Loe raamatut: «Drei Lebende, drei Tote»

Font:


Es ist der 10. März 1946, die italienischen Frauen gehen zum ersten Mal wählen, als sich am Bahnhof von Florenz zwei junge Menschen begegnen. »Ich war bei den Partisanen«, sagt er zu ihr, »und ich habe niemanden mehr.«

Ende der fünfziger Jahre sind Aurora und Modesto ein kinderloses Lehrerehepaar; dem ermatteten Alltag entfliehen beide mit einer Liebschaft. Eines Tages erhält Modesto einen anonymen Brief, der einen »alten Fehler« heraufbeschwört, und ist sichtlich aus der Fassung gebracht. Erst verbarrikadiert er sich im Klassenzimmer, als man ihn nach Hause schickt, kauft er sich ein Paar Lederstiefel und tritt eine Reise in die Vergangenheit an, bei der ein Geräteschuppen in den Abruzzen, ein dressiertes Äffchen, ein Onkel im schwarzen Hemd, ein müder Gaul im Schnee, eine schallende Ohrfeige und ein anderes Paar Stiefel, das in einer Hütte auf offener Steppe den Besitzer wechselt, eine Rolle spielen.

Ruska Jorjoliani, italienische Autorin mit georgischen Wurzeln, legt in ihrem so vielschichtigen wie ironischscharfsinnigen Familienroman Spuren in die bewegte Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, Spuren, die sich kreuzen, umkreisen, manchmal auch verfehlen, aber nach und nach den Boden der Gegenwart untergraben.

Ruska Jorjoliani

Drei Lebende, drei Tote

Roman

Aus dem Italienischen von Barbara Sauser


Das Erscheinen dieses Buchs wurde von der Fondation Jan Michalski gefördert, die Übersetzung von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.


Die Übersetzerin und der Verlag bedanken sich dafür.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Die Originalausgabe ist 2020 unter dem Titel Tre vivi, tre morti bei Voland Edizioni, Rom, erschienen.

© 2020 Voland srl

© 2021 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

www.editionblau.ch

Lektorat: Daniela Koch

Umschlagbild: Sergei Mikhailovich Prokudin-Gorski, 1905. Photograph collection, Library of Congress, Prints and Photographs Division.

Umschlag: Patrizia Grab

eISBN 978-3-85869-932-9

1. Auflage 2021

Für Enzo, meinen zweiten Vater

»Alles geschieht, und nichts wird aufbewahrt«

JORGE LUIS BORGES

Die Spiegel

Inhalt

ERSTER TEIL

Späte fünfziger Jahre

Prolog

1.Der Neuntöter und der Mann

2.Die Physik der alltäglichen Dinge

3.Die Metaphysik der nichtalltäglichen Dinge

4.Vier Typen ziemlich unsympathischer Männer

5.Andere sonderbare Männer

6.Der Journalist

7.Die Schauspielerin

8.Die Münzen

9.Der Wachposten

ZWEITER TEIL

Vierziger Jahre (zwischendurch auch dreißiger Jahre)

1.Der junge Mann

2.Der Vater

3.Der Onkel

4.Der Kreis

INTERMEZZO

oder

Die drei, die den anonymen Brief hätten schreiben können

1.Don Sebastiano, Verfasser religiöser Erzählungen

2.Dalmazio Tarantini, Verfasser von Briefen

3.Guerino Santoni, Verfasser eines Gedichts und der hastig notierten Zusammenfassung eines Traums

DRITTER TEIL

Späte fünfziger Jahre

1.Da wäre auch noch Aurora Giusti, die seit Kurzem Tagebuch führt

2.Derweil Guerino beziehungsweise Modesto

3.Aurora schreibt weiter

4.Der Blitz

5.Die Statue des Dichters

6.In rötlichem Gewölk

7.Die letzten Seiten des Tagebuchs von Aurora

8.Die Sendung

Dank

ERSTER TEIL

Späte fünfziger Jahre

Prolog

Er sah den Mann von hinten. Wie er kerzengerade über dem rauschenden Bach in der Böschung stand, sich am Stamm einer Silberweide zu schaffen machte. Ihm war sofort klar, dass es sich um seinen Vater handeln musste, denn im Traum, wie in Momenten besonderer Anspannung oder Erwartung, ist ein Vater auch allein am Rücken zu erkennen.

