Eine halbe Stunde später saßen sie in einer Kneipe und hielten Kriegsrat – vorsichtshalber nicht in ihrem Stammlokal, denn noch fühlte sich Karl-Heinz dem hormonellen Ansturm einer verliebten Bedienung nicht gewachsen. Sigi schlürfte an seinem dritten Milchkaffee und hoffte darauf, dass sich der Restnebel in seinem Gehirn noch lichtete.

»Hat sie wirklich gesagt eine Woche?« In seiner Stimme schwang ein Funken Hoffnung.

»Absolut wirklich. Wobei natürlich die Frage ist, ob sie ihr Versprechen hält?

»Du meinst … ich muss vielleicht mein ganzes Leben in diesem Körper …?«

Karl-Heinz grinste säuerlich. »So schlecht ist er nun auch wieder nicht.« Er drückte seinen Rücken durch und richtete die Augen in die Ferne. »Betrachten wir die Sache doch einmal nüchtern: wir haben keine Ahnung, wer diese Frau ist, warum sie das mit uns angestellt hat und ob sie ihren Spaß wieder zurücknimmt. Auf jeden Fall können wir nichts tun. Oder willst du zum Neurologen gehen und sagen: Tut mir leid, ich sitze im falschen Körper, holen Sie mich bitte wieder raus!«

»So weit war ich auch schon. Und weiter?«

Karl-Heinz nippte an seinem Kaffee und trommelte mit zwei Fingern auf den Tisch. Er wusste nicht warum, aber er fühlte sich plötzlich wie neu geboren. »Ich mache dir einen Vorschlag: Wir können an der Situation zunächst nichts ändern – also machen wir das Beste daraus!«

»Und das wäre?« Sigis fühlte in sich hinein und stellte außer seiner trockenen Haut und den verkrampften Gliedern noch etwas anderes fest: Eine fast manische Energie; eine Kraft, die das, was sie sich vorgenommen hatte, auch durchsetzen wollte – um nahezu jeden Preis.

»War was?« Karl-Heinz checkte im Geist schon die Agenda der nächsten Tage. »Also: ich weise dich in meinen Job ein, und du kannst alles, was du in dieser Woche verdienst, behalten. Du erhältst Zugang zu meinen Konten – ich hoffe, du enttäuschst mein Vertrauen nicht – und kannst mit meiner Sekretärin und von mir aus auch mit Sabine machen, was du willst …«

»Wie großzügig. Und weiter?« Sigi wollte sich an der Schläfe kratzen und stieß stattdessen auf eine schuppige Locke. Er zog den Finger zurück und schwor sich, so bald wie möglich zum Frisör zu gehen.

»Dafür bekomme ich eine Woche lang deine Bilder, deine Schulden und … na ja, Joana ist in dem Paket wohl mit eingeschlossen … Mach nicht so ein miesepetriges Gesicht, das sieht ja fast so aus wie ich … Hast du vielleicht eine bessere Idee?«

Karl-Heinz griff nach seinem Ring und erschrak, weil er ihn nicht fand. Sigi sein, dachte er fast schon beschwingt und fühlte, wie das neue Gefühl in seinen Körper strömte, sich darin ausbreitete und zu einem unsinnigen und fast abartigen Glück formte.

Sein Freund schlürfte nachdenklich einen Schluck Kaffee. Plötzlich musste er an Joana denken, fühlte Schwindel und anschließend einen heftigen Stich im Magen. Einen Moment lang glaubte er, er müsse sich erbrechen. Er kniff die Augen zusammen wie ein Kind, das glaubt, dadurch würde der kläffende Köter vor seiner Nase verschwinden. Unsinnige Verzweiflung brandete in ihm hoch und machte Anstalten, ihn zu überschwemmen. Der Teil von ihm, der noch einigermaßen funktionierte, registrierte, wie sich sein Herz zusammenzog und gegen das aufsteigende Bild rebellierte: Er sah Karl-Heinz mit seinem Körper auf Joana liegen und lustvoll stöhnen.

Das ist wohl der Preis, dachte er trostlos, atmete tief aus und stellte die Tasse zitternd auf den Tisch.

Sieh es doch einmal anders herum, wies er sich zurecht. Wenn alles gut geht, braucht Joana von unserem Tausch gar nichts zu merken. Sie würde diese idiotische Geschichte sowieso nicht glauben. Außerdem würde sie sich nie mit dem vertrockneten Körper, in dem ich stecke, einlassen, da bin ich mir sicher …

Er schluckte den Kloß in seinem Hals herunter und sagte heiser: »Hosen runter! Hast du sonst noch irgendwelche Gebrechen?«

Karl-Heinz lächelte entspannt. »Die Hosen kannst du gleich selbst runterlassen – mein Körper ist der deine!«

Die beiden starrten sich einen Moment lang böse an. Dann überfiel es sie gemeinsam, und sie schüttelten sich vor Lachen.

