Wenn Licht die Nacht durchdringt

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Wenn Licht die Nacht durchdringt
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Sandra Andrea Huber

Wenn Licht die Nacht durchdringt

(Teil 2)

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

EPILOG

DANKSAGUNG

ÜBER DIE AUTORIN

FÜHL, WAS DU FÜHLST

HEADLINE: LIEBE

Impressum neobooks

PROLOG


Feine Flocken fielen stumm und bedächtig vom nächtlichen Himmel, verströmten weißen und kalten Frieden auf dem Erdengrund, welcher jedoch getrübt wurde. Von dem Mädchen, das auf dem Rasen des Spielplatzes lag, die Augen geschlossen, rote Schlieren in das unschuldige Weiß des Schnees verströmend. Schlieren aus Blut. Blut, das aus diversen Schnittwunden am Körper und einer großen auf der Wange entwich und das Mädchen zu einer blassen, fast weißen Gestalt werden ließ, die an einen Geist erinnerte.

Aber nur fast, denn auf Haut und Lippen kristallisierten sich blaue Flecken heraus, die die Kälte der Luft, des Bodens und des Schnees deutlich machten und für Farbnuancen auf ihrem weißen Teint sorgten. Der dünne, kaum vorhandene rote Stoff ihres Kleides schützte nicht annähernd vor der Witterung, ebenso wenig wie er ihre Wunden heilen konnte.

Ihre Atmung war flach, der Puls kam und ging äußerst zaghaft. Sie war bewusstlos und sie wartete. Wartete im Schwebezustand zwischen Wachen und Träumen auf jemanden, der kommen und sie retten würde. Wartete auf das magische Blau eines Augenpaars, dessen Blick tief in ihr Herz dringen, sie wärmen und heilen würde.

Doch würde dieser jemand kommen? Würde er sie retten

oder wäre gerade er es, der ihr den Todesstoß versetzte?

Oder, hatte er das womöglich längst getan?

EINS


„Geh mir aus dem Weg“, blaffte Nikolaj einen nach dem anderen an und steuerte in großen und hastigen Schritten auf Merkas Büro zu. „Ich hab gesagt, geh mir aus dem Weg!“ Er rammte jeden beiseite, der ihm in die Quere kam. Egal ob Kunde, Mädchen oder einer von Merkas Handlangern. „Los, verpiss dich!“

RUMS. Er stieß die Tür so energisch auf, dass sie berstend gegen die Wand knallte. Ein paar Schritte, dann stand er vor dem breiten Mahagonischreibtisch, hinter dem Merkas saß.

Der schwarzhaarige Sesant zog den Blick von dem Buch in seinen Händen ab und sah ihn in einer Mischung aus spöttischer Erwartung und unterdrückter Wut an.

„Wo ist sie?! Sie ist hier, hab ich recht?“ Nikolaj stützte seine bebenden Hände auf der Tischplatte ab, ehe er ein zweites Mal, diesmal gepresster und durchdringender, fragte: „Wo – ist – sie?“

Merkas Augen funkelten. Nach einigen stummen Momenten klappte er das Buch zu, nicht ohne seelenruhig, als wäre er allein, die aktuelle Seite zu markieren, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und hob die Stimme. „Sieh mal einer an, wer sich da blicken lässt. Der goldene Ritter, pardon, Ex-Ritter höchstpersönlich. Ich hatte mich schon gefragt, wo du abgeblieben bist. Immerhin warst du es doch, der die unschuldige Schönheit in unsere Welt gebracht hat, oder?“ Er lächelte, dunkel und wissend.

Nikolaj biss sich auf die Zunge, konnte den metallischen Geschmack von Blut in seinem Mund schmecken, der ihn nur noch mehr anstachelte. Mit der flachen Hand schlug er auf das Holz. „WO – IST – SIE?!“

Merkas antwortete nicht.

Er gab ein dunkles Knurren von sich, wand sich um und hastete aus dem Zimmer. Gedämpft nahm er wahr, dass Merkas irgendeinen Befehl abgab und sich Schritte an ihn hängten, nicht von einer einzigen Person, sondern von mehreren.