Mit einem Messer ritzte er den Baum an und zog lange, dünne Rindenstreifen ab. Fraglos war gerade Herbst, die beste Jahreszeit für eine solche Arbeit, auch wenn der Zeitbegriff das Wegegeld ist, das man für den Eintritt in einen Traum bezahlt.

Dieser Mann war schon immer davon überzeugt gewesen, dass die Silberweidenrinde eine schmerzstillende Wirkung hat, und auch der Sohn glaubte daran, schließlich glaubt jeder einem Vater, der im ersten Morgengrauen aufsteht und über einem Abgrund eine steinige Böschung hochklettert, um ein Mittel gegen Schmerzen aufzutreiben.

Er hoffte, der Mann würde sich umdrehen, damit er sein Gesicht wiedersehen konnte, auch wenn von seinem Standort aus nicht viel erkennbar wäre. Nicht infrage kam, »Vater« oder gar »Papa« zu rufen. Stattdessen hatte er Lust, seinen klingenden Taufnamen herauszuschreien, sich damit wie mit einem Enterseil an seinem Rücken festzuhaken. Er konzentrierte sich also, tastete sich durch die trübe Erinnerung, doch inmitten von anderen hundert mit hundert Gesichtern verknüpften Namen wollte ihm jener seines Vaters partout nicht einfallen.

Während er noch angestrengt nachdachte, brach auf einmal ein Schwarm Vögel in die Szene ein und setzte unter ohrenbetäubendem Lärm zum Sturzflug an. In einer einzigen schwarzen Welle gewölbter Flügel – spitze Schnäbel, blau gesprenkeltes Gefieder – stifteten die Vögel Unruhe, blieben in einem plötzlich aufgetauchten Netz hängen, verdunkelten den Blick auf Böschung und Vater und schreckten den Sohn aus seinem Traum auf.

1.
Der Neuntöter und der Mann

Er schlug die Augen auf. Seine Frau schlief neben ihm auf dem Rücken und schnarchte leise. Ein paar Minuten lag er reglos da und starrte die Decke an, die Arme über dem Laken auf dem Bauch ausgestreckt. Durch das Fenster drang die Morgendämmerung herein, ein Fahrrad quietschte, ein junger Mann sang vor sich hin. Er setzte sich auf und knetete die Füße, bevor er in die Pantoffeln schlüpfte.

Dann trank er ein Glas Wasser und sah sich ohne sonderliches Interesse die Post an. Den Geräuschen aus dem Schlafzimmer nach zu schließen, war inzwischen auch seine Frau aufgestanden.

Als er ihn in den Händen hielt, dachte er zuerst an einen Scherz, aber genau besehen machte ihm dieser gelbe Umschlag doch einen ziemlich ernsten Eindruck: die Briefmarke mit dem Papst, die zierliche, maßvolle Handschrift … Irgendetwas daran wirkte nicht minder real als der Postbote, der ihn hergebracht hatte, oder der Briefkasten, durch dessen Schlitz er ihn eingeworfen hatte. So setzte er sich hin.

Er las ihn mit angehaltenem Atem. Der Brief war anonym, maschinengeschrieben, die »s« dunkler als die anderen Buchstaben, wie kleine Drahtfedern auf dem Sprung, in fast jeder Zeile, und als eine Art Schlusspunkt gab es da diese Beleidigung, die ihm eine Weile durch den Kopf wirbelte, sich dann nach und nach setzte.

