Loe raamatut: «Unser Haus dem Himmel so nah»

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Inhalt

1  Cover

2  Widmung

3  Abendgesellschaften

4  Bagdad-Bahnhof al-Notoraki

5  Der Mädchenpalast

6  Ein Spross Karmelheims

7  Enge Korridore

8  Orangenträume

9  Russisch Roulette

10  Das Salz der Piraten

11  Der Ritter von Yorkshire-Castle

12  Kamikaze

13  Impressum

Meinem Vater,

Iyyad, Dima

und Muslish

Abendgesellschaften

Am 28. April 1947, einem Montag, erlebte Aleppo einen strahlenden Frühlingstag. Die Sonne spendete trotz der dichten weißen Wolkendecke schon so viel Wärme, dass viele ihre Angelegenheiten für diesen Nachmittag ruhen ließen und in den Grünflächen am Fluss spazieren gingen, dort, wo Jahre später nach dem Vorbild der Gärten von Versailles der berühmteste öffentliche Park des Orients entstehen sollte.

Am Nordufer, im Herzen der Stadt, lag das Viertel Azizieh, und dort, wo man zum Bahnhof abbog, stach die elegante Villa aus roséfarbenem Aleppo-Stein des Rechtsanwalts Bahdjat al-Haffar hervor, von deren Balkon aus man den Park überblicken konnte.

Noch zwei Stunden blieb der Aprilhimmel den Spaziergängern gewogen, dann blitzte und donnerte er los. Gerade als es aus den Wolken zu schütten begann, klingelte Bahdjat Beys Telefon. Seine Frau Madiha Hanim betrat mit zwei Tassen Kaffee und einem Glas Wasser auf einem Tablett sowie einer kleinen Vase, in der zwei schneeweiße Jasminblüten standen, das Zimmer. Ihr Mann legte auf. Alle Zuversicht war aus seinem Gesicht gewichen. Er wartete, bis sie Platz genommen und den Kaffee abgestellt hatte. Zuerst nahm er einen Schluck, dann sie: »Mach dich und die Kinder bereit, wir fahren nach Damaskus!«, sagte er nüchtern.

Madiha Hanim geriet in Aufregung, bewahrte jedoch die Fassung. Sie hatte schon mehrere Tage mit einer solchen Nachricht gerechnet. Seit ihr Mann seine politische Laufbahn angetreten hatte, war sie auf Notfälle gefasst.

Das Jahr 1946 war für das Leben der Syrer ziemlich chaotisch gewesen, und es sollte auch in den folgenden Jahren so bleiben. Mehrere Mitglieder des Nationalen Blocks hatten sich abgespalten und die Volkspartei gegründet, während die Verbliebenen den Namen »Nationaler Block« für ihre Partei behielten. Die Volkspartei wurde von einem Zusammenschluss wohlhabender Bürger unterstützt, an vorderster Front Nazim al-Qudsi und Ruschdi al-Kichya, die aus persönlichem Interesse für eine Wirtschaftsunion mit dem Irak plädierten. Obwohl Aleppo, die Geburtsstadt von Bahdjat Bey, eine Hochburg seiner Partei war, hatte er sich der Union deutlich entgegengestellt und in Kauf genommen, dass sich die Parteibasis, wie auch ihre Führer von ihm abwendeten. Vielleicht gingen die Reaktionen sogar über eine Ächtung und den Beziehungsabbruch hinaus, jedenfalls hatte er beschlossen, Aleppo deshalb zu verlassen und mit seiner Familie in Damaskus zu leben, bis sich die Parteienlandschaft in Syrien wieder stabilisiert hatte.

Kaum hatte sich Bahdjat Bey in Damaskus eingerichtet, gingen seine alten Freunde aus Aleppo, hohe Regierungsbeamte, Politiker und Professoren der Syrischen Universität, in seinem Haus ein und aus. Sie suchten dort den lebendigen Geist ihrer Stadt und fanden ihn in Unterhaltungen und Diskussionen, die sich in erster Linie um Politik und die Kochkunst drehten. Denn, was Geschmack, Können und Vielfalt betraf, waren sich die Aleppiner ausnahmsweise über die weltweite Einmaligkeit ihrer Küche einig.

