Seewölfe - Piraten der Weltmeere 638

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 638
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Impressum

© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-96688-052-7

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Sean Beaufort

Küste der Mörder

Sie wissen von der Goldladung – die Kaperer kennen kein Erbarmen

Nobles Moya, der Stückmeister, galt an Bord als Halbverrückter, dem man sich besser nicht näherte, wenn er wütend war. Jetzt beherrschten Unruhe und Gespanntheit jede seiner Bewegungen. Mit einem trockenen Lappen, einem Gemisch aus feinem Sand und irgendeiner Seife polierte er das Geschützrohr. Die überlange Culverine glänzte schon jetzt wie dunkles Gold.

„Mittlerweile haben wir die schönsten Geschütze von ganz Portugal“, sagte der Erste grinsend. „Wenn wir nur etwas vor die Mündungen kriegen würden.“

Nobles, ein erstklassiger Artillerist, stieß einen Fluch aus. Dann erwiderte er: „Engländer, Pfeffersäcke oder Spanier – einen werden wir packen.“

Er hob den Kopf, peilte entlang des Rohres, und plötzlich erstarrte er. Er glaubte, an der Kimm die eckigen Segel einer Galeone erkannt zu haben. Segelte dort die erwartete Beute – direkt auf die Mündungen der Geschütze zu?

Die Hauptpersonen des Romans:

Alvarez Santillan – der Capitán der „Nobleza“ beschließt, bei Nacht und Nebel den Konvoi zu verlassen.

Lobo Gomez – der Koch der „Nobleza“ befürchtet deren Untergang und sorgt dafür, ihn zu überleben.

Martim Vitoria – ist als Kapitän der „O Fim do Mundo“ im Geschäft der Piraterie tätig und lauert auf sein nächstes Opfer.

Philip Hasard Killigrew – muß mit Verdrossenheit feststellen, daß nicht alle Schäfchen im Konvoi folgsam sind.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

Zehn größere Inseln, ein paar Riffe, etliche tödlich gefährliche Untiefen und eine Handvoll einsamer Felsbrocken, auf denen nur Seevögel nisteten – das waren die Islas do Cabo Verde, die Kapverdischen Inseln im Westen des nordafrikanischen Kontinentblocks.

Santo Anão im Westen, São Tiago im Südosten und Sal im Nordosten – verband ein Navigator die äußersten Kaps dieser drei Inseln, dann ergaben die Linien ein spitzes Dreieck, dessen untere Fläche nach Westen zu deuten schien, zum südamerikanischen Kontinent hinüber.

Drehende Winde, schnelle und reißende Strömungen, aber auch zahllose schützende Buchten mit gutem Ankergrund kennzeichneten die Inseln ebenso wie schroffe Berggipfel und schrundige Felswände, an denen die Brandungswogen sich donnernd und gischtend brachen und zerstäubten. Das Gebiet der Kapverdischen Inseln war kein schlechter Platz, wenn es galt, auf eine lohnende Beute zu lauern.

Die „O Fim do Mundo“ stampfte in Lee von São Vicente und versuchte, die Insel im Norden zu runden. Ihr Ziel war die Passage zwischen São Vicente und Santo Anão, der Insel mit dem rund dreitausend Fuß hohen Berg. Santa Luzia lag achteraus.

„Schlaft nicht ein, ihr Faulpelze!“ schrie Afonso do Sul, der Erste. „Es ist noch zu früh für die Freiwache.“

„Schon gut“, brummte Nobles Moya, der Stückmeister, verdrossen.

Die Hälfte der Crew versuchte mürrisch und ohne Begeisterung, innenbords der portugiesischen Galeone aufzuklaren und ein paar der aufdringlichsten Ratten totzuschlagen und über Bord zu werfen. Aber die Biester waren so flink wie die beiden zuletzt aufgetauchten Schiffe, die sich der Verfolgung durch eine noch schnellere Flucht entzogen hatten.

Capitao Martim Vitoria hatte seine Befehle gegeben, und die Kerle taten wenigstens so, als würden sie hart arbeiten. Der Stückmeister hörte nicht auf, seine Rohre zu polieren, als könne er durch Schönheit sicherstellen, daß jeder Schuß auch ein Treffer wurde.