Er hastete durch die roten, von Neon- und Schwarzlicht beleuchteten Korridore und lief gerade um eine Biegung Richtung der marmornen Treppe, als jemand in ihn hineinlief und ihn leicht nach hinten stieß. Gerade als er, wen auch immer, von sich stoßen und wüst anblaffen wollte, stockte ihm der Atem, sodass jegliche Äußerung in Stummheit erstickte.

Es war Gwen. Das Gesicht kreidebleich, eine Schnittwunde auf der Wange, aus der Blut hervorquoll, die Augen geweitet und seltsam transparent, als wäre sie nur zur Hälfte an diesem Ort. Ohne den Blick zu senken, erkannte er, dass ihr Körper, der in einem aufreizenden Hauch roten Nichts steckte, über und über mit feinen Schnittwunden übersäht war.

Sie stand vor ihm, war verletzt, zitterte und ihr Blick, wie sie ihn ansah. Er glaubte nicht, dass er diesen Moment, diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht je wieder vergessen würde. Noch während er das dachte, zerriss etwas in seinem Inneren - noch mehr, als bereits geschehen. Er fühlte, wie es zerbarst und es ihn schmerzhaft danach verlangte, sich zusammenzukrümmen.

„Nikolaj!“ Merkas Stimme drang widerhallend, die im Hintergrund laufende Musik übertönend, an seine Ohren.

Hastig sah er über seine Schulter. Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil, dann waren seine Gedanken klar. So klar, dass er wusste, was zu tun war.

Er öffnete ein Portal, sah Gwen ein letztes Mal in die Augen, ehe er sie rücklings durch das Portal stieß und nur noch er, der Schmerz in seinem Inneren und Merkas Rufe zurückblieben.

Als Gwen verschwunden war, drehte er sich langsam in die Richtung um, aus der Merkas und seine Männer kamen. Sein Blick durchbohrte den älteren Sensaten voller Hass, obwohl er gleichzeitig durch ihn hindurchsah, weil er nichts richtig sah, außer Gwens Gesicht, das sich auf seine Netzhaut gebrannt hatte.

„Ja, du hast sie hierhergebracht. Und nun bist du auch noch derjenige, der sie wieder fortgebracht hat“, spie Merkas mit bohrendem Unterton aus, während er ein Stück weit vor ihm haltmachte. „Hier“, er tat eine ausladende Geste mit den Armen, „befindest du dich auf meinem Territorium. Sie hat sich auf meinem Territorium befunden. Wann und ob sie wieder von hier fortgeht, liegt bei mir. Einzig bei mir. Daran hättest du denken sollen, bevor du sie in unsere Welt bringst und von der Leine lässt. Oder wolltest du sogar, dass ich sie finde? Du kannst wohl kaum behaupten, du hättest nicht damit gerechnet, dass jemand von uns sie findet, wenn du sie auf unserem Grund und Boden aussetzt, wie ein kleines Hündchen?“

Nikolaj stand schwer atmend, die Hände zu Fäusten geballt, da und sah Merkas an. Sein ganzer Körper bebte, vor Schmerz, Zorn, Entsetzen und Hass. „Was hast du mit ihr gemacht?“, würgte er hervor.

Merkas antwortete nicht. Stattdessen musterte er seinen Mantel und fragte mit zuckenden Mundwinkeln: „Warum bist du so dreckig? Hat sie dich überwältigt? Oder gar K.O. geschlagen?“ Er kostete seine eigenen Worte aus, ehe er fortfuhr. „Was auch immer, wie auch immer. Hol – sie – zurück. Auf der Stelle. Ich war noch nicht fertig mit ihr, aber leider hat eine uns beiden bekannte Blondine mal wieder dazwischengefunkt.“

Ein Muskel an Nikolajs Auge begann zu zucken. Er konnte es nicht unterdrücken. Abermals wiederholte er seine Frage, langsam, mit Nachdruck, so klar und deutlich ihm möglich. „Was – hast – du – mit – ihr – gemacht?“

