Loe raamatut: «Nur ein kleiner Verdacht»

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Nur ein kleiner Verdacht

Ein Familienroman

Von Sabine Howe


Impressum

„Nur ein kleiner Verdacht“

erschienen 2021

eISBN 978-3-949298-01-1

© Sabine Howe

Alle Reche der deutschsprachigen Ausgabe:

© howshark Verlag, Hamburg

Umschlag: Rosa Borkenhagen

Inhalt

Maggie 1

Karl 1

Susanne 1

Andrea 1

Maggie 2

Karl 2

Andrea 2

Susanne 2

Maggie 3

Andrea 3

Susanne 3

Karl 3

Maggie 4

Maggie 1

Maggie drehte den Rückspiegel ihres Opels ein wenig nach links, um ihre Frisur zu betrachten. Sie zupfte ein paar Strähnen in die Stirn. Ihr Herz nahm Tempo auf. Ob Karl die neue Frisur gefallen würde? Er mochte – wie sie – eigentlich keine Veränderungen, aber er würde zugeben müssen, dass sie mit den kürzeren Haaren um einiges frischer aussah. Im Hintergrund entdeckte sie Frau Hübel, ihre ehemalige Nachbarin, mit einem großen Plastikpaket unter dem Arm. Maggie kniff die Augen zusammen. „Super Flexi Senior-Erwachsenenwindeln.“ ‚Mein Gott!’ Sie drehte den Spiegel wieder in seine Ausgangsposition, startete den Motor und rauschte davon.

Auf der Einfahrt zu ihrem gelb verputzten Einfamilienhaus nahm sie bei laufendem Motor den Garagentoröffner aus dem Handschuhfach, drückte kurz auf den grünen Knopf, und das Tor öffnete sich. Sie war wirklich froh, dass Karl sich im letzten Winter für die Automatik entschieden hatte. „Kleines“, hatte er nach seinem Bandscheibenvorfall gesagt, „bevor wir uns beide den Rücken ruinieren, muss etwas passieren.“ Vier Wochen später war die neue Automatik eingebaut worden. Wenn Karl erst einmal eine Entscheidung getroffen hatte, ging alles Weitere ruckzuck. Maggie dachte wieder an Frau Hübel. Die Arme musste ihre Einkäufe immer noch an den neugierigen Augen vorbei hinter den Stores durch die Reihenhaussiedlung schleppen. Wie gut, dass sie diese Zeit hinter sich gelassen hatten. Vorsichtig lenkte sie den Wagen in die Garage.

Im Haus war es still. Karl war noch nicht von der Krankengymnastik zurück. Umso besser, das ließ ihr Zeit, sich vor dem Abendessen noch umzuziehen und zu schminken. ‚Die dunkelblaue Jacke mit den Goldknöpfen müsste hervorragend zu den neuen rotbraunen Strähnchen passen’, dachte Maggie, während sie die Einkaufstüten auspackte.

Den Käse in die gelbe Tupperware.

Als sie heute Nachmittag losgefahren war, konnte sie nicht ahnen, welche Veränderungen dieser Tag für sie bringen würde.

Die Wurst in die blaue Tupperware.

Zunächst war alles wie immer gewesen: Dienstagnachmittag, 16 Uhr, Termin im Salon Küppersbusch bei Brigitte. So ging das seit über zehn Jahren alle acht Wochen. Nur, dass Brigitte heute nicht da war.

„Magendarmgrippe“, unterrichtete sie die junge Auszubildende, deren Namen sich Maggie nie merken konnte. „Ihr wurde mittags ganz übel, da ist sie nach Hause gegangen.“

„Und jetzt?“ Maggie war enttäuscht. Sie hatte sich auf Brigitte gefreut, man konnte so gut mit ihr plaudern. Was es wo gerade im Sonderangebot gab, wer wann wohin gezogen war, welche neuen Gerichte man ausprobiert hatte, das Übliche.

Das Müsli aus der Plastiktüte in das Glas mit Deckel.

„Keine Sorge, ihr Mann vom Salon Scherenschnitt springt heute Nachmittag ein“, versuchte die Auszubildende, sie zu beruhigen. Ihr Mann? Salon Scherenschnitt? Maggie war kurz davor, den Termin platzen zu lassen, als Brigittes Mann hinter dem hellblauen Plastikvorhang, der die öffentlichen von den privaten Räumen trennte, hervorsprang.