Afonso do Sul zog das Spektiv aus der Rocktasche und enterte den Niedergang zum Achterdeck auf. Schweigend und mit angehaltenem Atem, in den Knien das harte Stampfen der Galeone abfedernd, suchte er die Kimm ab. Am Horizont türmten sich Regenwolken. Das runde Bild tanzte und zitterte, und die jagenden Vögel, die vor den Linsen und dem angeblichen Ziel vorbeiflatterten, täuschten das Auge des Offiziers.

Er sah Wellenkämme, ein paar Möwen, die im Wasser schaukelten, Wolkenfetzen, aber keine Segel. Mit größter Sorgfalt wiederholte er seinen Versuch, die angeblich prallen Segel zu erkennen. Die Kimm war leer, und er mußte warten, bis die mächtige Silhouette der Insel kein Hindernis mehr darstellte.

„He, Nobles!“ schrie der hinunter zur Kuhl.

Der Stückmeister hob den Kopf und grinste.

„Fette Beute, wie?“ rief Nobles und fuhr durch sein strähniges, schwarzes Haar.

Do Sul schüttelte energisch den Kopf. „Nichts zu erkennen. Warten wir, bis wir im Süden der großen Insel sind.“

„Klar, Senhor.“

Mitunter sah einer der portugiesischen Seeleute tatsächlich ein, daß etwas mehr Sauberkeit weder ihm noch dem Schiff schaden könnte. Pützen voll Seewasser wurden an Deck gehievt und weitergegeben. Die Lenzpumpe arbeitete keuchend und spie einen dicken Strahl unbeschreiblich übel stinkender Flüssigkeit aus der Bilge außenbords. Aus der Kochstelle brodelten Rauch und ein anziehender Geruch, der das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

Der Kapitän wandte sich an den Ersten. „Nichts zu sehen, Afonso?“

„Absolut nichts. Die Insel, Kapitän. In zwei Stunden haben wir freie Sicht.“

„Ist gut. Wir versäumen nichts.“

In Ribeira Brava hatten sie Wasser und Proviant gebunkert. Wenn es sein mußte, pullten sie mit der Jolle an Land und fingen Kleinwild in Schlingen. An Proviant brauchten sie nicht zu sparen, die meisten Weinfässer aus dem letzten Überfall waren noch voll.

Aber Kapitän, Offiziere und Crew des Kaperers träumten von einem größeren Fang. Vom größten Fang, den sie je vor den Mündungen ihrer funkelnden Geschütze gehabt hatten.

Genau fünfzig Mann segelten auf der „O Fim do Mundo“. Nicht einmal der Kapitän hatte herausfinden können, warum die kleine, dickbauchige Galeone ausgerechnet „Das Ende der Welt“ getauft worden war. Niemand wußte auch, aus welchem Grund die Galionsfigur ein Fabelwesen darstellte: eine Bestie, zusammengesetzt aus Pantherpranken, einem Tintenfischleib und einem böse blickenden Frauenkopf. Es war ein gutes, tüchtiges Schiff, das bei den Kaperfahrten manche tiefe Schramme davongetragen hatte.

„Ein Strich nach Steuerbord abfallen“, ordnete der Kapitän an.

Der Rudergänger am Kolderstock bestätigte.

Im Gewirr der Inseln gab es viele gute Schlupfwinkel und Verstecke. Ein Kapitän, der dieses Gewässer kannte und seine eigenen Karten ständig verbesserte, war jedem anderen überlegen. Seit zwei Monaten lag die Galeone hier auf der Lauer, aber bisher hatten sich die Träume vom Reichtum und Goldregen noch nicht erfüllt. Langsam wurden die Männer ungeduldig.

Wieder einmal hatte sich gezeigt, daß der Wunsch, womöglich ein spanisches Schatzschiff zu sichten, der Vater bestimmter Gedanken gewesen war. Aber vielleicht zeigte sich doch ein Schiff an der Kimm, wenn die Insel halb gerundet war.

Wieder ertönte das Glasen. Der Wind fing sich, wurde vom Landmassiv der Insel umgelenkt und packte die Galeone von achtern. An Backbord zog die Felsküste an der Galeone vorbei, ein Stück menschenleere Insel, von scharfkantigen Riffen gesäumt. Ein breiter Brandungsgürtel erstreckte sich vor den steil abfallenden Felsen.

