Loe raamatut: «Im Schatten der Verschwörung», lehekülg 2

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Thüringen. Im Sommer 1545

Erfurt war laut und schmutzig. Diesen Eindruck sollte Mias von seinem Besuch in Erinnerung behalten. Die engen Gassen, der Gestank, die vielen bettelnden Kinder. Er wohnte mit seinem Vater im Gasthaus »Zur Weißen Lilie« nahe der Brücke über den Fluss. In dieser Herberge war ihm damals Peter Kerner zum ersten Mal begegnet. Die Geschäfte führte nun der Sohn, sonst hatte sich nach Aussage seines Vaters nicht viel verändert in den letzten zwanzig Jahren. Am ersten Abend ihres Aufenthaltes hatte sich die alte Wirtin, die immer noch in der Küche Dienst tat, zu ihnen an den Tisch gesetzt. Nach der Begrüßung lag ihr Blick lange auf Mias. Schließlich strahlte ein Lächeln über ihr runzliges Gesicht und sie nickte Peter Kerner zu. »Einen braven Sohn habt Ihr da, Meister Kerner.«

Dieser lachte. »Ja, einen Besseren kann man sich nicht wünschen.«

»So habt Ihr es nie bereut?«

»Nie und nimmer. Mias kennt die Wahrheit seit ein paar Wochen, das hatte ich seiner Mutter damals geschworen.«

Die Wirtin zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Das war es also, was sie Euch am Sterbebett noch abgerungen hat.«

»Ja, und ich glaube, mein Sohn würde gerne von Euch mehr erfahren über das, was geschehen ist, bevor ich in die Schänke kam.«

Mias nickte. »Ihr kanntet meine Familie?«

Die Wirtin sah sich suchend um, ihre zahnlosen Kiefer mahlten aufeinander.

»Es ist gefährlich, über diese Dinge laut zu reden. Wir müssen auf der Hut sein«, flüsterte sie. Doch niemand in der Schänke schien sich für ihre Unterhaltung zu interessieren. Am Tisch neben der Tür spielten ein paar Männer ein Würfelspiel, daneben zog gerade eine Dirne das volle Interesse dreier Landsknechte auf sich.

»Es wird kein Name über meine Lippen kommen, Ihr wisst ja, von wem ich spreche.« Die greise Wirtin beugte sich näher zu Vater und Sohn herüber.

»Wir in Erfurt hörten damals von Kriegsknechten, was einige Tage zuvor in Frankenhausen geschehen war. Die Schlacht verloren, die Anführer gefangen. Die Wut der Fürsten, besonders die des Mansfelder Grafen, kannte keine Grenzen. Er hat den Gefangenen gequält, wie die Teufel in der Hölle ihn einst quälen mögen. Doch dieser hat seine Überzeugung auch unter der Folter nicht widerrufen. Mias, glaubt das nicht! Das ist eine Lüge des Mansfelders.

Sie haben ihn mit dem Schwert enthauptet, seinen Körper aufgespießt und an den Reißenden Berg vor Mühlhausen gesetzt. Viele andere Gefangene aus dem Bauernheer mussten am gleichen Tag ihr Leben lassen.

Die Frau des Anführers war hochschwanger und mit ihrem einjährigen Söhnchen in Mühlhausen geblieben. Nun konnten oder wollten sie die Räte der Stadt nicht beschützen. Ein Landsknecht hat ihr Gewalt angetan und sich ungestraft damit gebrüstet. Diese Schande hat sie nie verwunden. Danach ist sie aus der Stadt geflohen. Freunde haben ihr geholfen, denn die Fürsten hatten ihr das Erbe nicht ausgehändigt und so war sie arm wie eine Kirchenmaus. Zuerst wandte sie sich an Verwandte in Nordhausen, aber die haben sie von der Schwelle gestoßen, das arme Weib. Dafür werden sie gleich neben dem Mansfelder in der Hölle schmoren. Eines Abends kam sie in meine Schänke, erschöpft und voller Schmutz. Ein Getreuer brachte sie und bat mich, ihr und dem Söhnchen zu helfen. Viel konnte ich jedoch nicht mehr für sie tun. Wenige Tage später gebar sie das Kind. Es war ein Mädchen, bei der Geburt bereits tot. Dann kam das Fieber und kurz darauf war sie in Jesum mit Mann und Kind vereint. Wenn Ihr auf dem Gottesacker der Barfüßerkirche steht, liegen sie genau zwischen Mauer und der großen Blutbuche. Das Söhnchen war zu der Zeit schon in Sicherheit, das hat der Mutter großen Trost gegeben und sie in Frieden sterben lassen.«

»Was wäre aus dem Söhnchen geworden, hätte sich nicht ein Fremder erbarmt?«, fragte Mias schließlich nach einigen Minuten des Schweigens.