Die nächsten Stunden verbrachten sie damit, diskrete Details ihres jeweiligen Lebens auszubreiten, die ohne diesen Notfall nie über ihre Lippen gekommen wären. Sie erklärten sich ihre Essgewohnheiten, die Schlafzimmereinrichtung, anfallende Rechnungen und Schulden, die Benutzung ihres Badezimmers und die letzten Arztbesuche. Sigi weihte Karl-Heinz in die Geheimnisse seiner Kunst ein, erläuterte ihm Techniken und Farbaufträge, erklärte, wo er sein Material einkaufte und wer seine neuesten Kunden waren. Karl-Heinz verriet im Gegenzug geheime Tricks, die er normalerweise nicht einmal seiner Großmutter erzählt hätte.

Am schwierigsten wurde es mit Joana. Sigi blieb nichts übrig, als aus dem Schulbuch zu plaudern. Mit zusammengebissenen Zähnen erzählte er von ihrem Tagesablauf und Bettgewohnheiten, von Joanas erdhaftem Charakter, von ihren gelegentlichen Streits und den wenigen grundsätzlichen Krisen.

Der Maler löste seinen Blick von den flirrenden Blättern einer Linde und rieb sich die Augen. Einen Moment lang ekelte er sich vor sich selber, würgte das Gefühl herunter und zwang sich zu einem Lächeln.

10. Kamila

September 1941

Der Doktor wählte die Stunde kurz vor dem Mittagessen. Er schlenderte wie von ungefähr an den Werkbänken vorbei und sah den Frauen bei der Arbeit zu. Endlich entdeckte er Kurz, der gerade aus seinem Büro trat. Ihre Blicke kreuzten sich, und Horst winkte seinen Meister zu sich her.

»Gut, dass ich Sie treffe«, erklärte er aufgeräumt. »Verdammte Hitze heute, nicht wahr?«

Kurz wischte sich den Schweiß von der Stirn und grinste. »Fast wie bei den Kanaken, könnte man meinen. Was kann ich für Sie tun, Doktor?«

Sein Chef wirkte für einen winzigen Augenblick verlegen. Fast im selben Atemzug gewann er seine Festigkeit zurück und hob einen Mundwinkel nach oben. »Da ist eben ein Problemchen aufgetaucht mit einem polnischen Schriftstück. Meine Sekretärin ist vollkommen überfordert. Ich brauche eine von den Ostarbeiterinnen, damit sie ihr beim Übersetzen hilft.« Seine hellblauen Augen richteten sich ausdruckslos auf Kurz.

Der Meister musterte ihn verblüfft. »Können Sie nicht eine offizielle Übersetzerin ordern? Ich meine, diese Frauen sind doch kaum in der Lage, ihren eigenen Namen zu schreiben, geschweige denn …«

Er bemerkte das Stirnrunzeln seines Vorgesetzten und versicherte eilig: »Aber natürlich, wenn Sie es wünschen. Eigentlich brauche ich ja jede dieser Frauen dringend, aber …«

Die Stirn des Doktors zog sich noch mehr in Falten, und er verstummte. Sein Chef legte jovial den Arm um seine Schulter und lotste ihn an den Bänken vorüber.

»Na, dann wollen wir mal sehen, ob wir eine Unterstützung für meine arme Ruth finden. Eine von denen werden Sie doch wohl entbehren können, oder nicht?«

Kurz hatte genug Erfahrung mit dem Doktor, um zu wissen, dass die Frage rhetorischer Natur war. Er wies auf eine Frau um die Vierzig. »Wie wäre es mit der? Die spricht meines Erachtens ein ganz annehmbares Deutsch.«

Horsts Blick huschte über die Frauen und Mädchen. Ihre im Einheitsgrau gewandeten Rücken beugten sich über die Bänke, und sie bemühten sich, möglichst unsichtbar zu wirken. Wenn der Inhaber der Firma mit seinem Meister durch ihre Reihen schritt, bedeutete das sicher irgendeine Teufelei – auf jeden Fall nichts Gutes. Wie von ungefähr blieb der Doktor vor einer Frau und einem jungen Mädchen stehen. Es handelte sich um die jüngste der Ostarbeiterinnen; eben die, die gestern von Kurz der Spionage verdächtigt worden war.

»Wie wäre es denn mit der da? Die sieht mir doch ganz aufgeweckt aus.« Der Doktor bemühte sich um einen neutralen Tonfall. Wie er fand, gelang ihm dieser ausgezeichnet.