 

Merkas starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, ehe er sich an einen seiner Männer wandte und ihn anblaffte: „Los, geh nach oben und hol mir Céstine her. Ich will wissen, was sie mit der Kleinen gemacht hat. Immerhin sah sie trotz ihres aufreizenden Outfits nicht wie das blühende Leben aus, so viel ich erkennen konnte.“

Gerade, als der Mann den Fuß auf der ersten Stufe hatte, ließ Merkas seine Hand nach vorne schnellen und umfasste seinen Arm. „Und ich hoffe für dich, dass Céstine mir überzeugend klarmacht, warum du die Kleine ihr überlassen hast. Ich hatte dir gesagt, dass du sie direkt zu mir bringen sollst – was du aber nicht hast. Deinetwegen haben wir nun diesen Schlamassel.“

Der Mann biss die Zähne zusammen, nickte und lief nach oben.

Kopfschüttelnd und bitter grinsend sah Merkas ihm nach. „Dass dieses Weibsbild sich ständig in Sachen einmischen muss, die sie nichts angehen“, sprach er zu niemand bestimmtem. „Ich sollte wirklich mal ein Machtwort sprechen, das sie versteht und ihr dauerhaft im Gedächtnis bleibt.“

Céstine? Sie war bei Gwen gewesen? Ihretwegen hatte sie ausgesehen, wie sie ausgesehen hatte? Nikolaj verlangte danach, die Blondine eigenhändig an den Haaren über den Boden zu schleifen. Er war naiv gewesen, zu glauben, dass sie ihre Finger von Gwen lassen oder sich aus seinen Angelegenheiten heraushalten würde - genauso wenig wie Merkas. Alle standen dicht hinter seinem Rücken, bereit, um hervorzuschnellen und all das zu verschlingen, was ihm gehörte, ihm etwas bedeutete. Weil sie dachten, er wäre ihnen etwas schuldig, hätte kein Recht auf ein Leben, wie er es wollte, weil er einer von ihnen war. Aber er war ja tatsächlich einer von ihnen. Genauso gefährlich und todbringend wie sie. Genauso schlecht für einen Menschen - für Gwen -wie jeder von ihnen.

Er wollte Céstine jeden Knochen brechen, ihr Schmerz zufügen. So lange er dadurch nur für ein paar Sekunden seinen eigenen nicht mehr fühlen musste. Er wollte, dass sie litt. Sie hatte es verdient. Jeder, der hier zugegen war, verdiente den Schmerz - ihn eingeschlossen.

„Bist du jetzt überrascht?“, fragte Merkas mit hochgezogenen Brauen. „Dachtest wohl, ich hätte dein Herz auspeitschen oder aufschlitzen lassen, hm? Nun, ich hatte ehrlich gesagt anderes mit ihr vor. Ich glaube, Schmerzen hast du ihr schon genug zugefügt. So, wie sie drauf war.“ Er grinste boshaft. „Ich hatte mehr daran gedacht, sie mit ein paar netten Kunden zusammenzubringen, sodass sie sich auch mal amüsieren kann. Oder vielleicht hätte ich mein Vorrecht genutzt und sie als erster …“, schmunzelnd verschluckte er die letzten Worte. „Sag ehrlich, mit dir hat sie sich doch nicht wirklich amüsiert, oder? Wenn, dann hast höchstens du dich amüsiert. So, wie du es immer getan hast.“

In Nikolaj kochte es heiß, in jedem Zentimeter seines Körpers. Fünf Sekunden, dann quoll das Feuer aus allen Poren hervor.

Ehe einer von Merkas Männern oder er selbst reagieren konnte, machte er einen hastigen Schritt nach vorne, holte aus und verpasste ihm einen Haken ins Gesicht. Es knackte verdächtig, so, als ob etwas splittern würde. Doch es war ihm egal, ob er ihm Wangenknochen, Kieferknochen oder sonst etwas gebrochen hatte oder brechen würde. Er wollte einfach, dass Merkas den Mund hielt, dass all die Stimmen in ihm verstummten, dass er etwas von seiner Wut und Pein loswerden konnte.