Vorrausschauend hatte Bahdjat Bey ein geräumiges, freistehendes Haus gekauft. Es lag an der neuen Verbindungsstraße zwischen den alten Damaszener Vierteln Muhadjirin und Salihiye und führte mitten durch das Viertel Abu Rummana, am Mausoleum des unbekannten wohltätigen Heiligen vorbei. Dort hatte der Legende nach vor langer Zeit ein Granatapfelbaum, auf Arabisch »Rummana«, Schatten gespendet und dem Viertel seinen Namen gegeben. Später, als die französischen Streitkräfte abzogen, nannte man das Viertel zwar in Scharia l-Djalaa um, also: »Straße des Abzugs«, doch, wie so oft, hielten die meisten an dem gewohnten Namen fest.

Bahdjat Bey kam nach Damaskus, als das staatliche Rundfunkhaus gerade seinen Betrieb aufnahm. Und in dem angegliederten Musikinstitut hatte sein Freund, der Scheich Umar al-Batsch, seine Dozentenstelle für die Kunst des arabisch-andalusischen Strophengedichts, die »Muwaschschaha«, angetreten.

Scheich Umar al-Batsch kannte mehr als tausend Muwaschschahas auswendig und hatte einige später sehr berühmte Strophen vertont, an denen der große ägyptische Musiker Sayed Darwisch gescheitert war. Außerdem hatte Umar al-Batsch den Samah-Tanz studiert und ihn aus dem Derwischkloster geholt und im Musiktheater etabliert. Im Haus von Bahdschat Bey wurde Umar al-Batsch zum häufig gesehenen Gast. Dank seines Genies ließ sich der Geist ihres alten Freundeskreises in Aleppo erwecken. Umar al-Batsch nahm dann wie früher vor den Freunden Platz, im Arm seine kostbare Oud, die ihm der syrische Gouverneur Cemal Pascha als Kind geschenkt hatte, stimmte sie und begann zu singen.

Wann immer bei diesen Abendgesellschaften, die an jedem Donnerstag bei Bahdschat Bey stattfanden, ein neuer Gast zu begrüßen war, forderte der Hausherr seinen Freund auf, eine bestimmte Anekdote über den Sänger Muhammad Abd al-Wahab zu erzählen. Dann begann Umar al-Batsch, den roten türkischen Tarbusch auf dem Kopf, aber in einem europäischen Anzug, mit seiner melodischen Stimme, wobei er stets besonderen Wert auf die Betonung des arabischen Buchstaben »Gim« legte:

»Im Jahre 1934 besuchte Muhammad Abd al-Wahab Syrien und gab Konzerte in Aleppo und Damaskus. Als er zu seinem ersten Konzert in unserer Stadt kam, stutzte er, denn der Saal war fast leer. Höchstens zehn, zwanzig Zuhörer hatten sich eingefunden. Unwillig begann er zu singen, denn er war es gewohnt, vor großem Publikum aufzutreten. Trotzdem sang er wunderbar. Nachher versammelten wir uns um ihn und erklärten zu seinem Erstaunen, dass er die Prüfung bestanden habe. Bei seinem nächsten Konzert werde der Saal vor Kunstliebhabern förmlich aus den Nähten platzen.

Diese Prüfung verzieh uns Abd al-Wahab nicht, und als wir ihn daraufhin zum tatsächlichen Konzert einluden, wo er seine Meisterwerke vor echtem Publikum vortragen sollte, bat er Scheich Ali Darwisch und mich in aller Öffentlichkeit, auf der Oud eine Muwaschschaha nur im Maqam Sikah vorzutragen. Alle waren erstaunt über diese Bitte, denn keine Muwaschschaha konnte nur im Maqam Sikah vorgetragen werden, man musste die Maqams Sikah und Chuzam, wie sie bei den Arabern heißt, beziehungsweise Hüzzam, wie die Türken sie nennen, abwechseln. Eine reine Sikah Komposition ist fast unmöglich. Tapfer akzeptierte ich die Aufgabe und prahlte:

›Aber gern! Kommen Sie morgen Abend ins Konzert, dann werden Sie so etwas von uns hören!‹

Nach dem Konzert machte mir Scheich Ali Darwisch heftige Vorwürfe wegen meiner Prahlerei: ›Du weißt doch genau, dass sich zu einer reinen Sikah Tonfolge keine Muwaschschaha schreiben lässt, warum also hast du uns das angetan?‹