„Frau Nienstetten, nehme ich an? Oder darf ich Frau Maggie zu Ihnen sagen? Ich heiße Rainer. Anouschka, nimm der Dame den Mantel ab. Einen Kaffee? Setzen Sie sich!“

Damit nahm das Schicksal seinen Lauf. „Da müssen Reflexe rein. Sie sollen strahlen! Und ruhig zehn Zentimeter ab – Kinnlänge! Das verleiht Konturen! Und vor allem: Tragen Sie das Haar hinter dem Ohr! Das macht sie noch jünger.“

Nachdem sie den Salat angefeuchtet und in einer Plastiktüte verschnürt im Gemüsefach verstaut hatte, zog Maggie ihr Portemonnaie aus der Handtasche und zählte die Geldscheine. Knapp zweihundert Mark.

Nicht schlecht fürs Monatsende, und das trotz der ungeplanten Mehrausgaben beim Friseur.

Hundertfünfzig Mark steckte sie in die Sparbüchse, der Rest kam zu dem Budget für die weiße Bluse, die sie sich zu dem lindgrünen Hosenanzug kaufen wollte. Die Gedanken an die verschiedenen Möglichkeiten, eine weiße Bluse mit anderen Kleidungsstücken zu kombinieren gingen nahtlos in die Überlegung über, ob sie zum

Abendessen überbackenen Toast Hawaii oder Salat mit Ei und Kochschinken zubereiten sollte. Sie entschied sich für den Hawaiitoast und machte sich auf den Weg ins Badezimmer.

Eiskaltes Wasser floss über ihre Handgelenke, als das Telefon durch das rauschende Wasser schrillte. Vielleicht war das Susanne, das wäre jetzt ihre Zeit. Obwohl – gab es überhaupt eine Zeit für Susanne? Mit tropfenden Händen lief sie zu dem Telefon im Schlafzimmer.

„Hallo, Maggie.“

„Oh, Andrea.“

„Kannst du gerade sprechen?“

Maggies Blick fiel auf den beigefarbenen Leinenvorhang, der sich links aus der Schiene gerollt und zu mindestens einem Drittel gelöst hatte. Das musste der Putzfrau passiert sein. Wahrscheinlich war ihr die Gardine in den Sauger geraten. Wo war der Stopper?

„Entschuldige“, unterbrach Maggie ihre jüngere Tochter, während ihre Augen den Boden absuchten. „Ich habe im Moment überhaupt keine Zeit. Ich rufe dich später zurück!“

„Aber vergiss es nicht!“, rief Andrea noch aus der Muschel, während sie mit dem Hörer nach der Station tastete. Der Stopper konnte unmöglich weg sein. Sie ließ sich auf die Knie hinab. Die Putzfrau hatte ihn doch nicht versehentlich eingesaugt!? Aber nein, da lag er seelenruhig unter dem Bett! Maggie streckte sich flach auf dem Boden aus und versuchte, den Stopper zu greifen, doch ihr Arm war zu kurz. Sie probierte es von der anderen Seite. Ihre Fingerspitzen berührten das kleine Teil, aber sie bekam es nicht zu fassen. Nächster Versuch mit einem Kleiderbügel.

Mit Schwung beförderte sie den Stopper unter dem Bett hervor.

Maggie kletterte auf den Sessel am Fenster und langte nach der Vorhangschiene, aber sie war zu klein. Auf dem Weg in den Keller, wo der Tritt stand, traf sie Karl. So hatte sie die erste Begegnung zwischen ihrem Mann und ihrer neuen Frisur nicht geplant.

„Wie siehst du denn aus, Kleines?“

„Ich kann jetzt nicht“, murmelte Maggie und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, um die neue Frisur fürs Erste zu vertuschen.

Sie lief weiter in den Keller.

„Ist was passiert?“, fragte Karl, als sie mit dem Tritt in der Hand die Stufen wieder hinaufkam.

„Nein, nein – nur der Schlafzimmervorhang.“ Sie hastete weiter ins obere Stockwerk.

„Brauchst du Hilfe?“, rief Karl ihr nach.

„Nein. Mach doch schon mal den Fernseher an, die Nachrichten kommen gleich.“

Durchatmen und der Reihe nach: erst der Vorhang.

Nachdem sie die letzten Rollen in die Schiene geschoben und den Stopper festgezogen hatte, ging sie ins Badezimmer. Ein leichtes Make-up, ein wenig blauer Lidschatten passend zur Jacke, Rouge, die Haare hinters Ohr – perfekt! Aus dem Wohnzimmer dröhnte der Fernseher. Karl stellte neuerdings so laut, ob er schwerhörig wurde? Das würde ihm nicht gefallen. Sie beschloss, die Sache im Auge zu behalten.