Ehe er ein zweites Mal treffen konnte, schnellten zwei der Männer auf ihn zu, packten ihn unter den Armen und zogen ihn nach hinten, weg von ihrem Boss. Er schlug wild um sich, versuchte die Männer ebenfalls im Gesicht zu erwischen, schabte mit den Fingernägeln über die Hautpartien, die er erwischte und gab dabei knurrende Geräusche von sich.

Merkas hielt sich keuchend den Kiefer und presste schmerzverzehrt hervor: „Du elender Bastard!“ Mit einem bösen Funkeln in den Augen kam er auf ihn zu, hauchte seinen warmen Atem in sein Gesicht, ehe er ausholte und ihm einen kräftigen Schlag in den Magen verpasste, der ihn in die Knie gehen ließ. Die Männer zogen ihn nach oben, sodass er wieder Auge in Auge mit Merkas stand, ehe der ihm einen zweiten Schlag in die Mitte verpasste, der alle Luft aus seinen Lungen und die Galle nach oben trieb.

Diesmal zogen ihn die Männer nicht wieder in die Höhe, doch ließen sie auch nicht von ihm ab. Nachdem er wieder ausreichend Luft hatte, um zu sprechen, presste er angewidert hervor: „Du bist doch der Drecksack! Der Drecksack, der glaubt, jeder müsse nach seiner Nase tanzen!“ Er spukte ihm vor die Füße.

Merkas setzte zu einer zischenden Erwiderung an, doch eine drängende, wie zögernde Stimme unterbrach ihn.

„Boss?“

Alle wandten den Kopf. Auch er sah auf die Treppe, in dessen Mitte der zuvor entsandte Mann verharrte. In den Armen hielt er Céstine. Sie war kalkweiß und wie Gwen von feinen Schnitten gezeichnet, das blonde Haar klebte blutig an ihrem Gesicht und die Schneide eines Messers ragte aus ihrer Brust hervor.

Bei diesem Anblick ächzte ein Teil von ihm, weil er keine Chance mehr bekommen würde, an Céstine Rache zu nehmen. Der andere Teil reagierte mit Entsetzen und einem Schwall von Fragen angesichts der toten Sensatin.

„Was zum …?!“, war alles, was aus Merkas Mund kam. Es war nicht klar zu deuten, was sich in ihm abspielte, welche Emotionen in ihm wallten. Es sah nach tosender Wut aus, die sich langsam, Stück für Stück, in bohrendem Hass empor steigerte. Doch da war noch etwas anderes, das nicht eindeutig zu beschreiben war. Es sah merkwürdig aus, so, als ob es sich fälschlicherweise auf Merkas Gesicht verirrt hätte.

Auch Nikolaj selbst versuchte zu erfassen, was dieser Anblick zu bedeuten hatte. Warum Céstine tot war. Was zwischen ihr und Gwen passiert war. Konnte ein Kampf tatsächlich in dieser Form geendet haben? Mit Gwen als Siegerin und Céstine als Verliererin? Hatte Gwen Céstine getötet, um ihr eigenes Leben zu retten – sie töten müssen? Was war passiert?

Nach einigen regungslosen und stummen Sekunden aller Anwesenden gab Merkas plötzlich einen Schrei von sich, der ein grollendes Knurren enthielt. Dann kam er auf ihn zugehastet. „DU …!“ Seine Stimme bebte vor Hass. „Du hast dieses Miststück hergebracht! Das Miststück hat sie umgebracht! Auf meinem Territorium! Eine von uns!“ Sein ganzer Körper bebte, er sah aus, als würde er jeden Moment Amok laufen und alles auseinandernehmen oder aufschlitzen, was sich in seiner Nähe befand. „Ich werde sie töten!“ Seine Nasenlöcher blähten sich. „Ich werde sie langsam und qualvoll zur Strecke bringen – und danach, wenn du mir dabei zugesehen hast, bist du an der Reihe! Wo hast du sie hingebracht?! Spuck es aus, so lange du noch reden kannst! WOHIN HAST DU SIE GEBRACHT?!“ Er griff ihm in den Nacken, zog ihn nach vorne und presste seinen Mund an sein Ohr: „WOHIN?!“ Es war kein Flüstern, keine Frage, sondern das Versprechen zweier Morde.