›Wäre es nicht beschämend, wenn Abd al-Wahab in Aleppo kein Wunder erlebte?‹

Die ganze Nacht war ich aufgeblieben und hatte sogar zwei Muwaschschahas geschrieben, die ganz ohne den Wechsel zur Chuzam auskamen. Am nächsten Tag bestellte ich zwei Chöre zu mir, die meine Muwaschschahas einübten und schließlich ganz wunderbar sangen. Abd al-Wahab aber war überwältigt, als hätte er erst an jenem Abend das Komponieren erlernt.«

An diesen überschwänglich fröhlichen, nur von politischen Sorgen getrübten Abenden saß in einem kleinen, an den Hauptsaal angrenzenden Zimmer ein fünfjähriges Mädchen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern und lauschte dem Gesang. Immer wieder sprang die Kleine von ihrem Platz auf, lief zur Tür, um zuzusehen, oder begann unbemerkt zu tanzen.

Dieselbe Kleine lernte später die Oud zu spielen und tanzte mit ihren Freundinnen bei der Jahresfeier ihrer Schule, der Dawhat-al-Adab, einen Samah auf der Bühne. Sie wurde von allen bewundert, als sie Ibn Zaiduns berühmteste Muwaschschaha »Ich ging nicht fort aus Hass, mein Schatz« anstimmte, die Scheich Umar al-Batsch vertont hatte, und erntete herzlichen Applaus für ihre von kindlicher Unschuld geprägte Stimme.

Aus dieser Kleinen mit dem rosa Band im blonden Haar und den weißen Söckchen wurde Frau Schahira al-Haffar. Heute war ihre Beerdigung.

*

Ich saß im Transitraum und wartete darauf, das Gate zum Flugzeug passieren zu dürfen. In der Zwischenzeit beobachtete ich durch die Glasscheibe das unablässige Kommen und Gehen der Angestellten und Fluggäste. Für einen unbeschwerten Beobachter sind Reisende ein ganz besonderes Vergnügen. Wenn die Menschen vorübergehend befreit sind aus dem Gravitationsfeld der Welten, denen sie sonst angehören, verhalten sie sich spontaner und verstellen sich weniger. Die meisten machen sich hier bereit für den Beginn einer neuen Geschichte, denn Flughäfen sind ein Trittbrett für Geschichten. Für uns Syrer gilt dies vielleicht ganz besonders. Allein die Tatsache, den letzten Schalter einer Passkontrolle passieren zu dürfen, bestätigt, dass wir bei keiner geheimdienstlichen, nationalen oder internationalen Stelle auf der Fahndungsliste stehen, und wir halten erleichtert das Dokument der Wiedergeburt in den Händen. Dieses Gefühl bleibt keinem von uns erspart, nicht einmal denen, die im Leben kein einziges Wort über Politik verloren haben, denn wir alle rechnen ständig damit, dem Geheimdienst in die Fänge zu geraten, und sei es auch nur aufgrund einer Namensverwechslung.

Als der Bodensteward erklärte, das Gate sei geöffnet, ging ich mit vier anderen zum Schalter der ersten Klasse, um mich dort anzustellen. Dabei passte ich meine Schritte dem gelassenen Gang des Mannes vor mir an. Nachdem unsere Reisepässe kontrolliert worden waren, sah ich sein Gesicht, das erschöpft und resigniert wirkte. Er war vielleicht in den Fünfzigern, mit heller Haut und hellem Haar, mittelgroß und recht schlank. In seinen Bluejeans, dem schwarzen Hemd und den schleifenlosen schwarzen Turnschuhen wirkte er auf ungezwungene und natürliche Weise elegant. Als ich schließlich meinen Platz fand, saß er bereits auf dem Sitz neben meinem.