Hunderte von Vogelnestern klebten an den Spalten und Simsen. Das Geschrei der Vögel war meistens lauter als das Donnern der Brandung. Hin und wieder hob einer der Kerle den Kopf über das Schanzkleid und peilte hinüber zu den abweisenden Felsen.

Die „O Fim do Mundo“ hielt sich frei von den Felsen und Riffen. Der Kapitän kannte das Revier und hütete sich davor, das Schiff auch nur annähernd in die Gefahr zu bringen, auf Legerwall zu geraten.

Wieder schwenkte Afonso do Sul langsam das Spektiv herum.

„Siehst du etwas? Außer Möwen, meine ich?“ fragte Kapitän Vitoria mürrisch. „Die Stimmung ist nicht gerade überschäumend.“

„Sie werden laut und begeistert zu schreien anfangen“, erwiderte der Erste halblaut, ohne das Spektiv vom Auge zu nehmen, „sobald das nächste Schiff auftaucht.“

„Und? Taucht eins auf?“

„Sieht schlecht aus, Kapitän.“

Do Sul hob hilflos einen Arm. Er setzte das Linsenrohr wieder ab. Auch er wußte, daß sie an der denkbar besten Stelle lauerten. Aber die Inseln konnten nur der Schlupfwinkel sein. Wenn sie einen anderen Kurs absetzen würden, stieg die Wahrscheinlichkeit des Erfolges. Sie hatten schon oft darüber gesprochen. Aber noch verdeckte die Insel einen Teil des westlichen Sektors.

 

„Also doch nach Norden? Wir haben Proviant und Wasser für Wochen.“

Martim Vitoria war schon fast entschlossen, das Kommando zur Kursänderung zu geben. Er wartete nur noch auf einen Hinweis, einen Anstoß. Sein Gesicht war ebenso mürrisch wie die Stimmung der Crew.

„Wenn du meinen Rat haben willst, Kapitän“, sagte der Erste, „dann ist es wohl das Beste.“

„Wir haben die richtige Jahreszeit. Die Monate, in denen die Silberkonvois segeln“, brummte Vitoria und schob seinen schweißdurchtränkten, salzverkrusteten Hut ins Genick. Seine Hakennase sprang kühn vor wie der Schnabel eines Habichts. „Zeigen wir’s den überheblichen spanischen Dons, wie?“

„In einer halben Stunde kannst du sicher sein, Martim“, erwiderte der Offizier.

Das portugiesische Kaperschiff und seine Crew kannten die Kapverdischen Inseln und das Seegebiet bis hinauf zum nördlichsten Kap ihrer Heimat so gut wie das Innere ihrer Seekisten. Vor knapp einem Jahr war ihnen die letzte, wirklich wertvolle Beute vor die Geschützmündungen gesegelt. Mittlerweile war davon fast nichts mehr übrig. Es war allerhöchste Zeit für das nächste, „zufällige“ Treffen.

„Einverstanden. Beim nächsten Glasen entscheide ich“, sagte schließlich der Kapitän.

„Du wirst schon richtig entscheiden“, meinte der Erste tröstend.

„Oder auch nicht.“

Die Galeone kämpfte sich weiter durch kurze, harte Atlantikwellen. Die felsige Küste der Insel änderte ihr Aussehen. Einige Buchten und saftige grüne Hänge zeigten sich. Die Kerle betrachteten sie ohne Interesse. Es dauerte nicht lange, dann lag die gesamte Kimm vor der Galeone. Zum zehnten Male suchten zuerst der Kapitän, dann sein Erster die schier endlose Wasserfläche ab.

„Nichts“, sagte Martim schließlich. Er blieb auf dem Quarterdeck stehen, hielt sich mit der linken Hand an einem Ende fest, das in ganzen Schlägen am Besanmast belegt war, und rief zur Kuhl: „Klar zum Halsen – und auf Kurs nach Cabo de São Vicente.“

„Jawohl, Kapitän!“ tönte aus einem Dutzend Kehlen die Antwort. Auch der Rudergänger schrie sein „Verstanden“.