Ruckartig zog Nikolaj den Kopf nach hinten, schnellte nach vorne und verpasste Merkas eine Kopfnuss. Die Arme wie Schwerter windend schlug er um sich, schleuderte die zwei Männer von sich, tat ein paar Schritte weg von dem Knäuel und sprang durch das flirrende Portal in die Menschenwelt.

ZWEI


Es war dunkel. Überall um Gwen herum. Es gab keine Lichtquelle, keine Bewegung oder Regung, keine einzige andere Person. Endlos lange und ausufernde Schwärze um, über und unter ihr. Nur sie, das Wissen um sich selbst als existierendes Wesen und ihre Gedanken waren vorhanden.

Doch irgendwann – vielleicht nach einer Ewigkeit, nach einem Leben oder zweien? – gab es plötzlich mehr als Dunkelheit, Schwärze, Gedanken und dem Gefühl für ihre Existenz. Sie konnte die Grenzen einer Form - eines Körpers? - spüren.

Ja, sie besaß einen Körper. Es war noch immer dunkel, aber sie wusste nun ganz sicher, dass sie einen Körper besaß, dass sie mehr war, als nur Gedanken und fliegende Existenz. Das Mehr, dieser Körper, fühlte sich schwer und müde an, von den Zehenspitzen bis zum Haaransatz. Wobei sie jedoch nicht mit absoluter Gewissheit sagen konnte, wo diese beiden Punkte lagen oder wie weit sie voneinander entfernt waren. Aber sie spürte deutlich einen Anfang und ein Ende. Ein Brennen zog sich über einige Partien, welches sie an heißes, loderndes Feuer denken ließ. Gleich darauf schoss ihr das Bild eines blitzenden und scharfen Messers durch den Sinn und ließ Geschmack und Geruch von Kupfer in ihren Mund aufgehen.

Allmählich konnte sie auch Geräusche wahrnehmen. Ein gedämpftes Surren und ein regelmäßig piepsendes Geräusch. Nach einigem Surren und Piepsen erkannte sie, dass das rhythmische Geräusch gleichzeitig mit ihrem Pulsschlag kam, ihren Herzschlag laut imitierte.

Langsam kroch ihr ein spitzer Duft in die Nase. Ähnlich wie ein steriles Putzmittel, begleitet von einigen weiteren Nuancen, die merkwürdig aber zeitgleich sehr vertraut rochen. Sie kannte diesen Geruch und wenn sie ihn kannte, dann musste sie irgendwo sein, wo sie schon einmal gewesen war. Das wiederum hieß, dass sie sich in Sicherheit befand. Aber … wovor? Warum dachte sie an Sicherheit? An Sicherheit dachte man nur dann, wenn es etwas gab, vor dem man sich fürchtete, etwas, das Gefahr bedeutete.

Fühlen, Hören, Riechen, Schmecken … fehlte nur noch das Sehen. Sie flackerte mit dem Lidern und versuchte sie nach oben zu schieben.

Mit einem Mal kam die Welt – oder sie – zurück und ließ das Dunkel vergehen. Ehe sie die Augen wieder zugekniffen hatte, um das Licht langsam aufzunehmen, legte sich ein Schatten über ihr Gesicht. Sie sah nach oben und erkannte das Gesicht eines älteren Mannes, das über einem weißen Kittel hervorragte. Sie wollte sich bemerkbar machen, etwas sagen, sich bewegen, doch ehe sie etwas davon tun konnte, umfasste der Mann sanft ihre Schulter und hielt sie fest.