Er stand auf, strich sich über den Haaransatz, der im Laufe der Jahre allmählich Richtung Nacken gewandert war, und trat ans Fenster. Las, an den Fensterpfosten gelehnt, den Brief ein zweites Mal, in einem anderen Licht, was am Sinn dieser Worte jedoch nichts zu ändern vermochte:

Werter Herr Lehrer,

glauben Sie ihnen nicht, jenen Dichtern, die behaupten, die Wahrheit sei so nichtig wie die Lüge. Nicht immer kommt man in der Blüte des Lebens mit einem maroden Ruder weiter, denn sobald es ans Verlesen der Namen geht, wird alles samt und sonders an die Oberfläche steigen, die Schreckgesichter ebenso wie die alten Fehler. Und einen Namen haben sie, diese Toten, mag er auch vergessen sein, wohingegen sich über Sie große Stille herabsenken wird. Was jenes Ruder betrifft, mit dessen Hilfe Sie ans andere Ufer übergesetzt haben, so vermodert es nun im Seichten, wie alles, was aus dem Wasser gekommen ist und von diesem wieder zersetzt wird. Deshalb sage ich Ihnen: Eher noch als ein Mörder sind Sie ein ausgemachter Dummkopf.

Er schob die Vorhänge ein wenig zur Seite, sah nach draußen. Im großen Innenhof verfolgten sich zwei schnappende Hunde; neben der Rabatte lag ein umgekipptes Dreirad; ein Herr mit Borsalino und braunem Mantel erfragte eine Auskunft bei einer Frau im Kittel, die am anderen Hofende Wäsche aufhängte.

Der Mann wandte sich ab, ging zum Vitrinenschrank, zog ein Buch mit verblasstem, zerfasertem Rücken hervor und legte es auf den Schreibtisch. Beugte sich im Stehen darüber und blätterte. Es war Der kleine Lavater. Bald fand er die gesuchte Seite und las, mit dem Finger den Zeilen folgend:

Eigenschaften des Dummkopfs. Hinterhaupt sehr rund; kurzer Hals; breite, runde, fleischige Stirn; Auge matt, träge, ausdruckslos; großer, grober Kiefer; kurze, feste Beine, dicke Hüften, Gelenke von kleinem Umfang; Gliedmaßen schlecht gebaut; volles, großes Gesicht; Bewegungen plump.

Er blickte zuerst auf seine Beine hinunter, die tatsächlich etwas stämmig waren, betastete dann, während er das Buch mit zwei Fingern der einen Hand aufgeschlagen hielt, mit der anderen seinen Kiefer. Aus der Küche hörte er Geschirrklappern.

»Hey, Aurora, hör mal …«

»Ja?«

»Sag, findest du meinen Blick träge und ausdruckslos?«

»Wie soll dein Blick sein?«, klang es schrill zurück.

»Ist mein Gesicht voll und groß?«

»Ich verstehe dich nicht. Red lauter!«

»Schon gut, vergiss es«, sagte er und legte das Buch wieder auf den Schreibtisch.

»Der Kaffee ist fertig. Kommst du?«

»Nein.«

Er ging ins Wohnzimmer, sank auf das Sofa und verschränkte die Hände hinter dem Nacken. Zunächst betrachtete er die grauen Feuchtigkeitsflecken an der Decke, dann sah er zum Fenster: Zwei Spatzen hüpften über den Ast des Zürgelbaums.

»Was hast du?«, schreckte ihn die Stimme seiner Gemahlin auf, die in der Tür stand. »Kommst du endlich zum Frühstück?«

»Okay, okay.«

Er stand auf und schlurfte in die Küche.

»Hast du einen Brief bekommen?«, fragte Aurora am Tisch. »Du hattest einen Umschlag in der Hand.«

»Weißt du, was ein Neuntöter ist?«, gab er zur Antwort.

»Ein Neuntöter.«

»Ein Neuntöter.«

»Keine Ahnung«, Aurora lächelte über ihrer dampfenden Tasse, »was denn?«

»Ein Vogel«, sagte er. Er hielt den Löffel über der Zuckerdose und drehte ihn zwischen den Fingern, ohne sich entschließen zu können, wie gewohnt zweimal zu nehmen.