Das kleine Malheur hatte ihren Zeitplan ein wenig durcheinandergebracht. Normalerweise aßen sie – wenn keine Gäste kamen oder Karl nicht seinen Sauna- oder Schwimmabend hatte – zwischen den 19-Uhr- und 20-Uhr-Nachrichten zu Abend. Das war knapp, aber noch zu schaffen. Sorgfältig deckte sie das Backblech mit Papier ab. Dann legte sie die Toastbrotscheiben auf das Blech – für jeden zwei, das sollte reichen. Wenn Karl noch Hunger hatte, würde sie ihm noch ein Schinkenbrot machen. Sie beträufelte den Toast mit Öl, verteilte den Kochschinken, die Ananasscheiben und obendrauf den Schmelzkäse. Sie hatte die Ofentür gerade zugeklappt, als das Telefon wieder klingelte. Andrea! Die hatte sie über die Aufregung ganz vergessen, aber jetzt passte es auch nicht. In einer Dreiviertelstunde fing ihr Italienischkurs an, bis dahin musste sie aufgedeckt, gegessen und abgedeckt haben. Sie lief zum Telefon, lüftete den Hörer ein paar Zentimeter und legte ihn wieder zurück auf die Gabel.

‚Morgen ist auch noch ein Tag’, dachte sie, während sie das Tablett vorbereitete.

„Jetzt zeig mir mal deine neue Frisur.“

Karl stand direkt hinter ihr. Er nahm sie an den Schultern, drehte sie zu sich um und fasste ihr unter das Kinn.

„Ganz schön was ab.“

„Gefällt’s dir?“

„Flott, aber das muss nicht sein.“

Mit beiden Händen holte er rechts und links ein paar Strähnen hinter ihrem Ohr hervor und strich sie ihr ins Gesicht. „So ist es besser. Nicht so streng.“

Sie hatte es geahnt. Er hatte es nie gemocht, wenn sie ihr Haar hinter den Ohren trug. Sie würde ihn langsam daran gewöhnen müssen, vielleicht erst einmal mit einem freien Ohr. „Heute Abend gibt’s diesen Krimi mit dem vergesslichen Kommissar, den du so magst. Du weißt schon …“

„Heute Abend habe ich Italienisch“, unterbrach sie ihn. „Aber schau du ihn dir an, du magst ihn doch auch.“

„Keine Zeit, ich muss mich um die Steuererklärungen kümmern.“

„Übrigens – Anne und Theo können an diesem Donnerstag nicht. Sie haben gefragt, ob es auch Mittwoch passt. Ich habe gesagt, im Prinzip schon, aber ich muss dich erst fragen. Ausnahmsweise könntest du doch deinen Saunaabend verschieben, oder?“

„Wieso können wir das Essen nicht um eine Woche verschieben?“

„Weil sie dann für vier Wochen in Südfrankreich sind.“

„Dann machen wir es eben später.“

„Bitte, Karl – dieses eine Mal. Ich habe schon alles eingekauft.“

„Also ist es jetzt schon beschlossene Sache? Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich es nicht mag, wenn du über meinen Kopf hinweg entscheidest?“

„Och, komm schon. Ich frage dich hiermit offiziell, ob du ausnahmsweise bereit wärst, deinen Saunaabend für ein Abendessen mit deinem Freund Theo und seiner Frau Anne zu verschieben.“

„Ausfallen zu lassen.“

„Ja, meinetwegen auch ausfallen zu lassen. Obwohl deine Saunafreunde vielleicht auch mal einen Tag später können.“

Schweigen. „Das bleibt aber eine Ausnahme!“

„Versprochen!“

Beim Abendbrot war ihr Mann schweigsam. Maggie hatte ihm eigentlich von ihrem Erlebnis beim Friseur erzählen wollen, aber sie spürte, der Moment war nicht passend.

„Die Steuer?“, fragte sie nach dem sechsten Happen.

Er nickte.

„Wenn ich dir doch nur dabei helfen könnte.“

„Sei froh, dass du dich damit nicht belasten musst! Außerdem bin ich mir nicht sicher, was dabei herauskäme. Du kannst dir ja nicht mal meine Termine merken.“ Er tätschelte ihre Hand.

Maggie stand auf, räumte den Tisch ab und verstaute das Geschirr in der Spülmaschine. Sie hatte ihren zweiten Toast nicht gegessen. Sorgfältig schlug sie das Brot in Stanniol-Papier ein und legte es in den Kühlschrank. Vielleicht hatte sie nach dem Italienischkurs wieder Appetit.

Sie war nicht die Erste an diesem Abend. Vor dem Klassenzimmer in der Grundschule warteten bereits drei weitere Kursteilnehmer. Insgesamt waren sie zwölf Personen. Eine überschaubare Zahl. Man kam wenigstens ab und zu an die Reihe.