»Ein paar Wochen später kamen die Soldaten des Herzogs in mein Haus. Sie kehrten das Unterste nach oben auf der Suche nach ihm und der Mutter. Wir hätten ihn gut verbergen müssen in der Stadt, so wie wir es auch mit anderen getan haben. Er wäre heute wohl nur ein armer Knecht. So hat er es doch besser getroffen, nicht wahr?«

»Ihr hättet ihn hier behalten und beschützt?«

Die Wirtin nickte. »Mein Gemahl, Gott hab’ ihn selig, war auch ein Getreuer des wahren Evangeliums. Er ist mit den anderen auf dem Feld in Frankenhausen erschlagen worden. Wir Getreuen lassen einander nicht im Stich.«

»Ich danke Euch, was Ihr für die Mutter und das Kind getan habt. Das werde ich Euch nie vergessen.« Mias Worte kamen aus tiefstem Herzen.

Die Wirtin sah dem jungen Mann mit festem Blick in die Augen. »Liebe deinen Nächsten, so wie dich selbst. Denkt daran, wenn einmal jemand vor Eurer Tür steht, der Hilfe bedarf.«

»Ja, so steht es in der Heiligen Schrift«, nickte Mias.

»Der gedruckte Buchstabe der Schrift an sich ist tot, nur der Heilige Geist macht sie lebendig. Er hilft, das Richtige zu tun.«

Was für seltsame gelehrte Worte wusste diese alte einfache Wirtin zu sagen? Mias wunderte sich darüber.

»Ich hab dir’s doch gesagt: Hör den Menschen zu und sinne darüber nach. Jedes Ding hat mehrere Seiten«, erinnerte ihn Peter Kerner später in der Kammer.

»Die Reformatorischen haben in etlichem Recht. Viele unserer römisch-katholischen Geistlichen leben nicht nach ihrer eigenen Predigt. Das weißt du doch auch.«

Das Holzbett knarrte laut, wenn Mias sich von einer Seite auf die andere wälzte. Gut, dass Vater so tief schlief, wenn er, wie letzten Abend, einen Humpen Wein geleert hatte.

Laut reden über Thomas Müntzer wollte hier offenbar keiner. Aber es gab wohl noch Getreue, Menschen, die ihm persönlich begegnet waren, seine Predigten gehört hatten. Worte, die ein loderndes Feuer im Herzen der Menschen angefacht haben mussten. So heiß, dass sie bereit waren, dafür in den Tod zu gehen. Nein, solch eine Predigt hatte Mias noch nie gehört. Die Regensburger Priester drohten oft mit Hölle und Fegefeuer für die Sünder und mahnten zur Buße und Gehorsam gegenüber Papst und Obrigkeit. In Heidelberg hatten die Professoren klüger gesprochen, feinsinnige Schriftauslegungen gebracht, um die Gedanken der Wittenberger zu widerlegen. Mias’ Denken schlug so manche Kapriolen, damit er ihren Ausführungen folgen konnte – sein Herz klopfte dabei jedoch unbeteiligt weiter. Wenn über diesen Müntzer etwas zu erfahren wäre, dann an seiner letzten Wirkungsstätte in Mühlhausen. Mias fasste einen Plan. Gleich morgen früh würde er seinen Vater darum um Rat fragen. Diesen anderen Mann, der in sein Leben getreten war, nein, den konnte er nicht »Vater« nennen. Für den würde er einen anderen passenden Namen finden müssen.

Die Mittagssonne brannte den beiden Männern heiß in den Nacken. Über das von der Sommerhitze ausgedörrte Gras gingen sie in den Schatten der großen Blutbuche und blickten zur Mauer. Irgendwo unter einem der gelbgrünen Hügel also ruhten Ottilie Müntzer und die namenlose Schwester bis zur Auferstehung am Jüngsten Tag.

Würde seine Schwester überhaupt auferstehen? Sie hatte doch gar nicht gelebt und getauft war sie auch nicht. Sie waren Ketzer, also würde sie Christus dann gleich ins ewige Feuer schicken? Mias seufzte. Würde ein Ablassbrief nützen?

Schweigend standen sie eine Weile dort.