»Und was ist mit diesem Vogel?«

»Wenn er eine Beute erwischt«, er sah ihr direkt in die Augen, »verspeist er sie nicht sofort.«

»Aha«, sagte Aurora und goss sich die letzten in der Kanne verbliebenen Tropfen Kaffee nach.

»Er spießt sie an Dornen auf«, nun tauchte er den Löffel doch in die Zuckerdose und verstreute ringsum Zucker, »und frisst sie erst später auf.«

»Aha.«

»So macht er das«, sagte er und seufzte, gab endlich zwei Löffel in den Kaffee, rührte.

»Kommst du über Mittag nach Hause?«, erkundigte sich Aurora, drückte die Fingerkuppe des Zeigefingers in den verschütteten Zucker, führte ihn zum Mund und zerknabberte die Kristalle mit den Vorderzähnen.

»Weiß ich nicht«, antwortete er zwischen zwei Schlückchen.

»Wie, weißt du nicht?« Seine Frau hörte auf, Zucker aufzusammeln. »Lehrerkonferenz?«

»Nein.«

»Was dann?«

»Ich weiß es nicht und fertig! Darf ich endlich in Ruhe meinen Kaffee austrinken?«

Aurora sah auf seine leere Tasse hinunter.

2.
Die Physik der alltäglichen Dinge

Er

Das Gefühl, etwas stimme nicht, überkam Aurora, als ihr Mann, bevor er sich auf den Weg zur Schule machte, entschlossen das Handtuch auffing, das sie ihm von der Schwelle des Badezimmers aus zuwarf.

Und zwar weil Modesto in solchen Dingen, wie in so vielen anderen, eigentlich ein Weltmeister der Unentschlossenheit war. Wenn jemand auf die Idee kam, ihm irgendetwas zuzuwerfen – eine Streichholzschachtel, ein Glas Marmelade –, bekam man den Eindruck, er wollte es mit seinem Blick, der umgekehrt verwirrt diesem Ding entgegenstrebte, allen physikalischen Gesetzen zum Trotz in der Luft festnageln. Flog es aber trotzdem weiter auf ihn zu, vollführte Modesto andeutungsweise eine L-Bewegung, wie sie das Pferd im Schachspiel macht: einen Schritt zur Seite und dann zwei nach hinten oder vorne. Seine Lebensphilosophie lautete mit anderen Worten »ausweichen«. Damit teilte sich das ganze Universum in zwei Sorten Dinge: jene, die, um es so zu nennen, auf ihn zukamen und ihn oft überrumpelten, und die anderen. Letztere verweilten diskret, jederzeit zugänglich, an Ort und Stelle, etwa die Bücher oder der Sekretär aus lackiertem Holz, den eine sich als Landadlige gebärdende Tante seiner Frau hinterlassen hatte.

»Sieh an, sieh an!«, lächelte Aurora. »Signor Pacini fängt den Ball!«

»Was ist daran so besonders?«

»Ach, nichts«, sagte sie, trat ins Schlafzimmer und ging zum Schrank. »Fast nichts.«

Modesto hüpfte ihr nackt und barfuß bis zur Tür hinterher, wo er innehielt, da er sich nicht weiter vorwagte. Über den Innenspiegel des Schranks sah Aurora zu, wie ihr Mann bibbernd seinen nassen Körper abtrocknete: Die Pobacken funkelten im Wechsel, gaben für Augenblicke den Blick auf den Penis frei, der sich unter dem dunklen Haarfleck zusammengezogen hatte.