„Ciao“, begrüßte sie die anderen.

„Ciao, wie geht’s?“

„Ist Giuseppe noch nicht da?“

„Anscheinend nicht, der Klassenraum ist noch verschlossen“, sagte Angela, eine der jüngeren Frauen in der Runde. Langsam füllte sich der Vorraum immer weiter, bis schließlich alle zwölf Italienisch-Anfänger zusammenstanden.

„Warst du beim Friseur?“, fragte Angela.

„Ja, heute Nachmittag.“

„Sieht gut aus. Tolle Farbe und die freien Ohren, das steht dir!“ Maggie nannte den Namen des Salons.

Die Sekretärin kam aus ihrem Büro.

„Giuseppe hatte auf dem Weg hierher einen Unfall. Nichts Schlimmes, nur ein Blechschaden. Aber die Stunde fällt heute aus.“

Schade. Maggie hatte sich schon ausgemalt, wie Giuseppe auf ihre neue Frisur reagieren würde: „Maggie – due siehste aus dieci Jahre jünger ...!“ Die Italiener waren immer so übertrieben – das amüsierte sie.

Zuhause steckte sie den Schlüssel leise ins Schloss. Karl saß wahrscheinlich über der Steuer und wollte nicht gestört werden. Sie schlich auf Strümpfen in die Küche, setzte Teewasser auf und machte sich auf den Weg nach oben, um sich warme Socken zu holen.

Als sie an Karls Büro vorbeikam, hielt sie kurz inne und lauschte. Nichts. Vielleicht war er eingeschlafen. Sie wollte gerade weitergehen, da dröhnte es plötzlich durch die Tür:

„Hallo Kleines!“

Von wegen, schwerhörig!

„Hallo“, sagte sie.

„Na, wie war dein Tag?“

Wie bitte? Sie hatten doch schon miteinander gesprochen. Maggie setzte zu einer Antwort an, als ein lautes Lachen aus dem Zimmer polterte. „Da musst du mich auch mal mit hinnehmen … Nein, diesen Mittwoch kann ich nicht. Ich habe einen geschäftlichen Termin, den ich unmöglich verschieben kann.“

„Deshalb rufe ich ja an, Kleines.“ Maggie strich mit den Zehen ihres rechten Fußes die Fransen der persischen Brücke, die im Flur lag, gerade, bis alle wieder in eine Richtung zeigten.

„Ja, nein. Es tut mir leid. Wie wär’s stattdessen mit Donnerstag? … Ja? … Fein. Ich hole dich ab … Mach’s gut, Kleines. Nicht traurig sein!“

Kleines?

Das war doch sie.

Klack, der Hörer wurde aufgelegt. Ein fröhliches Pfeifen drang aus dem Zimmer.

Maggie schlich nach oben ins Badezimmer. Sie schloss die Tür von innen ab und setzte sich auf den Wannenrand.

Merkwürdiges Muster, das ihre neuen schwarzen Schuhe auf den weißen Tennissocken hinterlassen hatten. Dünne Wellenlinien, die quer über den Spann liefen. Ob das beim Waschen wieder rausging?

Als sie aufblickte, sprang ihr ein Gesicht im Spiegel entgegen, das sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Knallrote Flecken auf Wangen und Hals, ein Mund, schmal und ausdruckslos wie eine Erdspalte, Augen, für die der Zusatz „Glubsch“ untertrieben wäre. Dazu eine Frisur, die jetzt mehr als lächerlich wirkte. Mit beiden Händen zog Maggie ihr Haar hinter den Ohren hervor und strich es sich ins Gesicht. Zu kurz, zu flott, völlig unangemessen für ihr Alter. Wie hatte sie sich nur dazu überreden lassen können! Und dann diese Strähnchen! „Helles Haar macht jünger, Frau Maggie. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche!“

Eine zweite Erinnerung verdrängte die erste. Wann war es gewesen?

Im Winter vor zwei Jahren? Oder erst letzten Winter? Auf jeden Fall im Winter. Auf der Rückfahrt hatte es geschneit.

Sie waren zum fünfzigsten Geburtstag von Karls ehemaliger

Sekretärin eingeladen. Eigentlich hatte sie sich an diesem

Tag nicht besonders wohlgefühlt, eine Erkältung war im Anflug. Aber Karl bestand darauf, dass sie mitkam.