„Ganz ruhig, es ist alles in Ordnung. Sie sind in einem Krankenhaus. Sie waren verletzt, aber wir haben ihre Wunden versorgt. Möglicherweise sind sie noch leicht benommen, das hat auch mit den Medikamenten zu tun, aber das geht vorbei. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Er hielt kurz inne und lächelte sie warm an, während er mit einer kleinen Lampe in ihre Augen leuchtete und ihren Pupillenreflex testete. „Wissen Sie, wie Sie heißen? Sie trugen keine Papiere bei sich und der junge Mann, der Sie gefunden hat, konnte uns leider nicht sagen, wer Sie sind. Er glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben, aber wie Sie heißen, wo Sie wohnen oder arbeiten, wusste er nicht.“

Während er den jungen Mann erwähnt hatte, war sein Blick kurz über seine Schulter in die hintere Ecke des Zimmers geflogen. Gwen ließ ihre Augen ebenfalls dorthin wandern und fühlte sogleich wie sich eine eisige Starre in ihrem Körper ausbreitete. Dort auf dem Stuhl saß Nikolaj. Die Arme vor der Brust verschränkt erwiderte er ihren Blick mit ausdrucksloser Miene und ohne jede Regung.

Ihr Puls samt dem piepsenden Geräusch begann zu rasen, sodass der Arzt einen prüfenden Blick auf den Monitor warf. „Ist alles in Ordnung? Kennen Sie diesen Mann?“ Er warf abermals einen Blick Richtung Nikolaj, der den Blick des Arztes ebenso starr wie zuvor bei ihr erwiderte.

„Vielleicht sehe ich aus wie jemand, den Sie kennt“, erwiderte er Achselzuckend und monoton.

Wie jemand, den sie kennt. Was sollte das heißen? Was machte er hier? Hatte er sie hierhergebracht? Hatte sie es sich doch nicht nur eingebildet? Das blauschwarze Augenpaar über ihr?

Wie jemand, den sie kennt. Was hatte das zu bedeuten?

„Können Sie sich daran erinnern, was passiert ist?“, fragte der Arzt nun wieder an sie gewandt. „Wissen Sie, wie Sie heißen? Dann könnten wir Ihre Familie anrufen, Freunde, Ihren Freund oder Ehemann.“

In Gwens Kopf lief alles drunter und drüber. Ob sie wusste, wie sie hieß? Ja. Ob sie wusste, warum sie hier war? Auch das wusste sie. Nicht in allen Einzelheiten, doch so präsent, dass es sie zu schütteln begann und ihren Herzschlag schneller trieb. Sie hatte nicht all das getan, was sie getan hatte, um nun am Ende doch noch ihre Mutter oder sonst jemanden der sie kannte in die Sache hineinzuziehen. Und „die Sache“ war noch nicht ausgestanden, das wusste sie mit Gewissheit. Sie war sich so sicher, dass ihr übel wurde. „Nein, ich … kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich weiß nicht, wer … wie ich heiße.“

 

Der Arzt runzelte die Stirn. „Und diesen Mann kennen Sie wirklich nicht? Warum sind Sie so erschrocken, als Sie ihn gesehen haben? Kommt Ihnen irgendetwas an ihm bekannt vor?“ Seine Stimme klang nun ernst und enthielt die Spur von Wachsamkeit, die Väter oder Autoritätspersonen an den Tag legten, wenn sie eine Lüge oder Ausflucht vermuteten.

„Nein, ich, kenne ihn wirklich nicht.“ Es war nicht mal eine richtige Lüge, wie sie sich eingestehen musste. Sie wusste nicht, wer er war. Nicht mehr. „Ich kann Ihnen nicht sagen, warum ich erschrocken bin. Vielleicht, weil ich bis dahin nicht gemerkt hatte, dass noch jemand außer Ihnen hier im Raum ist.“

„Er hat Sie gefunden, nachts, auf einem Spielplatz. Sie hatten nur ein dünnes, kurzes“, er hielt kurz inne und verzog die Lippen, „Kleid an und waren mit Schnittwunden übersäht. Die Wunde an Ihrer Wange ist am tiefsten und wie es scheint, haben Sie auch eine Kopfverletzung. Obendrein waren Sie ziemlich unterkühlt als er hier mit Ihnen aufgetaucht ist.“ Der Arzt musterte sie, ihre Reaktion und ihre Augen.