Als Modesto fertig war, trottete er ins Zimmer, warf das Handtuch aufs Bett und landete beinahe einen Volltreffer, ein Zipfel nur hing über den Rand hinaus und strebte Richtung Fußboden. Auch das war ungewöhnlich, wenn man bedachte, dass seine Versuche, einen Hut oder eine Schachtel Zigaretten auf den Tisch zu werfen, stets kläglich scheiterten – im besten Fall berührte der Gegenstand noch den Rand, um dort abzuprallen und auf dem Boden zu landen.

Aurora drehte sich mit einem Ruck zu ihm um.

»Was soll diese ganze Geschichte eigentlich?«

Der nackte Modesto blieb mitten im Zimmer stehen.

»Welche Geschichte?«

»Herrgottnochmal, welche denn!« Seine Frau packte mit einem Seufzer das Handtuch, das auf dem Bett lag, und warf es ihm ins Gesicht.

»Alles in Ordnung, Aurora?«, sagte er, ohne sich zu rühren. Er schaute zuerst auf sie, dann auf das Handtuch, das ihm vor die Füße gefallen war.

»Mir geht es bestens!«

»Da wäre ich mir nicht so sicher.«

Aurora zeigte auf das Handtuch. »Verstehst du nicht, dass es gleich da hätte landen sollen?«

»Wie meinst du das, Aurora?« Modesto blickte auf das Frottiertuch hinunter, das die noch feuchte Spitze seiner großen Zehe berührte. »Ich verstehe rein gar nichts.«

Da setzte sie sich auf den Bettrand und verbarg das Gesicht in den Händen.

Sie

Das Telefon aus schwarzem Bakelit klingelte dreimal, ehe sie den Hörer abnahm.

Ihre Neugier betraf weniger die Dinge selbst als vielmehr die Art, wie sie aufeinander einwirkten, sich verquickten. Sie hatte im Gegensatz zu ihren Freundinnen eigentlich nie an Heirat gedacht. Es war allein jener Tag im Jahr 1946 in Florenz gewesen, der mit seiner Entwicklung vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang mit dem ihn durchflutenden Licht entschieden hatte, wie die Dinge sich fügen würden.

Am Morgen hatte sie zusammen mit ihrem Papa die etruskische Chimäre gesehen. Danach waren sie zum Bahnhof gegangen, sie hatte sich jung und fröhlich an den Arm des Vaters gehängt, der seinerseits düster unter einem schief sitzenden Hut hervorblickte. Unvermittelt hatte sie gesagt:

»Wie kommt man wohl auf die Idee, ein solches Tier darzustellen?«

Der Papa starrte vor sich hin. »Was für ein Tier?«

»Die Chimäre.« Die Tochter drückte heftig seinen Arm. »Schon vergessen?«

»Ah, natürlich.«

»Löwe, Ziege und Schlange in einem einzigen Körper vereint. Ist doch merkwürdig.«

Auch sie starrte nun auf die Straße vor sich. Links funkelte die Fassade einer Kirche in der Märzsonne. Aurora hatte kurz zuvor das Lehrerinnenseminar abgeschlossen und fühlte sich nun an einem Wendepunkt in ihrem Leben, sie würde nur die Zeichen lesen müssen und schon wäre alles klar. Mitten auf dem Trottoir spielte eine Schar Kinder Verstecken. Vater und Tochter und sonstige Passanten mussten ihnen ausweichen.

Während die Kinder hinter ihnen weiter herumflitzten und schrien, rückte der Vater seinen Hut zurecht und sagte: »Das ist nur eine Metapher. Für einen Berg. Vielleicht einen Vulkan.«

Zuerst verstand sie nicht. Ach, natürlich, die Chimäre. Sie nickte. Eigentlich hätte sie etwas einzuwenden gehabt, aber jetzt redete ihr Vater, und sein irgendwie zweifelnder Ton – eine große Seltenheit, da es für ihn Ehrensache war, im Leben nur einen einzigen Zweifel zu haben (er betraf den Tod) –, dieser Ton war, das fühlte sie, ein deutliches Zeichen von Zuneigung. Außerdem waren sie schon vor dem Quadermauerwerk des großen Bahnhofs angekommen und hatten beide Hunger.