»Vater, ich bitte Euch um Rat. Ich möchte nicht nach Regensburg zurückfahren, sondern nach Mühlhausen gehen und eine Weile dort bleiben. Längstens bis zum neuen Jahr, dann komme ich zu Euch zurück. Was meint Ihr?«

Vater Kerner nahm die Kappe ab und kratzte sich am Kopf. »Du willst dich also auf die Suche machen, mein Sohn. Was willst du finden?«

»Ich weiß nicht, was es zu finden gibt, Vater. Wer weiß, vielleicht treffe ich einen der alten Getreuen, wie sie die Wirtin genannt hat. Einen, der Thomas Müntzer gut gekannt hat.«

»Und was soll ich dir raten, Mias?«

»Entlasst mich dazu mit Eurem Segen, Vater. Darum bitte ich Euch.«

»Niemand darf erfahren, wer du bist, Sohn! Vergiss das nie und vertraue niemand. Du würdest sonst dich, mich und deine ganze Familie ins Unglück reißen. Versprich mir das!«

»Ich verspreche es. Heißt das, Ihr erlaubt es?«

»Was will ich tun? Entlasse ich dich nicht im Guten, so könntest du wohl über Nacht und Nebel verschwunden sein, nicht wahr, Mias?«

»Woher wisst Ihr …?«

»Ich hätte es an deiner Stelle auch so gemacht als junger Mann und mir damals von niemand raten lassen. Heute bin ich älter und wäge die Gefahr im Vergleich zum Nutzen ab. Mein Verstand sagt, dass dein Wunsch viel Gefahr, aber wenig Nutzen verspricht. Mein Herz aber versteht dich.

Als ich dich damals in der ›Weißen Lilie‹ mitgenommen habe, war ich nur wenig älter als du heute. Niemand hätte mir dazu geraten, nur mein Herz. Wagemutige Entscheidungen liegen uns Kerners im Blut. Also lass uns lieber im guten Einvernehmen voneinander scheiden. Das hat einen Vorteil, denn wir können einen Plan schmieden. Du kannst nicht einfach durch das Mühlhausener Stadttor marschieren ohne Grund und Ziel.«

Am Abend weihten die beiden Männer die Wirtin in ihre Pläne ein. Die alte Frau schwieg lange und wiegte ihren Oberkörper nachdenklich von rechts nach links.

»Ihr lasst Euch nicht durch gutes Zureden davon abhalten, nicht wahr, junger Herr?«

Mias schüttelte entschlossen den Kopf. Die Wirtin seufzte.

»Nun gut, so will ich Euch helfen. Ich gebe Euch eine Nachricht mit für einen Verwandten. So habt Ihr einen Grund für Eure Reise nach Mühlhausen. Er wird Euch mir zu Liebe in sein Haus aufnehmen, aber eröffnet ihm auf keinen Fall Euer Geheimnis.«

»Ist er auch ein heimlicher Getreuer?«, wollte Mias wissen.

Die alte Frau lachte. »Henrich Rothmann, der Sohn meiner Schwester ist der Stadtkämmerer von Mühlhausen. Henrich schuldet mir seit langem einen Gefallen. Daran werde ich ihn erinnern.«

In dieser Nacht sank Mias erst spät in einen unruhigen Schlaf. Was, wenn jemand in Mühlhausen ihn erkannte? Nein, das war unwahrscheinlich. Er musste nur vorsichtig sein, durfte niemandem vertrauen.

Das erste Morgenlicht fiel gerade durch das winzige Kammerfenster, als Mias schweißüberströmt aus dem Schlaf schreckte. Sie hatten auf ihn mit den Fingern gezeigt, all diese vielen Menschen. »Der Same des Bösen«, hatten sie gebrüllt, »Seht den Sohn des Ketzers!« Es dauerte eine Weile, bis sein Herzschlag sich wieder beruhigte. Es war ja nur ein Traum gewesen. Nur ein böser Traum.

Sollte er doch lieber mit seinem Vater nach Regensburg zurückkehren? Dort wartete seine Familie, seine Freunde, eine angesehene Arbeit. Dort war er Matthias Kerner, der Sohn und Erbe des angesehenen Zunftmeisters Peter Kerner. Vielleicht mochten ihn manche Menschen nicht leiden, den meisten war er sicher gleichgültig, aber niemand in Regensburg hatte Grund, in ihm den Samen des Bösen zu sehen.

Warum hatte Ottilie Müntzer seinem Vater dieses Versprechen abgerungen, ihm die Wahrheit über seine Herkunft nicht zu verheimlichen? Die Worte des Briefes, die ihn zutiefst berührt hatten, der Ring. Er musste mehr über seine leiblichen Eltern herausfinden. Danach würde er nach Regensburg heimkehren. Dort gehörte er hin.