Ich war nicht in der Stimmung, mich für irgendjemandes Gesellschaft zu begeistern, denn ich war noch ganz erfüllt von meinen erfolgreichen und schönen Tagen in Tunesien, wo ich all die Menschen getroffen hatte, mit denen ich gerne Zeit verbrachte. Im Süden des Landes, in der Küstenstadt Gabès, hatten wir uns zu dem Kongress »Arabische Jugend und kulturelle Entwicklung« getroffen und an den Abenden viel zusammen gelacht, was ich nach Monaten des Elends, die sich wie Jahre angefühlt hatten, dringend gebraucht hatte. Es war mein erster Kongress, seit ich Syrien wegen der Unruhen und des Krieges verlassen hatte.

Mein Sitznachbar begrüßte mich höflich, sogar ein wenig freundschaftlich, als würde er mich wiedererkennen und hätte mir etwas zu sagen. Die ruhigen Minuten während der Vorbereitung auf den Start verbrachte jeder von uns noch auf seiner Insel. Dann jedoch war es soweit, ein Augenblick der Anspannung für alle, egal wie oft sie schon geflogen sind, und genau der Moment, der die Menschen einander näherbringt. Er drehte sich zu mir, sah mich zwei- oder dreimal prüfend an und platzte schließlich heraus:

»Meine Mutter ist heute gestorben, ich bin auf dem Weg zu ihrer Beerdigung.«

Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen, aber man kann ja nicht immer alles tun, was man möchte. Trotzdem hielt ich ihm beinahe während des ganzen Starts die Hand.

Nachdem ich seine Hand wieder losgelassen hatte, stellte er sich vor: »Nasser al-Amiri, Experte für Klima und Aridität.«

Hm … was wusste ich über Wetter und Unwetter? Über Geografie war mir nur bekannt, dass Edward Said gesagt haben soll, die Geografie sei unser erster Feind.

Was mir dennoch half, Zugang zu seiner Welt zu finden, war ein Kongress an der Jordanischen Universität zu Gesundheitswissenschaften, Wirtschaft und Bildung, an dem ich teilgenommen hatte.

Lebensberater empfehlen immer: »Gib dem Zufall so oft wie möglich eine Chance! Besuche Kongresse, die sonst niemand besucht, lies Bücher, die sonst niemand liest, sprich mit Leuten, mit denen sonst niemand spricht, und vertraue auf das, was das Glück dir bringen mag!« Deshalb hatte ich, während die anderen zu den Vorträgen über Wirtschaft und Bildung strömten, den Klimawandel als Schwerpunkt gewählt. Den ersten Vortrag hielt der indische Professor Mana Sifa Kumar, und ich beschloss, alle seine Referate zu hören, von zehn Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags. Äußerst interessant fand ich seine Abhandlung über die kleinen Klimasünden, die wir täglich unbewusst und achtlos begehen, die sich in ihrer Summe aber zu Naturkatastrophen auswachsen. Wir aßen zusammen zu Mittag. und er wunderte sich, dass ich einen Schwerpunkt besuchte, der meinem Fachgebiet auf den ersten Blick so fern lag. Am nächsten Nachmittag holte ich ihn vom Hotel ab und begleitete ihn zu einer Tour durch die Altstadt Ammans und zum römischen Amphitheater. Bei Habiba aßen wir Kunafa und auf dem Balkon des Jafra inmitten der alten Lokale tranken wir unseren Kaffee. Sifa Kumar erklärte mir, der Schlüssel zur Lösung der Klimaprobleme liege im Bereich meines und nicht etwa seines Fachgebiets, in der Kultur nämlich, nicht in der allgemeinen Geografie. Deshalb müsse man die Einstellung der Menschen im Umgang mit Ressourcen verändern und sich ihren Problemen zuwenden, und nicht geheime Botschaften an Wolken, Winde und Wellen senden …

Vielleicht war dieser Tag voller Geografie ein Probelauf, den mir das Schicksal gegeben hatte, um auf die Begegnung mit Doktor Nasser al-Amiri und seine persönliche Lebensreise vorbereitet zu sein.