Gwen bemühte sich keinerlei Ausdruck in ihre Miene und Stimme zu legen. „Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, was passiert ist. Aber, wenn ich allein und verletzt war, dann ist es ein großes Glück, dass mich jemand gefunden hat. Dass … dieser Mann mich gefunden hat.“ Sie biss sich leicht auf die Zunge. „Damit hat er mir wohl das Leben gerettet.“ Das war womöglich die Wahrheit. Dennoch empfand sie nicht nur Dankbarkeit, sondern auch ein dumpfes Gefühl, das sie nicht einordnen konnte. Sie vermochte überhaupt nicht recht zu greifen, was sie empfand. Weder den vergangenen Ereignissen, der aktuellen Situation noch Nikolaj gegenüber. Ganz besonders nicht Nikolaj gegenüber. Es war das erste Mal, dass sie ihn wiedersah, nachdem er ihr eröffnet hatte, dass er ihren Vater umgebracht hatte. Wenn man die kurzweilige und stumme Begegnung im Marofláge nicht mitzählte – und das tat sie nicht.

„Soll ich Ihnen vielleicht etwas zur Beruhigung geben? Sie scheinen immer noch sehr aufgewühlt“, sagte der Arzt und deutete auf den Monitor.

„Nein, ich brauche kein Sedativum.“ Sie biss sich abermals auf die Zunge. Mit Fachbegriffen zu jonglieren sorgte nicht unbedingt dafür, ihre Aussage, sich an nichts erinnern zu können, zu kräftigen. „Ich meine … ich sollte vermutlich einfach ein bisschen schlafen. Alleine, wenn das möglich ist.“

„Natürlich ist das möglich“, erwiderte der Arzt nach ein paar Sekunden. „Ich habe dem jungen Mann nur erlaubt hier zu bleiben, weil niemand von Ihren Angehörigen hier war und er wissen wollte, ob Sie in Ordnung sind. Er meinte, da er Sie gefunden hat, würde er bleiben wollen, bis Sie aufwachen. Immerhin sei er nun in die Sache mitverwickelt.“

In die Sache mitverwickelt.

Gwen spürte, dass ihr Tränen in die Augen trieben und versuchte sie wegzublinzeln. „Das kann ich … verstehen. Vielen Dank“, presste sie an Nikolaj gewandt hervor, ehe sie wieder den Arzt ansah. „Aber jetzt wäre ich wirklich gerne alleine. Ich bin müde und ziemlich wirr im Kopf.“

Der Arzt ging auf die Zimmertür zu und nickte Nikolaj auffordernd zu. „Kommen Sie, lassen wir der jungen Dame ihre verdiente Ruhe.“

Nikolaj stand nicht gleich auf. Er zögerte, das konnte sie erkennen. Nicht an seinem Gesicht, das immer noch ausdruckslos war, doch an seiner Körpersprache.

„Würden Sie …?“, setzte der Arzt abermals an und ließ das Satzende bedeutungsschwer in der Luft hängen.

Langsam, immer noch zögernd, erhob sich Nikolaj vom Stuhl und folgte dem Mann langsam nach draußen. Nicht ohne ihr nochmals einen Blick zuzuwerfen, der immer noch nicht mehr enthielt als leeres und stummes Nichts.

* * *

Nikolaj verfolgte mit rasendem Herzschlag, wie Gwen langsam zu sich kam. Er verhakte die Füße ineinander und verschränkte die Arme vor der Brust, so fest, dass es fast wehtat, nur um nicht hochzuschrecken und an ihr Bett zu treten. So viel Gefühlsregung konnte er sich nicht erlauben. Zum einen, weil er Gwen offiziell nicht kannte, sie nur gefunden hatte und zum anderen, weil er es nicht ertragen konnte, zur Gänze zu empfinden, was er empfand.