Zwei Tagesreisen waren es bis Mühlhausen. Mias fuhr auf dem Gespann eines Kaufmanns bis Langensalza mit. Dort nahm er Quartier in einem Gasthaus. Am folgenden Tag machte er sich schon früh zu Fuß auf den Weg. Gegen Abend erreichte Mias das westliche Stadttor von Mühlhausen.

»Geht nur diese Gasse weiter durch die Stadt, bis Ihr vor der großen Kirche St. Blasius steht. Des Rothmanns Haus liegt rechter Hand in der Kurzen Gasse.« Der Torwächter war freundlich. Er sprach mit diesem eigenartigen singenden thüringischen Klang, der Mias schon in Erfurt zum Schmunzeln gebracht hatte.

Mias staunte. Mühlhausen war in Wirklichkeit viel größer und schöner als in seinen Vorstellungen. Die Breite Gasse säumten vortreffliche Bürgerhäuser, denen man ihre vermögenden Besitzer ansehen konnte. Auf dem großen Platz vor der St. Blasius Kirche bat er einige spielende Knaben, ihn zum Haus von Henrich Rothmann zu führen. Dann stand Mias vor der schweren hölzernen Türe. Er pochte dagegen. Nichts geschah. Nach einer Weile klopfte er kräftiger. War der Hausherr wohl nicht daheim? Da näherten sich Schritte, die Türe wurde einen Spalt weit geöffnet.

»Wer da?«, ein weißhaariger Greis schob seinen Kopf hindurch.

»Ich bringe eine Nachricht für den Stadtkämmerer Rothmann.«

»Er ist nicht da. Ihr könnt auf ihn warten oder später wiederkommen.«

»Ich warte.«

»Gut, so tretet ein.« Der Greis ließ Mias durch die Türe und schloss das schwere Tor sofort wieder hinter ihm.

»Dorothea«, rief er laut, »wir haben einen Gast.«

Mias Augen gewöhnten sich nur langsam an das Dunkel im Haus. Durch eine Türe am Ende des Ganges schien ein heller Streifen. Mias folgte dem Greis in diese Richtung und trat in eine Küche. Dort stand eine junge Frau am Tisch, die Arme bis zu den Ellenbogen in einem Backtrog vergraben. Sie knetete mit aller Kraft den Teig.

»Und wer ist unser Gast?«, fragte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen.

Sollte er jetzt wohl einer Küchenmagd Rede und Antwort stehen? Einen seltsamen Haushalt hatte dieser Henrich Rothmann.

»Nun?«, fragte die junge Frau noch einmal und blickte Mias an. Ganz schön keck, das Mädchen. Die Mägde in Mutters Haushalt würden sich so etwas nicht herausnehmen.

»Ich warte auf Henrich Rothmann. Ich habe einen Brief für ihn.« Das musste dem neugierigen Weib doch fürs Erste genügen. Sie lachte und knetete weiter.

»So setzt Euch doch, namenloser Fremder. Wenn ich das Brot im Feuer habe, bringe ich Euch einen Trunk.«

Mias setzte sich auf die Holzbank. Hatte er da nicht einen leisen Spott aus ihrer Stimme herausgehört? Der greise Knecht war nicht mehr zu sehen, er war alleine mit dem jungen Ding. Sie nahm den Teig, strich ihn in eine große Pfanne und schob diese geschickt über das Feuer. Es war heiß im Raum, Qualm biss Mias in den Augen. Die Magd nahm einen Humpen und ließ ihn in der Küche allein. Wann kam endlich der Hausherr?

»So, nun lasst es Euch schmecken.« Der Humpen war randvoll eingeschenkt. Mias kostete vorsichtig. Apfelmost. Kühler köstlicher Apfelmost.

Die Magd setzte sich ihm gegenüber. War sie wohl schon fertig mit ihrer Arbeit?

»Wann kommt denn der Herr zurück?«, fragte Mias.

»Er müsste eigentlich schon da sein. Wahrscheinlich ist er im Rat aufgehalten worden.« Das Brot in der Pfanne pratzelte und verbreitete einen köstlichen Duft. Mias Magen knurrte laut. »Oh, Ihr habt wohl Hunger? Habt Ihr noch nichts gespeist heute?«, lachte die Magd.

Laute Stimmen kamen über den Flur näher. Der Hausherr betrat zusammen mit dem Greis die Küche. Das Mädchen sprang auf, umarmte den Eingetretenen herzlich.