„Aber nicht so weit, hoffentlich.“

„Das will ich meinen“, erwiderte der Kapitän. „Wenn wir in ein paar Tagen nichts einfangen, geht es wieder zurück zu den Islas.“

„Gut so.“

Die Männer schrien wild durcheinander, während sie zu den Schoten und Brassen eilten. Schwerfällig drehte sich die Galeone nach Steuerbord, legte weit über und gehorchte schließlich wieder dem Ruder.

Der Stückmeister warf den feuchten Lappen auf die Planken, stemmte die Fäuste in die Seiten und hob ratlos die Schultern.

„Zu was halte ich eigentlich die Waffen hier in Ordnung? Ich schufte wie ein Galeerensträfling, und weit und breit ist kein Ziel. Was sagt ihr dazu, he?“

„Ich verspreche dir noch in diesem Jahr einen guten Schuß. Oder besser: ein großes Ziel.“

„Das Ziel sollte sich beeilen“, sagte Nobles Moya grimmig. „Aber ganz verdammt soll es sich beeilen.“

Nach Norden mußte die „O Fim do Mundo“ in weiten Schlägen kreuzen, hinaus auf die offene See und in Richtung auf die Küste von Cabo Bojador zurück. Marokko wurde von der scherifischen Dynastie regiert, und auch die Moslems hatten ihre Kaperschiffe, ihre Piraten und bewaffneten Händler.

Die Mannschaft des Schiffes bestand nur aus Portugiesen, aber die Männer, die von Silberschiffen abgemustert hatten, aus, der Neuen Welt kamen oder in den Häfen Portugals geschuftet hatten, wurden durch zahllose Kämpfe und Enterunternehmen zusammengehalten. Sie glaubten an den großen Reichtum, der auf See wartete. Ihr Revier befand sich zwischen Portugal, den Islas Canarias und den Kapverdischen Inseln.

Von der marokkanischen Küste hatten sie nichts zu befürchten. Aber ihre Ungeduld wuchs, und das erzeugte böse Stimmung an Bord.

Böse Stimmung, Nachlässigkeit, schlechte Laune – und wenn jetzt auch noch die erträumte und ersehnte Beute ausblieb, gab es mehr Streit auf der Galeone, als Kapitän Martim Vitoria lieb sein konnte.

„Und was ist los auf den Kanaren?“ wollte der Erste wissen. „Gehen wir an Land?“

„Wird sich zeigen“, erwiderte der Kapitän. „Alles ist unwichtig. Nur das nächste Schiff, das wir sehen, zählt. Und daß es tief im Wasser liegt.“

„Da hast du recht.“

Auch eine Stunde später, als die „O Fim do Mundo“ den weitesten Punkt des Schlages nach Nordwesten erreicht hatte und auf den anderen Bug ging, suchten der Kapitän und Faleiro, der Zweite Offizier, die Kimm nach einem Segel ab. Aber selbst in der Nacht, als sie ohne gesetzte Lichter – wie fast immer – wieder auf Nordkurs segelten, konnten sie keine fremden Lichter außer den Sternen und dem Mond erkennen.

2.

Kapitän Alvarez Santillan zwirbelte seinen Bart und wartete geduldig, bis sich die kleine Galeone wieder aufrichtete. Dann tunkte er den Federkiel in die Tinte und schrieb weiter auf den stockfleckigen Seiten des Logbuchs.

… vermute nicht nur ich eine Falle. Mir scheint jeder Teil des Vorhabens sinnlos und verdächtig zu sein. Seit wir vom Tod des Königs hörten, ist die Ordnung der Welt aus den Fugen. Jedenfalls ist es für mich und meine Offiziere eine gespenstische Vorstellung, nach Irland zu segeln. Ausgerechnet nach Irland, Englands Nachbarn.

Die „Nobleza“ mit fünfunddreißig Mann Besatzung war kein großes Schiff. Sie befand sich im letzten Drittel des weit auseinandergezogenen Konvois. Es war eine ziemlich ruhige Nacht mit gleichmäßigem Wind aus dem südlichen Sektor.

Noch haben wir unseren Entschluß nicht gefaßt. Es wird auch nicht einfach werden, den Konvoi zu verlassen, denn alle sind wachsam. Am mißtrauischsten ist jener Capitán Julio de Vilches auf seiner schnellen, gut bewaffneten Schebecke. Wo ist die „Casco de la Cruz“ geblieben? Was halten unsere spanischen Behörden von dem ungewöhnlichen Kurs?