„Kleines – du bist Frau Nienstetten. Meinst du, ich kreuze da als Einziger alleine auf?“

„Du bist doch gar nicht allein. Du triffst deine alten Kollegen. Ich stehe nur daneben.“

„Ich will nichts mehr hören – zieh dir etwas Schickes an und mach dich zurecht. Um acht müssen wir da sein.“

Er hatte sie unters Kinn gefasst und ihr in die Augen geschaut. „Ich brauch’ dich – das weißt du doch.“

Zwei Stunden später lehnte sie in einer Ecke des riesigen und für Maggies Empfinden viel zu schwarz-weißen Wohnzimmers von Frau Mertens, besser gesagt Fräulein Mertens – Karls Sekretärin hatte nie geheiratet – und nippte an ihrem Weißwein.

Ihr Mann lachte, umrundet von vier oder fünf seiner früheren Mitarbeiter.

Die Mitarbeiter lachten ebenfalls. Es war schon reichlich Alkohol geflossen. Fräulein Mertens steuerte freundlich auf sie zu.

„Frau Nienstetten. Sie stehen hier so allein. Kommen Sie doch zu uns an den Tisch.“ Maggie folgte ihr. Ihr Kopf schmerzte, endlich sitzen. Sie nahm neben einer elegant gekleideten Dame gleichen Alters Platz und schlug die Beine übereinander.

„Guten Abend“, begrüßte sie die Dame. „Ganz schön anstrengend, so ein Haufen alter Haudegen, nicht wahr? Ich heiße Bettina von Bettstein und bin die Frau von Armin von Bettstein. Und Sie?“

„Maggie Nienstetten“, hatte Maggie geantwortet. „Die Frau von Karl Nienstetten.“

Die Dame namens Bettina von Bettstein stutzte für einen Moment. „Dem Karl Nienstetten dort drüben?“

„Genau dem.“

„Ach nein. Dann sind wir uns doch schon mal begegnet, warten Sie mal, so vor etwa zwei Jahren! Beim Italiener – wie hieß er noch gleich? Erinnern Sie sich? Sie saßen mit Ihrem Mann in der Ecke beim Aquarium, als wir reinkamen, und es war ganz deutlich, dass Sie an diesem Abend unter sich bleiben wollten. Ich war fast ein bisschen neidisch, Sie wirkten so, wie soll ich sagen, so liebevoll miteinander. Aber ich muss zugeben, ich hätte Sie nicht wiedererkannt. Waren Sie beim Friseur? Sie waren doch blond!“

Maggie lachte. „Nein, nein, das müssen Sie verwechseln. Ich war schon immer brünett.“

„Tatsächlich? Dann muss ich mich vertan haben. Wir sind so viel unterwegs. Man verliert den Überblick.“

„Das kann passieren. Ich habe auch ein schlechtes Personengedächtnis.“

An dieser Stelle endete die Unterhaltung, denn Frau von Bettstein wurde plötzlich müde. Sie gähnte, verabschiedete sich und zog ihren Mann am Ärmel aus seiner Männerrunde. Ein letzter Blick, ein Lächeln, kurz darauf verließen beide das Fest.

‚Was für eine dämliche Geschichte’, dachte Maggie auf dem Badewannenrand. Die Klinke ging.

„Bist du da drin, Maggie?“

„Ich bin auf der Toilette.“ Sie sprang auf und zog die Spülung.

„Seit wann schließt du ab? Wieso bist du überhaupt zuhause?“

„Der Kurs ist ausgefallen.“

„Warum sagst du keinen Ton, wenn du zurück bist?“

„Ich wollte dich nicht stören. Du warst ja an der Steuer.“

„Sag Bescheid, wenn du fertig bist.“

Karls Schritte entfernten sich. Maggie drehte den Wasserhahn auf, versuchte, ihre glühenden Wangen mit Wasser zu kühlen, bürstete sich das Haar (zwecklos), trug ein wenig Lippenstift auf (etwas besser) und drehte den Schlüssel im Schloss.

„Diese Steuererklärungen machen mich fertig.“

Karl kam mit einer Flasche Rotwein in der linken und dem Korkenzieher in der rechten Hand in die Küche.

„Was das angeht, kostet mich diese freiberufliche Arbeit der letzten Jahre mehr Nerven als 40 Jahre Festanstellung.“

Das heiße Teewasser dampfte in Maggies Tasse mit dem Aufdruck: „Wenn dein Pferd tot ist, steig ab.“

Susanne hatte sie vor Jahren mit nach Hause gebracht, ein Werbegeschenk einer Autofirma.

„Hat jemand angerufen?“, wollte Maggie wissen.

„Niemand.“ Karl entkorkte den Wein.

Maggie schaute ihn an, er lächelte.

„Sehen wir uns den Rest des Krimis an, Kleines“, schlug er vor.