»Vater, seht, wir haben einen Gast. Er hat eine Nachricht für Euch und großen Hunger.«

Das war keine Küchenmagd, das war Henrich Rothmanns Tochter! Mias stieg die Röte ins Gesicht. Aber warum musste die Tochter des Stadtkämmerers die Arbeit der Küchenmägde verrichten? Der Hausherr wandte sich nun Mias zu. Er war ein stattlicher Mensch, etwa im Alter seines Vaters, mit tiefer wohlklingender Stimme.

»So, ein Gast. Wo mag er herkommen?«

»Mir hat er’s nicht verraten wollen«, kicherte die Tochter. Sie ging an den Ofen und kümmerte sich um das Brot.

»Ich bin Matthias Kerner aus Regensburg und bringe Euch diesen Brief aus Erfurt.« Mias reichte ihm verlegen das versiegelte Schreiben der Wirtin. Henrich brach das Siegel und las die Nachricht. Dann steckte er das Papier in seinen Ärmel.

»Hm, Matthias Kerner aus Regensburg, seid Ihr?« Seine graublauen Augen blickten nachdenklich prüfend auf Mias.

»So seid willkommen in meinem Haus. Und nun lasst uns etwas gegen den Hunger tun und dabei könnt Ihr mir erzählen, wie es meiner Muhme in Erfurt ergeht.«

Später am Abend saß Mias mit Henrich und Dorothea im Speisezimmer zusammen. Die Mahlzeit hatte vorzüglich gemundet. Die Küchenmagd war für einige Tage zur Beerdigung ihrer Mutter aufs Land gereist, deshalb kümmerte sich Dorothea um die Mahlzeiten. Mias erfuhr, dass Dorotheas Mutter vor einigen Jahren an dem großen Fieber gestorben war. Damals wurde fast ein Drittel der Einwohner Beute dieser Krankheit. Seitdem lebten im Haushalt nur Henrich, seine einzige Tochter Dorothea, der alte Knecht Valtin und Bärbel, die Magd. Dorothea schien es Mias nicht krumm zu nehmen, dass er sie für die Magd gehalten hatte. Sie beteiligte sich munter und mit kluger Rede am Gespräch. Offensichtlich hatte sie mehr Bildung genossen als sonst für Mädchen üblich. Mias verglich Dorothea unwillkürlich mit Katharina. An Schönheit konnte sie es mit seiner Schwester gewiss nicht aufnehmen. Dorothea war klein von Wuchs, alles an ihr war rundlich: die braunen Augen in dem sommersprossigen Gesicht, dessen Form noch durch den nach hinten gebundenen braunen Zopf betont wurde, die Hüften und, wie Mias mit verstohlenem Blick bemerkte, auch die Brüste lagen wie zwei reife runde Früchte genau an der Stelle, wo sie hingehörten. Da hatte sie Katharina einiges voraus.

Henrich und seine Tochter befragten Mias über seine Familie und das Leben in Regensburg. So war man dabei, sich besser kennenzulernen.

»Sagt, Magister Rothmann, wisst Ihr nicht jemand in Mühlhausen, der einen Schreiber oder Kaufmannsgehilfen sucht?«, wollte Mias wissen.

»In Regensburg seid ihr nicht lutherisch gesinnt, oder?«

»Es gibt schon etliche Anhänger Luthers in unserer Stadt – aber meine Familie gehört nicht dazu.«

»Gut, gut, denn das ist für den Posten vonnöten, den ich dir verschaffen könnte. In ein paar Tagen findet der große Prozess vor dem Reichskammergericht in Mühlhausen statt. Der Schreiber des Kurmainzischen Anwalts ist im Suff von der Treppe gestürzt, hat sich den Arm gebrochen. Vielleicht kannst du den Posten haben. Bewährst du dich, findet sich danach etwas anderes.«

An diesem Abend schlief Mias schnell ein. Sein Bett stand in einer kleinen, gemütlichen Kammer im Obergeschoss des Rothmannschen Hauses.

Henrich hatte ihm versichert, er könne bei ihnen wohnen, so lange er in Mühlhausen zu schaffen habe.

In einer anderen Kammer des Hauses lag Dorothea noch lange wach und beobachtete den silbernen Streifen Mondlicht, der durch das kleine Fenster neben ihr auf die Kissen fiel. Schöne blaue Augen hatte er, dieser Matthias Kerner. Am Anfang war er ihr ja ein wenig aufgeblasen erschienen, aber letztlich hatte er sich als ruhiger, freundlicher Mann mit guten Manieren herausgestellt. Eine Sache machte Dorothea jedoch Kopfzerbrechen: Noch nie hatte ihr Vater einen völlig Fremden für unbegrenzte Zeit als Gast ins Haus genommen. Wozu gab es Schänken, in denen man für Geld wohnen konnte? Alles wegen eines Briefes der Muhme aus Erfurt? Was hatte Vater dazu gebracht? Sie musste dieses Schreiben unbedingt in die Hände bekommen!