Unter der Abfahrtstafel aßen sie im Stehen ein Brötchen, das sie bei einem fliegenden Verkäufer gekauft hatten, und während sie beobachteten, wie Züge ankamen und abfuhren, fielen ihr die Griechinnen ein, die sie ein paar Wochen zuvor auf der Titelseite der Domenica del Corriere gesehen hatte: stolze, selbstsichere Frauen in bunten Hemden und Hosen, Maschinengewehr im Anschlag, im Begriff, einen Konvoi zu überfallen.

Der Bahnhofsvorsteher pfiff, sie gingen zu den Gleisen, aus dem Lautsprecher drang Unverständliches, der Papa tippte sich vor dem Einsteigen an den Hut, lächelte ihr zu und sagte: »Signorina.«

Als der Zug sich in Bewegung setzte, blieb sie in ihrem gestreiften Rock und Jäckchen reglos auf dem Bahnsteig stehen. Sie konnte ihn im Gedränge jenseits der Scheibe nicht mehr sehen. Seinen immer noch schiefen Hut aber schon und flüchtig vielleicht doch auch seinen ernsten Gesichtsausdruck, mit Anzeichen weiterer Zugeständnisse an den vorherigen Zweifel. Dessen, also ihm noch ins Gesicht geschaut zu haben, war sie sich später allerdings immer weniger sicher, während sie es sich, umgekehrt proportional, immer stärker wünschte, da sie ihn an diesem Tag zum letzten Mal gesehen hatte.

Schon als Kind hatte sie gehört, wie die Erwachsenen ihren Papa als Patrioten bezeichneten, der sich verdient gemacht habe in jenen unzähligen Nächten der Kugeln, Brücken und versteckten Pfade. Ein knappes Jahr nach Kriegsende stieg er in den Zug nach Rom, um dort Kameraden zu treffen. Er kehrte nie zurück, und über seinen Verbleib ließ sich nichts in Erfahrung bringen. Sie besaß von ihm nur ein Foto und ein deutsches Klappmesser (Marke Solingen) mit einem Holzgriff, aus dem man auch eine Ahle ziehen konnte. »Das habe ich einem Faschistenschwein abgenommen«, hatte er einmal erzählt. Sie bewahrte es all die Jahre stets auf dem Wandbord unter dem Spiegel auf.

Aber davon wusste sie an diesem Märztag noch nichts. Als sie ein paar Stunden zuvor durch den Museumspark spaziert waren und unter der großen Eibe einen Halt einlegten, hatte der Papa gesagt:

»Vergiss nicht, wählen zu gehen.«

»Und du?«

»Ich habe anderes zu tun.«

»Wird sich damit etwas ändern?«

»Die verkrustete Zeit wird aufgebrochen. Mal sehen, was dabei herauskommt.«

Ein bisschen so, als meißelte man ein zuvor unbekanntes, skurriles, dreiköpfiges Tier in Stein.

Als sie den Bahnhof verließ, beschloss sie, direkt hinzugehen, beschwingten Schritts in ihrem Jäckchen mit den kantigen Schulterpolstern, die die Luft sauber durchschnitten. Wie der Vater es gewünscht hatte und ohne groß zu überlegen, eilte sie zur Wahlurne, ganz ergriffen davon, dass den Frauen zum ersten Mal eine politische Rolle zugestanden wurde, dass er sie »Signorina« genannt hatte, und auch noch von der etruskischen Chimäre.

Als sie aus dem zum Wahllokal umfunktionierten Schulgebäude trat, erkannte sie plötzlich den jungen Mann, der aus demselben Zug ausgestiegen war, den ihr Vater genommen hatte. Er trug Jacke und Hose aus blauer Kammwolle, beides ziemlich abgewetzt, und erweckte mit seiner Art zu gehen den Eindruck, die Füße keine Sekunde länger als nötig auf der Erde belassen zu wollen. Als er mit seiner Hüpferei aufhörte und stehen blieb, musste sie an einen atemlosen Matrosen in einem schwankenden Mastkorb denken, der den Blick in die Ferne richtet und jeden Moment je nachdem »Land in Sicht!« oder »Gefahr in Verzug!« rufen kann.