Unser Ziel sollte Gibraltar sein.

Aber die Nacht und der helle Tag sind unserem Vorhaben nicht dienlich. Es dauert sicher noch einige Tage, bis wir alle einig sind und wissen, was zu tun ist. Unser Gewissen muß sauber bleiben, denn es geht letzten Endes um unsere Ladung. Sie ist von unschätzbarem Wert.

Sorgfältig verschloß der Kapitän das Tintengefäß und legte den Federkiel in das Fach des Schreibzeugs zurück. Während er wartete, daß die Tinte eintrocknete, zog er den Korken aus dem Krug und goß unverdünnten, hellbraunen Rum in einen Becher. Er lehnte sich im Stuhl zurück und las das Geschriebene noch einmal. Dann klappte er das Logbuch zu und schob es in das Fach über dem Schreibbrett.

An der Tür ertönte ein dreifaches Pochen.

„Ja?“

„Olinda, Señor. Darf ich eintreten?“

„Bitte sehr, Paolo.“

Der weißhaarige Zweite Offizier trat ein und bückte sich unter dem Decksbalken. Die schmale Kapitänskammer zwang ihn, sich auf den Rand der Koje zu setzen.

Er nahm einen langen Schluck aus dem kleinen Tonkrug und sagte: „An Bord alles ruhig und klar, Don Alvarez.“

„Gut so. Und was verschafft mir die Ehre und das Vergnügen deines nächtlichen Besuchs?“

Paolo Olinda grinste unbehaglich und fuhr über sein struppiges Barthaar. Das kratzende Geräusch erinnerte ihn daran, daß er sich spätestens nach der nächsten Wache rasieren wollte.

„Gemeinsame Sorgen, Don Alvarez.“

„Das kannst du ruhig lauter sagen“, antwortete der Kapitän. „Du denkst auch an eine Falle?“

„Falle oder Absonderlichkeit“, erwiderte der Offizier. „Wir sollten mit der ‚Nobleza‘ ganz einfach dorthin segeln, wohin wir immer gesegelt sind. Punktum. Nach Gibraltar nämlich. Mit gefällt’s einfach nicht.“

„Also“, fing der Kapitän nach einer kleinen Pause an, in der sie ihren Rum über die Lippen und die Zunge rinnen ließen, „wenn ich mich richtig umgehört habe – und meine Ohren sind noch scharf genug – dann ist keiner von uns fünfunddreißig stolzen Spaniern mit dieser Entwicklung zufrieden. Die Mannschaft weiß allerdings nichts von unseren Überlegungen.“

„Sie braucht es auch noch nicht zu erfahren“, murmelte der Zweite Offizier.

„Wenn wir in den nächsten drei Tagen dem Konvoi entwischen können“, sagte der Kapitän, und er hatte dabei die Karte vor seinem inneren Auge, „dann ist wohl Südkurs angesagt.“

„Stimmt. Zur Küste im Norden Afrikas. Und dann hinauf nach Norden nach Gibraltar, den Säulen des Herkules.“

„Also müßten wir uns binnen zwei, drei Tagen entscheiden?“

„Genau das müßten wir tun“, stimmte der Zweite zu. „Zumindest für die nächsten zwei Wachen sollte der Wind unverändert aus Süden stehen.“

„Obwohl, in der Nacht …“ Der Kapitän ließ den Satz unbeendet.

„Nicht heute. Auf keinen Fall.“

Der Kapitän dachte schweigend nach. Die kleine Mannschaft, von der das Schiff für die lange Überfahrt sachkundig vorbereitet, überholt und ausgerüstet worden war, würde mit einer befehlsartigen Entscheidung nicht ohne weiteres einverstanden sein. Auf einem kleineren Schiff wie der „Nobleza“ brauchte der Kapitän jeden Mann und jede Hand.

Es war sinnlos und gefährdete das Schiff, wenn Befehle womöglich mit Waffengewalt erzwungen werden mußten. Die Zeiten waren mehr als unsicher, und wenn die Ladung der „Nobleza“ und deren Wert bekannt war, würde man nicht nur diese Galeone hetzen, solange sie sich nicht in einem sicheren spanischen Hafen befand.