Nur durch eine dicke Steinwand von Dorothea getrennt, fröstelte Henrich Rothmann in seinem kalten, einsamen Ehebett. Seine Gedanken gingen auf eine Reise in die Vergangenheit. Eigentlich müsste doch endlich alles vergessen sein nach so langer Zeit. Vergessen und vorbei. Er stand noch einmal auf, zündete eine Kerze an und hielt den Brief seiner Muhme in die Flamme, bis nur ein Häuflein Asche übrig blieb. Vergessen und vorbei.


Tatsächlich bekam Mias den Schreiberposten. Gleich am nächsten Morgen hatte er sich auf Henrichs Anraten an den Kurmainzischen Anwalt Doktor Kornmann gewandt. Der war froh, in diesem lutherischen Hornissen-Nest einen rechtgläubigen jungen Mann zu finden, der über die notwendige Qualifikation verfügte und der vor allem nicht aus der Gegend stammte.

Bei diesem Prozess ging es um viel. Um viel Geld.

Die Ursache war schon über zwanzig Jahre her. Als die Rotten der Bauern anno 1525 durch das Eichsfeld zogen, plünderten und brandschatzten, hatte der Kurfürst von Mainz, dem diese Güter unterstanden, große Verluste erlitten. Daher wurde ein Prozess gegen die Stadt Mühlhausen auf Entschädigung vor dem Reichskammergericht angestrengt. Die Mühlhausener hatten mit einer Gegenklage gegen den Kurfürst geantwortet. Kurmainzische Untertanen und Verbündete hätten trotz Friedensschluss noch mehrere Mühlhausener Dörfer geplündert, dann abgebrannt und zwei Wachtürme vor den Toren der Stadt vernichtet. Es hatte Jahre gedauert, bis das Reichskammergericht eine geeignete Person fand, die diesen Prozess führen konnte. Der Leipziger Rechtsgelehrte Caspar Borner hatte die Sache nun in die Hand genommen. Die Zeugen waren geladen, am 31. August würde die Verhandlung beginnen.

»Na, habt Ihr den Posten bekommen?«, begrüßte ihn Dorothea fröhlich an der Haustür. Sie trug einen großen Korb in den Händen. Mias nahm ihn ihr ab.

»Ja, ich werde als Schreiber für Doktor Kornmann arbeiten. Wo soll der hin – der Korb?«

»In den Garten hinter dem Haus. Wenn Ihr Zeit habt, begleitet mich doch. Die Frühäpfel sind reif. Ich will uns heute Pfannkuchen mit Apfelreib als Nachtmahl bereiten.«

Mias folgte Dorothea mit dem Korb. Durch eine Tür hinter der Küche traten sie in einen Garten, der rundherum von mannshohen Mauern umgeben war. Dorothea ging zielstrebig zu einem der Obstbäume. Die Äste hingen schwer von grünen Äpfeln herunter. Sie begannen schweigend zu pflücken. Man hörte nur das Rascheln der Blätter und das Summen der Bienen, die durch die mittägliche Augustsonne schwirrten.

»Der Prozess ist eine schlimme Sache. Es könnte dumm ausgehen für uns Mühlhausener«, brach Dorothea schließlich die Stille.

»Wie das?«

»Nach Willen des Kurfürsten sollen wir Mühlhausener büßen für Taten, die wir gar nicht begangen haben.«

»Aber von hier sind doch die Rotten ins Land gezogen … Hier haben doch Müntzer und Pfeiffer die Meute aufgestachelt …«, erwiderte Mias.

»Nicht alle Mühlhausener waren auf Seite der Bauern. Jetzt werden wir mit allen Übeltätern über einen Kamm geschoren.«

»Sagt, Dorothea, wie kommt es, dass Ihr über solche Dinge und auch anderes so gut Bescheid wisst? Habt Ihr eine Lateinschule besucht?«

»Ihr wisst doch, dass die Schule nur für Buben ist. Ich hatte das Glück, vier Jahre zusammen mit den Kindern eines Ratsherrn von einem Hauslehrer unterrichtet zu werden. Ich kann gut lesen. Mein Vater hat mir vieles beigebracht, von meiner Mutter habe ich alles über Heilkräuter gelernt.«

»Mir scheint, Ihr seid viel klüger als meine Schwester.«

Dorothea dachte nach.