Stattdessen sagte er: »Ich bin Ihnen vom Bahnhof her gefolgt«, blieb stehen und schaute über die von einer schief eingesteckten Haarnadel unterbrochene Rundung ihres Nackens hinweg in den Himmel. Schickte dann ein Lächeln nach. Anstelle einer Antwort drehte sich die junge Frau um, als wollte sie sagen: Wenn es dort was Interessantes zu sehen gibt, will ich es auch sehen. Es gab nichts, außer der Sonne, den Frauen und Männern, die Schlange standen, um ihre Stimme abzugeben, und der Musik einer Blaskapelle irgendwo in der Nähe.

Sie sah wieder ihn an und fragte: »Und?«

Und er: »Ich komme aus einem Dorf in der Nähe von Rom und war bei den Partisanen.«

Sie: »Genau wie mein Papa.«

Er, fast geflüstert: »Ich habe niemanden mehr.«

Sie, die Augen niedergeschlagen: »Hast du Hunger?«

In flottem Tempo steuerten sie auf die Piazza zu, wo nachmittägliches Feiertagsgewimmel herrschte. Sie betraten das Caffè Bottegone und entschieden sich für Sandwichs. Während sie noch kaute, bestellte er zwei Negroni.

Euphorisch und ohne bestimmtes Ziel spazierten sie danach den Fluss entlang, warfen sich schon weniger verstohlene Blicke zu. Ein paarmal liefen sie sogar ein Stück um die Wette, berührten sich wie zufällig an den Händen. Dann erkundigte sich der junge Mann danach, wo sie wohne. Sie blieb stehen und wies die Richtung, aber als er den Kopf drehte, schien er kein wahres Interesse daran zu haben, das Viertel irgendwo im Meer ziegelroter Dächer auf der anderen Flussseite tatsächlich zu identifizieren, stattdessen widmete er sich der Betrachtung des Haars und des Kapillarensystems am Ohr des Mädchens. Als sie es bemerkte, hielt sie mit erhobenem Arm inne, ohne zu wissen, wie sie diesen Blick, diesen Moment nennen sollte, ohne sich vorstellen zu können, was käme, sobald sie ihre Hand wieder bewegen, er seinen Blick senken würde.

Danach legte ihr der junge Mann, vielleicht um die Verlegenheit zu überspielen, aufgeregt seine Anschauungen über das Phänomen der Zeit dar. »Sie verläuft nicht geradlinig«, sagte er, den Blick auf den Fluss gerichtet und lebhaft gestikulierend, »sie bewegt sich aber auch nicht spiralförmig, es ist vielmehr so, als würde jemand Dinge und Ereignisse wie eine Menge Hüte über unseren Köpfen herumkreisen lassen.« – »Ah, du meinst wie früher beim Hutspiel, wenn man …«, merkte das Mädchen an, ohne den Satz beenden zu können. »Genau. Auch der Krieg ist so«, fuhr er fort, »früher oder später kehrt er zurück.« – »Donnerwetter, du hast dir wirklich tiefe Gedanken darüber gemacht«, rief sie und brach in lautes Lachen aus, weil ihr bereits klar war, dass, wenn Weinen unumgänglich war, dieser Junge es für sie übernehmen würde. Die Sonne stand schon tief, die Ziegel der Dächer waren nun goldbraun gefärbt, und der Fluss strömte träge dahin.

Aus solchen Erinnerungen, dazu das deutsche Messer, bestanden ihre alltäglichen Dinge. Der ganze Rest reduzierte sich auf einmal zweimal dreimal Klingeln des schwarzen Bakelittelefons. Sie erhob sich lustlos und griff endlich zum Hörer.