„Nein. Ganz bestimmt nicht heute nacht“, erwiderte Don Alvarez Santillan und goß beide Becher wieder voll. „Wir reden noch darüber.“

Keiner glaubte so recht daran, daß König Philipp der Dritte den seltsamen Befehl gegeben hatte, Irland anzusteuern, auch nicht, daß das alles geheimgehalten werden sollte. Die merkwürdigen Schiffe, die den Konvoi begleiteten, riefen in den Offizieren und bei den Kapitänen ebenso ein deutliches Gefühl der Unruhe und des Unglaubens hervor.

„Ja. Wir müssen noch darüber sprechen“, wiederholte der Zweite Offizier und stierte in den Becher.

Auf den ersten Blick schien alles in Ordnung zu sein.

Die „Respeto“, die ihre Position abermals geändert hatte, zog nicht mehr die Schleppe grauen Rauches hinter sich her. Der Konvoi segelte weiterhin auf Nordkurs und war weit auseinandergezogen. Zwischen den grauen, tiefhängenden Wolken blitzte immer wieder die Sonne durch oder brannte mit breiten, schrägen Balken auf das Meer hinunter.

Die Schebecke der Seewölfe segelte in Luv des Konvois. Noch immer hielten sie gut den Kurs nach Norden. Die ersten, sorgenvollen Blicke zeigten dem Seewolf die einzelnen Schiffe des Konvois und glücklicherweise keinen Fremden, der in ihrer Nähe nichts zu suchen gehabt hätte.

„Obwohl ich ein wahres Bild des Friedens und der Ruhe sehe“, bemerkte Kapitän Philip Hasard Killigrew schließlich zu Don Juan de Alcazar, „werde ich den Eindruck nicht los, daß schwarzes Unheil in den Rümpfen der Galeonen ebenso nistet wie in den Hirnen ihrer Kapitäne.“

Don Juan gestattete sich ein überaus herzliches Grinsen, nickte mehrmals und bekräftigte den Eindruck, den der Seewolf hatte.

„Ich weiß nicht, aus welchen Anzeichen du dies erkennst, aber ich bin deiner Meinung. Wir haben wohl ein wenig zu dick aufgetragen, nicht wahr, Señor Capitán?“

„Wir waren jedenfalls nicht schüchtern“, meinte Hasard.

Die Seewölfecrew befand sich bis auf den Kutscher und Mac Pellew an Deck. Jetzt, im Oktober, und weit von der heißen Sonne und dem warmen Wasser der Karibik entfernt, trugen die meisten ihre Segeltuchjacken und die Stiefel.

„Im Verlauf unseres löblichen Vorhabens“, Don Juan grinste anzüglich, „werden wir auch weiterhin nicht zurückhaltend sein dürfen.“

Sie beide kannten das Risiko.

Außer ihnen dachten natürlich auch die Seewölfe über den großen Raid und die Schatzgaleonen nach. Die Distanz, die günstigstenfalls vor dem Konvoi lag, war riesengroß. Auf dem langen Weg konnte alles mögliche passieren – und vieles würde geschehen, das sie sich jetzt noch nicht vorstellen konnten.

Don Juan hob die Schultern und meinte nach einer Weile: „Im Augenblick sind es wahrscheinlich die Schiffe, die dich beschäftigen. Du traust den Spaniern nicht, den Kapitänen, meine ich.“

„Eigentlich traue ich niemandem“, erwiderte der Seewolf in sachlichem Tonfall. „Ich rechne damit, daß wenigstens der eine oder andere Kapitän den Befehlen nicht glaubt, die ein gewisser Capitán Julio de Vilches ausgegeben hat.“

„Damit sollten wir rechnen“, erklärte der Spanier ruhig. „Aber bis jetzt segeln noch alle Galeonen den befohlenen Kurs.“

 

„Noch. Aber wie lange noch?“ Hasard lachte sarkastisch. Falsche Selbstsicherheit war nicht sein Fall.