»Ist Eure Schwester schön?«

»Ja, sehr schön.«

»Wenn eine Frau schön ist und aus einem reichen Haus kommt, muss sie nicht auch noch klug sein. Sie wird einen angesehenen Gatten finden, nicht wahr?«

Mias überlegte. Dorothea hatte Recht. So hatte er das noch nie betrachtet.

»Ihr werdet doch auch einen angesehenen Gatten finden. Hat denn noch keiner um Euch geworben?«

Dorothea stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Nur einer – und den nehm’ ich nicht. Lieber stürze ich mich vom Turm.«

In der Stimme des Mädchens klang so viel ernsthafte Verzweiflung mit.

Mias stand ratlos da, in jeder Hand einen Apfel. Solch eine Unterhaltung hatte er noch nie geführt. »Verzeiht, Dorothea, in diesen Dingen habe ich keine Übung«, sagte er schließlich leise.

Sie trugen den schweren Korb voller Äpfel wortlos zusammen in die Küche.

»Seid Ihr mir jetzt böse?«, fragte Dorothea traurig, »Vater sagt immer, ich soll mein Temperament zügeln. Aber es gelingt mir nicht.«

»Aber nein, wie sollt’ ich Euch böse sein? Ihr habt mich doch nur in Euer Herz schauen lassen. Es ist nur«, Mias rang nach den richtigen Worten, »über all diese Dinge – Frauen und Ehestand – habe ich mir bisher noch nicht viele Gedanken gemacht.«

Zweierlei hatte er erfahren in diesem Gespräch: Der Prozess gegen die Stadt Mühlhausen schien kompliziert zu werden und Dorothea Rothmann hatte nur einen einzigen Verehrer, den sie aber auf keinen Fall erhören würde. Beides erschien Mias von Bedeutung, er wusste noch nicht, warum.


»Ist das eine Hitze heute«, stöhnte Rosina Baumgart und wedelte sich mit einem Fächer Luft zu.

»Soll ich dir helfen, das Kleid abzulegen?«, fragte Caspar Künemund anzüglich. Er langte nach ihrem Mieder.

»Nicht jetzt, Caspar, wir haben Wichtigeres zu tun.«

»Was gibt es Wichtigeres?« Caspar legte die Arme von hinten um Rosina, zog sie an sich und küsste sie auf den Hals. Rosina machte sich nachdrücklich los und ging zu dem Tisch mit dem Schachspiel hinüber.

»Der Prozess steht nun endlich bevor. Wir sollten überlegen, ob dieser unserer Sache dienen kann – oder schaden.«

»Ich habe den Gehilfen des Anwalts bestochen. Er lässt mich die Protokolle heimlich lesen. Erst wenn wir wissen, was hinter den verschlossenen Türen des Gerichts vorgeht, können wir es vielleicht für unsere Zwecke ausnutzen.«

»Ach ja, hast du schon gehört, Caspar: Der Kurmainzer Anwalt hat heute einen neuen Schreiber verpflichtet. Einen Fremden, der bei Henrich Rothmann wohnt. Aus Regensburg ist er, sagt man.«

»So, da brauchen wir noch eine neue Figur in unserem Spiel. Einen Bauern? Ein Pferd? Was meinst du, Rosina?«

»Ein Bauer, mehr ist der Schreiber nicht wert. Er kommt gleich neben den schwarzen Turm.« Rosina stellte einen schwarzen Bauern auf das Spielfeld.

Danach überlegten Caspar und Rosina gemeinsam, wie sie ihren Zielen ein Stück näher kommen könnten. Da gab es noch einige Figuren aus dem Spiel zu schlagen. Jede schwarze Figur auf dem Schachbrett stand für eine Person, die büßen sollte für das Unrecht, das Caspars und Rosinas Familien durch sie erleiden mussten. Der Verräter, der Caspars Vater Sebastian Künemund am Ende des Bauernaufstands bei den Siegerfürsten denunziert hatte, stand noch auf dem Spielfeld. Den Scharfrichter, der ihn damals am Marktplatz enthauptete, hatten sie schon herausgenommen. Er war vor zwei Monaten an einer seltsamen Krankheit gestorben. Den Einfall mit dem vergifteten Gewürz hatte Rosina gehabt.

Caspar hatte den Anblick nie vergessen, wie das große Schwert den Kopf seines Vaters vom Hals trennte.

Als neunjährigen Jungen hatten sie ihn gezwungen, bei der Hinrichtung zuzusehen.