»Diese renitente Person?« Kurz fasste sich entsetzt an die Schläfe. »Mit der werden Sie keine Freude haben. Der ist der Widerspruch doch schon in die Stirn gebrannt.«

Horst blieb einen Moment lang sinnend stehen, als müsste er angestrengt überlegen. Der Duft des Mädchens, das umgehend zu transpirieren begann, stieg ihm in die Nase. Scharf und etwas süßlich zugleich, sehr erregend; so wie er sich einen Ritt vorstellte in der endlos weiten Steppe der Tundra …

Das Mädchen hatte sich tief über sein Werkstück gebeugt. Es atmete heftig. Geht weiter, dachte es verzweifelt. Macht euch verdammt noch mal aus dem Staub!

»Ich nehme sie«, erklärte der Doktor bestimmt. »Sie kann gleich mitkommen.«

Die Augen des Meisters verengten sich zu Schlitzen. Für Sekunden stand darin die nackte Wut.

Horst ergriff die Hand des Mädchens und zog es sanft nach oben. Sein Blick fiel auf Kurz, und er fragte leichthin: »Irgendein Problem?«

»Natürlich nicht, Herr Doktor!« Der Adamsapfel des Meisters hüpfte nervös auf und nieder, und Horst sah vergnügt, wie sich seine Hand zur Faust presste.

»Na, dann ist es ja gut«, erklärte er kühl und führte die junge Arbeiterin durch die Halle. Er wandte sich zu ihr hin und fragte: »Wie war doch gleich dein Name?«

»Kamila«, flüsterte sie und schritt steifbeinig neben ihm her. Niemand traute sich, ihr nachzuschauen. Sie fühlte sich, als schritte sie vor aller Augen zu ihrem eigenen Grab.

Die große, aufwändig gearbeitete Bürotür fiel ins Schloss, als wäre es für immer. Ein flauschiger Teppich verschluckte jedes Geräusch ihrer Schritte. Kamila hechelte wie ein Tier in der Falle. Der Patron gab ihre Hand frei und wies auf einen Stuhl neben der Türe.

»Du kannst dich hier hinsetzen«, erklärte er freundlich.

Kamila ließ sich zitternd nieder und hielt ihren Oberkörper kerzengerade. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass der Mann durch den Raum schritt und sich hinter einem gewaltigen Schreibtisch niederließ. Er beachtete sie nicht. Kamila starrte auf den Teppich und versuchte, ihren flatternden Atem zu beruhigen. Plötzlich hörte sie, wie eine Frau durch eine weitere Tür in den Raum trat. Sie warf einen verwunderten Blick zu ihr hin und schritt auf den Schreibtisch zu.

»Das Essen ist gerichtet, Herr Doktor.«

Der Patron blickte von einer Akte auf. »Was gibt es denn Schönes?«

»Hirschgulasch mit Semmelknödeln«, erwiderte die Frau, offensichtlich seine Sekretärin.

»Mit Preiselbeeren hoffe ich!«

»Natürlich, Doktorchen.« Sie schlug sich verlegen auf den Mund. Erneut warf sie einen raschen Blick auf Kamila.

Der Mann grinste spitzbübisch. »Ist schon in Ordnung, Ruth. Lass das Essen hierher bringen, ich will dabei ein wenig die Akten durchsehen. Und vergiss nicht eine Portion für das Mädel. Sie kann dort auf dem Stuhl essen.« Er wies mit einer Hand auf die Stelle, wo Kamila saß.

Fünf Minuten später kam ein Diener mit einem Wagen. Er deckte den Schreibtisch und füllte aus einer weiß glänzenden Terrine Gulasch auf den Teller. Kamila stieg der Geruch nach Wildfleisch und satter Soße in die Nase. Wie auf Kommando begann ihr Magen zu knurren. Zu ihrer maßlosen Verblüffung sah sie, dass der Kellner, nachdem er den Mann bedient hatte, tatsächlich auf sie zu schritt. Er stellte ein Tischchen vor sie hin und füllte in einen Blechteller Gulasch mit Soße. Dazu legte er einen fetten Knödel und häufte zum Schluss einen Teelöffel Marmelade dazu.

Sie schloss die Augen und spürte, dass ihr vor Hunger schlecht wurde. Kamila versuchte, an ihr Dorf zu denken und an ihre toten Eltern. Sie dachte an ihre Brüder, die vielleicht längst unter der Erde lagen und an den Weiher, in den sie oft nach der Arbeit gehüpft waren. Dann dachte sie an ihre Freundin Justyna und die anderen Frauen, die jetzt eine dünne Linsensuppe mit einem Stück Brot erhielten und solange daran kauten, dass es in ihrem Mund zu Brei wurde. Zum Schluss dachte sie an den Meister; wie sie ihm mit einer Gabel die Augen ausstach und ihn danach mit einem Feldstechergehäuse erschlug.

Als der Kellner endlich das Geschirr abräumte, hatte sie nicht einen Bissen angerührt.

Zum Feierabend entließ sie der Doktor freundlich, und sie wankte halb blind vor Hunger und Schwäche aus dem Raum.

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