„Diese Frage kann keiner beantworten“, erwiderte Don Juan. „Fast unaufhaltsam scheinen wir uns den grünen Hügeln Irlands zu nähern.“

Hasard führte eine seltsame Geste aus. „Unaufhaltsam. Ha!“

Aber Don Juan hatte recht. Der Schiffsverband war vollzählig und lief auf Nordkurs. Der Schwelbrand war gelöscht, und niemand gab Signale, die Gefahren oder Ärger andeuteten. Der Seewolf rechnete wirklich mit Zwischenfällen aller Art, aber er war eisern entschlossen, den Konvoi über Irland nach England zu bringen.

„Abwarten“, schlug Don Juan vor.

„Etwas anderes scheidet gegenwärtig ohnehin aus.“ Damit schloß Hasard das Thema für diese erste Hälfte des Tages ab. Er wandte sich an den Rudergänger und sagte: „Kurs halten, so lange wie möglich.“

„Aye, aye, Sir.“

Seitlich des Schiffsverbandes, der mehr oder weniger in Kiellinie, aber mit großen Abständen zwischen den einzelnen Galeonen segelte, arbeiteten sich die Schebecke, die „Isabella“ und die „Wappen von Kolberg“ durch die Wellen des Atlantiks.

In rund zwei Seemeilen Entfernung hob die „Fortuna“ ihren Bug und senkte ihn wieder in die aufspritzenden Wellen. Die fleckigen Segel waren straff gefüllt. Alle Schiffe waren mit guter Fahrt unterwegs. Zwei Meilen hinter der „Fortuna“ erkannten die drei bärtigen Männer, die in schweigende Gedanken versunken waren, den Rumpf der „Honestidad“. An Steuerbord dieser Galeone segelte die Schebecke. Der Himmel über dem Atlantik war von dünnem, hochliegendem Nebel bedeckt, zwischen dem sich dunkle Wolken abzeichneten. Sie trieben in unaufhörlicher Folge von Westen nach Osten.

Der Wind, der die Galeonen vorwärtstrieb, wehte dicht über dem Ozean aus Süden. Mühelos hielten die Schatzgaleonen den Nordkurs. Auch in den zurückliegenden Stunden hatte es keine Zwischenfälle gegeben.

Gil Garcilasco, der Erste Offizier, hustete, spuckte nach Lee und umklammerte den Handlauf der Heckgalerie. Hinter ihm knirschte die Tür der Kapitänskammer in ihren Angeln.

„Mit Verlaub, Kapitän, aber ich bin nicht dafür, in dieses gottverlassene Land zu segeln. Irland! Dort sind schon die Schiffe der Armada gestrandet, und man hat unsere Leute mit stumpfen Äxten erschlagen. Ich sage, daß wir nach Spanien segeln sollten Basta! Punktum!“

Er war aufgeregt, normalerweise sprach er wenig. Solche langen Sätze sagte er nur selten. Heute war ein solcher Tag.

„Gut. Ich habe verstanden. Ich bin dergleichen Meinung“, erklärte Kapitän Santillan mürrisch. „Dieser Julio de Vilches hat mich nicht überzeugt. Aber unsere Meinung kann auch falsch sein. Schließlich geht es um viel Gold, Silber, seltene Steine und nicht zuletzt um unsere brave ‚Nobleza‘, nicht wahr?“

„Und um unser Leben, denke ich“, unterstützte ihn Paolo Olinda, der Zweite. „Madre de dio. Welch ein Durcheinander!“

Mit ihrer kleinen, alten Galeone waren sie alle verwachsen. Fünfunddreißig Männer, von denen ein jeder die lange Fahrt zwischen den beiden Kontinenten schon oft überlebt hatte.

Der Kapitän wischte sein strähniges, graues Haar aus der Stirn und spürte den salzigen Geschmack der Wassertröpfchen auf seinen Lippen.

„Wir drei sind also einer Meinung?“ fragte er und legte bedeutungsvolle Schwere in seine Worte. „Unwiderruflich?“

„Nach Spanien“, bestätigte der Erste. „Nicht wahr, Paolo?“

„Jawohl. In einen spanischen Hafen, den wir kennen.“

Sie waren sicher, daß die Nachricht vom Tod des Königs zutraf. Daß dieser Herrscher wie viele andere das Land hatte verkommen lassen und im Grund ein König der Armut war, störte sie nicht in jenem Maß, daß sie ihm und dem Land untreu werden würden. Sie liebten ihre Heimat, und das Gold war wichtig für Spanien.