Alles Beten und Flehen hatte damals nichts genützt. Seitdem hatte Caspar den Glauben an einen barmherzigen Gott verloren. Das Getue in den Kirchen war doch alles nur Unsinn, sei es katholisch oder evangelisch.

Das geheime Ziel der Witwe Rosina Baumgart war, den drei Jahre jüngeren Caspar Künemund zu heiraten. Dafür würde sie die Pläne ihres Liebhabers nach Kräften unterstützen und sich damit als sein zukünftiges Eheweib würdig und fähig erweisen.

Später legte Rosina tatsächlich noch ihr Kleid ab. Allerdings nicht wegen der Hitze. Danach begleitete sie Caspar in den Keller ihres Hauses, von wo man durch einen geheimen Gang in das auf der Stirnseite angebaute Haus der Künemunds gelangen konnte. Niemand in Mühlhausen ahnte bisher etwas von ihrer Liaison. Und das war gut so.

Caspar Künemund fühlte sich nach diesen Stunden bei Rosina wohl wie ein Fisch im Wasser. Es konnte nicht schaden, Dorothea Rothmann einen Besuch abzustatten und, wenn möglich, diesen Fremden aus Regensburg einer näheren Begutachtung zu unterziehen.

»Hab ich nicht gesagt, ich empfange keinen Besuch, wenn Vater nicht zu Hause ist?«, zischte Dorothea zornig dem Knecht Valtin zu, der Caspar hereingeführt hatte. Valtin wunderte sich, er konnte sich nicht an diesen Befehl erinnern. Sein Gedächtnis ließ von Tag zu Tag nach.

»Jungfer Dorothea, Ihr werdet jeden Tag schöner«, grinste Caspar. Sein Blick wanderte von ihrem Gesicht über den Hals hinunter zur Brust. Dort hielt er viel zu lange inne.

»Was verschafft uns die Ehre Eures Besuchs, Meister Künemund?«, fragte Dorothea unwirsch zurück.

»Das wisst Ihr doch. Ich kann eben nicht lange ohne Euren Anblick leben.«

Dorothea hatte sich hinter den Esstisch gestellt, so dass die Holzplatte Caspar auf Abstand hielt. Nun ging der Mann mit großen Schritten auf ihre Seite herum, Dorothea flüchtete in die andere Richtung.

»Wenn Ihr meinen Vater sprechen wollt, so müsst Ihr in einer Stunde wiederkommen.«

Caspar lachte laut. Die Jagd um den Tisch herum war ganz nach seinem Geschmack.

»Seid doch nicht so spröde, Dorothea. Ihr wisst doch, dass ich ehrbare Absichten mit Euch habe.«

»Wenn Ihr ehrbare Absichten hättet, würdet Ihr mich nicht so bedrängen!« Nun klang Dorothea wirklich erbost. Caspar hob beide Hände und blieb stehen.

»Verzeiht, ich wollte Euch nicht erzürnen. Es war doch nur ein Scherz.«

Dorothea überlegte fieberhaft, wie sie Caspar loswerden oder ihm entkommen könnte. Der alte schwerhörige Valtin war keine Hilfe gegen ein liebestolles Mannsbild. Doch da fiel ihr ein, sie war ja gar nicht allein im Haus. Matthias Kerner war oben in seiner Kammer. »Ihr habt sicher schon gehört, dass wir einen Gast im Haus haben.«

»Wirklich? Das soll ich Euch glauben?«, spottete Caspar und kam wieder auf sie zu. Diesmal war die Tischplatte nicht zwischen ihnen.

»Ich, ich kann ihn ja holen, wenn Ihr mir nicht glaubt«, stotterte Dorothea und flüchtete zur Tür, bevor Caspar sie greifen konnte. »Matthias Kerner, kommt einmal herunter!«, rief Dorothea laut nach oben. In ihrer Stimme schwang Angst mit. Nichts geschah.

»Ist wohl nur ein guter Geist, Euer Gast.« Caspar stand nun direkt vor ihr. Hinter sich spürte sie die Wand.

Sie reichte dem großen, dicklichen Mann gerade bis zur Brust. Er roch widerlich nach Schweiß und einem süßlichen Duftwasser. Gleich würde er sie wieder an die Wand drücken und versuchen, sie zu küssen.

Dorothea versuchte, nicht zu würgen, drehte den Kopf zur Seite und atmete tief ein.

»Matthias!«, schrie sie noch einmal verzweifelt. Schritte auf der Treppe, der Gerufene eilte herunter. Caspar trat schnell einige Schritte zur Seite, Dorothea lehnte sich erleichtert zurück an die Wand.

Tasuta katkend on lõppenud.