„Ich habe keine Lust mehr auf Steuern. Ach übrigens – ich hab meinen Saunaabend auf Donnerstag verschoben.“

„Hat’s doch noch geklappt.“

„Ja, aber nur mit viel Überredungskunst!“

Am nächsten Morgen erwachte Maggie früh. Sie stand immer vor Karl auf, um das Frühstück vorzubereiten. Aber heute war es besonders früh. Sie schlüpfte in ihre Fellpantoffeln und den chinesischen Morgenmantel, den Karl ihr von einer Dienstreise aus Shanghai mitgebracht hatte, und schlich aus dem Zimmer. Im Wohnzimmer drückte sie den elektrischen Rollladenheber. Das leise Summen des Motors noch im Ohr, setzte sie den Kaffee auf. Träge tröpfelte das Wasser durch den Filter, bevor es kurz vor Ende zischte und gurgelte. Maggie nahm ihren Teebecher vom Vorabend, spülte ihn aus, füllte Kaffee hinein und ging in den Garten. Ein paar Krähen pickten im Rasen. Normalerweise hätte sie in die Hände geklatscht, um die Vögel zu verjagen, aber sie wollte nicht, dass Karl aufwachte. Ein paar der Rosen, die sie erst in diesem Frühjahr an den linken Terrassenrand gepflanzt hatte, ließen die Köpfe hängen. Blattläuse! Sie würde ein neues Ungeziefervernichtungsmittel kaufen müssen. Wo gab’s das kürzlich noch im Angebot? Es wollte ihr nicht einfallen. Sie stellte den Kaffeebecher auf den weißen Gartentisch und ging in den Schuppen hinten im Garten, holte die Rosenschere und begann, die morbiden Blüten abzuschneiden. Ein Dorn ratschte ihr den Zeigefinger auf.

Sie schaute zu, wie das Blut aus der Wunde quoll. „Du hast die schönsten Hände der Welt, Kleines“, hatte Karl früher immer gesagt.

KLEINES!

Hatte sie sich verhört?

Stimmte etwas mit ihrem Kopf nicht? Das sollte es geben. Sie hatte einmal von einer Frau gelesen, die gleichzeitig vier verschiedene Personen war, und keine wusste von der anderen. Aber sie war sich mehr als im Klaren darüber, dass sie es war, die gestern vor Karls Bürotür gestanden hatte. Vielleicht hatte er mit ihrer Tochter Susanne in Amerika gesprochen. Das wäre die Erklärung.

Quatsch! „Ich hole dich Donnerstag ab“ – aus Amerika? Sehr witzig!

Maggie brachte die Gartenschere zurück in den Schuppen und ging ins Haus, um die Wunde zu desinfizieren.

Oben rumorte Karl im Badezimmer. Sie schaute auf die Uhr. Schon halb neun. Eilig steckte sie das Brot in den Toaster und begann, den Tisch zu decken. Karl liebte ein perfektes Frühstück. „Das ist der Grundstein für einen erfolgreichen Tag!“

Früher, als er noch festangestellt gewesen war, hatte er meistens nur hektisch eine Tasse Kaffee hinuntergekippt, sich eine Banane oder einen Apfel geschnappt und weg war er. Aber seitdem er von seinem Managerposten in dem Pharmaunternehmen zurückgetreten war, „um dem Nachwuchs nur noch beratend zur Seite zu stehen, sofern das denn überhaupt erwünscht ist“, wurde das Frühstück im immer gleichen Rhythmus zelebriert. Maggie war für das leibliche Wohl zuständig, und Karl wertete die Tageszeitung aus. In der Regel überließ er ihr den Regionalteil, während er sich den großen Themen Weltpolitik und Wirtschaft widmete. Wenn er auf etwas Besonderes stieß, las er es laut vor. Ansonsten schwiegen sie den längsten Teil des Morgens und genossen die Ruhe, die in ihr Leben eingekehrt war, seitdem die beiden Mädchen aus dem Haus waren. Bevor Maggie nach etwa einer Dreiviertelstunde wieder abräumte, besprachen sie kurz den Tagesplan. Wenn Karl keine Termine hatte, hielt er sich vormittags in seinem Büro auf, um seinen Geschäften nachzugehen: Telefonate führen, Briefe lesen, Rechnungen schreiben. Sagte er zumindest. Maggie glaubte, dass er hauptsächlich Zeitung las. Und warum auch nicht? Er hatte in seinem Leben genug gearbeitet. Sie machte erst die Küche, dann die Betten. Danach putzte sie das Bad. Karl mochte es, wenn jeden Tag frische Handtücher an den Haken hingen und die Becken sauber glänzten. Er hatte viel Zeit seines Managerlebens in Hotels verbracht, und sie wollte nie, dass er sich dort wohler fühlte als zuhause. Was sie anging, so liebte sie ihr Heim und ihren strukturierten Tagesablauf, und es erfüllte sie mit Stolz, wenn sie ihre Haushaltsplanung am Ende des Monats mit Gewinn abschloss.