„Ich trage unseren Entschluß ins Logbuch ein“, sagte Kapitän Santillan. „Ihr wißt, daß wir wegen Befehlsverweigerung angeklagt werden können?“

„Weiß ich“, knurrte Gil.

„Kein Richter, der nüchtern und gottgläubig ist, wird uns deswegen verurteilen, weil wir nach Spanien, statt nach Irland gesegelt sind“, fügte Paolo Olinda hinzu.

„Ich fürchte keinen Richter“, murmelte der Kapitän.

Unter ihnen gurgelte und schäumte die Heckwelle der Galeone. Aus dem Wasser sprudelten Blasen an die Oberfläche und zerplatzten im Schaum der dunkelgrünen Wellen. Eine lange Strecke hinter dem bauchigen Heck der Galeone zeichneten sich die auseinanderstrebenden Schaumstreifen, dazwischen das ruhigere Wasser, deutlich ab.

Der Kapitän und die beiden Offiziere waren einer Meinung. Es galt jetzt, knapp drei Dutzend Seeleute von der Richtigkeit dieses Entschlusses zu überzeugen.

„Wen hast du als Rudergänger für die nächsten Wachen eingeteilt?“ fragte Santillan und knöpfte sein Wams zu.

„Coleto, Fuero, Javier und Salas“, erwiderte der Erste. „In dieser Reihenfolge.“

„Hm. Scheinen zuverlässige Burschen zu sein. Wer steht jetzt am Ruder?“

„Salas. Er wird von Coleto beim übernächsten Glasen abgelöst.“

Santillan legte Garcilasco in einer freundschaftlichen Geste die Hand auf die Schulter.

„Sind die Kerle verschwiegen?“ fragte er, anscheinend in düstere Melancholie versunken.

„Weißt du selbst, Capitán. Vor dem Mast, wenn die Seeleute nicht schlafen, wird viel geredet. Aber ich kann mir nicht denken, daß unsere Spanier davon begeistert sind, in einem irischen Hafen darauf zu warten, daß neue Befehle eintreffen. Aber ich lege für wenige Männer die Hand ins Feuer.“

Nachdenklich nickte Alvarez Santillan. Die Enden seines ergrauten Schnurrbartes hingen traurig abwärts. Zwischen den Zähnen murmelte er einen Fluch.

„Wenn ich befehle, gehorchen sie“, meinte er schließlich. „Aber keiner kann Ärger an Bord gebrauchen. Wie bringen wir es fertig, sie zu überzeugen?“

„Dreißig Männer und ein paar mehr – das sind dreißig verschiedene Meinungen“, erwiderte der Erste.

„Unsinn. Es gibt nur zwei Möglichkeiten.“

„Du sagst es, Paolo“, stimmte der Erste Offizier zu. „Entweder Spanien oder Irland.“

„Entweder das oder jenes“, sagte der Kapitän und wußte spätestens ab jetzt, daß ein geplantes heimliches Verschwinden seine Schwierigkeiten hatte. Wenn sie bei Nacht aus dem Verband ausscherten, würde man sie jagen und zurückzubringen versuchen.

Halb trotzig, halb selbstbewußt sagte er: „Bei der ersten besten Gelegenheit legen wir einen neuen Kurs an. Wir segeln nach Gibraltar.“

„Einverstanden“, erklärte Gil Garcilasco.

„Ich stimme ebenfalls zu“, sagte Paolo Olinda, „und schlage vor, wir sprechen mit demjenigen Rudergänger, der in der richtigen Stunde am Ruder steht.“

„Wer auch immer es dann ist.“

„Wir warten auf den günstigen Augenblick, Señores“, ordnete der Kapitän an. „Wenn ich schlafe, weckt mich einer von euch. Alles klar?“

„Jawohl, Señor Capitán.“

Die drei blickten sich schweigend und keineswegs glücklich an. In ihren Gesichtern standen Zweifel und Unsicherheit. Aber in einem Punkt waren sie absolut sicher: ihr Ziel lag vielleicht nicht unbedingt in Gibraltar, aber auf keinen Fall an den felsigen und wenig gastlichen Küsten der irischen Insel.

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