So beobachtete er aus einigen Metern Entfernung, wie sie die Augen aufschlug, der Arzt ruhig auf sie einredete, ihn erwähnte und er schließlich in Gwens erschrockenen Blick geriet. Er erwiderte ihn, doch legte er keinerlei Ausdruck in sein Gesicht.

Während der Arzt abermals auf sie einredete, presste er seine Arme noch dichter an seine Brust und musste unwillkürlich an das Bild denken, das sich ihm geboten hatte, als er sie gefunden hatte.

Keuchend kam er auf Händen und Knien auf. Der Stoff seiner Hose zog kühle Nässe auf, seine Handflächen pochten gegen die weiße Kälte an, die sich auf dem Grund ausgebreitet hatte und seine Haut berührte. Es stach, doch war die Kälte gleichsam beruhigender Balsam für seine aufgeschürften und bebenden Hände. Er gab sich noch ein paar Sekunden, dann erhob er sich und sah sich schwer atmend um.

Er entdeckte sie sofort. Entdeckte die zierliche, in spärlichen und dünnen Stoff gekleidete Gestalt, die dort im weißen Schnee lag, wie ein roter Schneeengel oder ein blutender Geist. Hellrot das Kleid, weiß ihre Haut, feurig rot das Blut, das über ihre – aus ihrer – Haut sickerte. In seinem Kopf überschlugen sich laute, schrille, leise und flüsternde Stimmen, die ihn auslachten, zum Teufel wünschten, lobten, ermunterten, anstachelten.

Er lief auf Gwen zu, blieb dicht vor ihr stehen, war sich bewusst, dass sie sofort zu einem Arzt musste, wusste aber dennoch nicht, ob er sie anfassen konnte, sie bewegen sollte. Der Gedanke, sie sei tot oder würde es womöglich bald sein, bohrte sich wie eine brennend heiße Klinge in seine Brust und zerfetzte sein Herz. Doch weit schlimmer, gnadenloser und schmerzender loderte ein weiterer Gedanke in ihm: Es war seine Schuld. Dies hier war seine Schuld. Alles war seine Schuld.

Er zog sich den Mantel vom Leib, ließ sich auf die Knie sinken und legte ihn über Gwen. Dann führte er drängend und so vorsichtig wie möglich seine Hände unter ihren Rücken und ihre Kniekehlen und hob sie hoch. Fieberhaft versuchte er gegen das Stimmengewirr und das Inferno in seiner Brust anzudenken, sich dagegenzustemmen.

Wo sollte er sie hinbringen? Wo war sie sicher?

Angestrengt dachte er darüber nach, wo sich das nächstgelegene Krankenhaus befand, verwarf den Gedanken aber recht schnell, da auch Merkas es im Zuge seiner Schnüffeleien kennen könnte. Er brauchte dringend ein Krankenhaus. Aber wo? Welches?

Er kannte eine Stadt, eine Stelle, von der nicht weit entfernt ein Krankenhaus lag. Er würde die Strecke so schnell ihm möglich zu Fuß zurücklegen und sie dorthin bringen. Er war sich ziemlich sicher, dass Merkas von seinem einstigen Aufenthalt in dieser Stadt nichts gewusst hatte und auch heute nichts wusste. Ja, dort konnte er sie hinbringen.

Er sammelte und konzentrierte sich, öffnete ein Portal und trat durch die flirrende Luft.

Nikolaj drängte die Erinnerungen von sich und schüttelte sich leicht, ging jedoch schnell wieder zu einer ausdrucks- und regungslosen Erscheinung über.

Als der Arzt einen Moment später neben ihm stand und ihn aufforderte, zusammen mit ihm das Zimmer zu verlassen, musste er sich zusammenreißen, ehe er aufstehen und ihm nachfolgen konnte.