Nach dem Mittagessen legte sich Maggie in der Regel hin. Das tat sie schon seit 30 Jahren.

„Meine Frau konnte ihr Leben lang mittags einen Schönheitsschlaf halten“, bemerkte Karl manchmal augenzwinkernd. „Deshalb sieht sie auch so gut aus.“ Sie war nie sicher, ob er das ironisch oder liebevoll meinte, aber sie entschied sich für die zweite Option.

Wenn es sich ergab und beide nachmittags zuhause waren, tranken sie zusammen Tee. Donnerstags ging Maggie morgens zur Gymnastik, montags- und freitagvormittags kaufte sie auf dem Wochenmarkt ein. Jeden Mittwoch- und jeden Freitagabend traf sich Karl mit Freunden in der Stadt. Einmal zum Saunen mit anschließendem Essen und einmal zum Schwimmen mit anschließendem Essen. Dann wurde es immer spät, und Maggie schlief schon, wenn er nach Hause kam. Sie selbst ging jeden zweiten Donnerstagabend mit ihrer Freundin Karin ins Theater. Ein Abonnement. Und natürlich zum Italienisch – dienstags.

Heute war Mittwoch, und Karl musste um 10 Uhr bei der Krankengymnastik sein. Er verließ den Frühstückstisch zeitig und verabschiedete sich nach oben zum Toilettengang. Danach würde er sich anziehen – noch 20 Minuten, dann musste er los. Maggie räumte die Lebensmittel zurück in den Kühlschrank. Dabei fiel ihr Blick auf den Hawaii-Toast in Alufolie vom Vorabend. Ihr Magen rumorte, und nachdem sie das Silberpäckchen ein paar Sekunden lang unentschlossen angestarrt hatte, packte sie es und warf es wütend in den Müll. Zum ersten Mal in ihrem Leben warf Maggie etwas Essbares weg.

Karl rief ihr aus dem Flur einen Abschiedsgruß zu und ließ die Tür krachen. Maggie lauschte auf das Surren des Garagentors, dann sprang der Motor an, und das Tor klappte leise wieder zu. Sie setzte sich auf einen Hocker in der Küche und starrte auf die Uhr. ‚Zehn Minuten’, hatte sie sich vorgenommen. Mühsam zuckte der Zeiger von Minute zu Minute. Sieben Minuten ließ sie verstreichen, dann siegte die Ungeduld und sie schlich in den Flur. Leise, als könnte jemand sie hören, öffnete sie die Tür zu Karls Heiligtum, seinem Büro. Hier durften weder die Putzfrau noch sie selbst aufräumen. Nur wenn er persönlich zugegen war, ließ er sie ab und zu mit dem Sauger durchgehen. Doch spätestens nach fünf Minuten störte ihn der Lärm, und Maggie musste aufhören. Als Erstes fielen ihr die Wollmäuse in der vorderen linken Ecke auf. Normalerweise hätten die keine Sekunde überlebt, aber heute hatten sie Glück. Auf Zehenspitzen schlich Maggie zu Karls schwerem Mauser-Schreibtisch. Ein scheußlicher, glänzender schwarzer Klotz, der sich kaum putzen ließ. Jede Berührung hinterließ Spuren auf der gelackten Oberfläche. Karl war der Meinung, sie verstünde nichts von Design und Qualität, aber das war Quatsch. Dieses Ding war einfach nur unpraktisch. Einen Batzen Geld hatte er dafür ausgegeben.

„Lass das meine Sorge sein.“

Klar, Karl war der Finanzminister. Das war schon immer so gewesen.

„Kleines“, hatte er nach ihrem vierten Treffen gesagt. „Wenn du mich heiratest, sorge ich für dich. Mein Leben lang, das verspreche ich dir.“ Dann hatte er sie so feste gedrückt, dass ihr fast die Luft weggeblieben war.

Sie zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Schürzentasche, legte es um den Eingriff der oberen Schublade des Aktenschrankes und zog. Obenauflagen ein paar Zettel. Notizen und Visitenkarten, nichts Besonderes: die Adresse eines Rechtsanwaltes. Das hatte sicher mit der Wohnung ihrer Mutter zu tun. Karl wollte sie verkaufen. Ein Rezept für ein Medikament gegen Sodbrennen, das schon vor über einem Jahr ausgestellt worden war, ein ausgerissener Zeitungsartikel mit der Überschrift „Aus Glück und Leid wird Mäßigkeit“, eine Gebrauchsanleitung für das neue schnurlose Telefon und verschiedene Papierschnitzel, auf denen nichts Nennenswertes notiert war. Maggie platzierte den Stapel in der Reihenfolge, in der sie ihn vorgefunden hatte, auf dem Schreibtisch und nahm die darunterliegende Schicht Papier heraus: ein Block, auf dem nichts geschrieben stand. Maggie hielt die obere Seite schräg gegen das Licht – keine Schrift. Die Aufnahmeerklärung des Sportstudios, dem Karl wegen seines Rückens beigetreten war, eine alte Autozeitschrift, ein Bildkalender mit Schwarzweiß-Motiven aus New York, aus dem Jahr 1986, den Susanne ihrem Vater zu Weihnachten geschenkt hatte. Eines der Bilder (das mit den Arbeitern, die auf einem Gerüst in schwindelerregender Höhe zwischen den Wolkenkratzern Pause machen) hatte Karl gerahmt und in seinem Büro an die Wand gehängt. Darunter noch eine alte Parkscheibe, ein paar leere Klarsichthüllen, belangloser Kram. Sie begann, die Schubladen rückwärts Zettel für Zettel einzuräumen. In den anderen Schubfächern fanden sich Landkarten, Fotos, Gebrauchsanleitungen und Beipackzettel von Medikamenten. Blieben noch die vielen Aktenordner im Regal. Aber auch hier: Fehlanzeige. Nur amtliche Unterlagen, Steuern, Versicherungen, Kaufverträge, Mietverträge. Maggie sackte auf den Schreibtischstuhl, starrte aus dem Fenster und überlegte, wo sie weitersuchen sollte, als sie hinter sich ein Rascheln hörte, das sich in ein leichtes Schaben verwandelte. Sie wollte sich umdrehen, aber die Befehlsleitung vom Gehirn an die Muskeln war blockiert – ihr Nacken war steif und meinte, Karls Hand darauf schon zu spüren, als ein leichter Luftzug das Zimmer durchwehte. „Miau.“

Die Katze sprang vor ihr auf den Schreibtisch. Maggie stieß sich aus dem Stuhl. „Mein Gott, Pucki!“ Sie schrie beinahe. „Wie kannst du mich so erschrecken?“ Die Katze ließ sich genüsslich vor ihr auf dem Schreibtisch nieder, und Maggie sank zurück in den Sessel, bevor ihre Beine versagten. Wie hätte sie Karl das erklären sollen? Die Katze schnurrte, und um sich zu beruhigen, kraulte Maggie ihr mechanisch den Rücken. Pucki räkelte sich vor Wonne über ihr doppeltes Glück: Sie wurde nicht nur gekrault, sie lag auch noch auf dem verbotensten Platz im ganzen Haus. Und als ob sie es nicht fassen könnte, stand sie immer wieder auf, blickte sich kurz um, um sich dann wieder vor Maggie zusammenzurollen. Als sie sich zum dritten Mal erhob, verschob die Katze die lederne braune Schreibunterlage auf dem schwarzen Schreibtisch um ein paar Zentimeter. Ein Zettel lugte hervor, offenbar eine Rechnung. Gedankenverloren las Maggie die unteren Posten. Getränke: 1 Flasche Wasser für 6 DM, 1 Flasche Chianti für 48 DM, einmal Steinbeißerfilet mit Salat für 17,50 DM, ein Rinderfilet mit Steinpilzen für 22,50 DM, eine Zabaione für 6,50 DM und eine Crème Brûlée für 6 DM. Espressi für zusammen 4 DM, darunter die Gesamtsumme von 110,50 DM und ein Restaurantname, den sie noch nie gehört hatte: Da Pasquale.

€3,49

Žanrid ja sildid

Vanusepiirang:
0+
Objętość:
371 lk 2 illustratsiooni
ISBN:
9783949298011
Õiguste omanik:
Bookwire
Allalaadimise formaat:
Tekst, helivorming on saadaval
Keskmine hinnang 4,9, põhineb 60 hinnangul
Mustand
Keskmine hinnang 4,8, põhineb 56 hinnangul
Audio
Keskmine hinnang 3,9, põhineb 12 hinnangul
Audio
Keskmine hinnang 4,7, põhineb 1140 hinnangul
Audio
Keskmine hinnang 4,7, põhineb 37 hinnangul
Tekst, helivorming on saadaval
Keskmine hinnang 4,3, põhineb 307 hinnangul
Tekst, helivorming on saadaval
Keskmine hinnang 4,7, põhineb 623 hinnangul
Audio
Keskmine hinnang 4,9, põhineb 195 hinnangul
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