*

Unser Flugzeug landete schließlich auf dem Queen Alia International Airport in Amman. Während des Transitflugs über Istanbul erfuhr ich, dass Nasser an der University of California in Santa Barbara studiert hatte, dass er von seiner amerikanischen Frau geschieden war und drei Kinder hatte, zwei Söhne, die ebenfalls dort studierten, und eine Tochter, die bei ihrer am Vortag verstorbenen Großmutter in Amman lebte, oder gelebt hatte. Die Großmutter sei eine »Schamiya«, Syrerin, gewesen, erzählte Nasser und verwendete die weibliche Form des bei Palästinensern und Jordaniern für einen Syrer gebräuchlichen Wortes »Schami«. Sie sei aus Aleppo, aus der dort bekannten Familie al-Haffar. Er selbst arbeite zurzeit am Zentrum für die Entwicklung von Trockengebieten in Abu Dhabi. Ich sann über diese Einzelheiten nach und dachte dabei an das Mädchen, Nassers Tochter, die bei ihrer Oma gelebt hatte. Was würde aus ihr werden? Ihre Situation machte mich traurig, doch Nasser riss mich aus meinen Gedanken:

»Lebst du auch getrennt?«

Ich war überrascht. Sah man mir das an, oder war etwa ein Wunsch der Vater des Gedankens? Diese Frage war, um auf die Sprache der Geografen zurückzugreifen, maßstabsgetreu. Obwohl sie in ihrem Umfang begrenzt war, verriet sie den tatsächlichen Umfang des Raums, den wir in den Köpfen anderer Menschen einnehmen.

Wie unter reifen Menschen üblich, die sich und den anderen richtig einschätzen und etwas mehr als eine flüchtige Beziehung erhoffen, stellte auch ich mich mit knappen Worten vor.

»Djuman Badran, Doktor der Kulturanthropologie aus Syrien, ich lebe in Amman und arbeite zurzeit bei der niederländischen Organisation ›Solidarität‹. Nein, nicht getrennt, sondern noch nie verheiratet. Es ist jetzt übrigens fünf Jahre her, dass ich denselben Verlust erlitten habe wie Sie. Es hat damals sehr wehgetan, überall, doch glauben Sie mir, Doktor Nasser, dieses große Unglück vor ihnen, wird mit der Zeit nach innen wandern und zu einem kleinen pechschwarzen Punkt in ihrem Herzen werden. Er wird zu einem untrennbaren Bestandteil von Ihnen. Sie werden anders schauen, ja sogar anders gehen, Sie können natürlich versuchen, ihn geheim zu halten, aber es bleibt immer ein Zeichen von dem, was Sie erlebt und erlitten haben.«

An dieser Stelle konnte ich mich gerade noch zügeln und meine Predigt anhalten. Da ich diese Erfahrungen selbst durchlebt hatte, hielt ich es für tröstlich, darüber zu sprechen. Ich hatte Mitleid mit ihm und war trotzdem überrascht, Schmerz so tief zu empfinden und bei der Überwindung so tapfer zu sein. Und spätestens als Nasser mir deutlich machte, dass er mein langes Festhalten seiner Hand nicht für eine oberflächliche Geste hielt, sondern für einen Ausdruck meines Mitgefühls, war ich erleichtert, ihm diese tröstenden Worte gesagt zu haben.

Bevor wir uns nun jeder für sich einen Weg durch die Reisenden bahnten, fragte mich Nasser nach meiner Telefonnummer. Trotz seiner Trauer war er doch so geistesgegenwärtig! Er tippte die Ziffern in sein Handy und rief sofort durch, sodass seine Nummer auf meinem Display erschien, diese Nummer war alles, was ich in Zukunft brauchen würde. Noch wusste ich nicht, wie abhängig ich von dieser Nummer sein würde, wenn ich erst sehen würde, was das Leben noch für mich bereithielt.

*

In den folgenden zehn Tagen stürzte ich mich in meine Arbeit und versuchte, die Teile meines Selbst, die ich durch den Krieg in meinem Land verloren hatte, wiederzugewinnen. Ich vertiefte mich in Informationen und Statistiken und in die Geschichten von vertriebenen, emigrierten und vor den Bomben fliehenden Frauen, zu denen ich vor Monaten noch selbst gehört hatte, während meine Schwestern Djud und Salma immer noch zu Hause waren. Jedes Mal, wenn dieser Gedanke in mir aufblitzte, überfiel mich wieder der Kummer. Ich war nicht hierhergekommen, um jemandem etwas zu geben, sondern, um dem Krieg zu entrinnen. Dort in Aleppo, wo ich eigentlich arbeitete, hatte man inzwischen die Akademiker ins Visier genommen. Mein Bürokollege in der Humanwissenschaftlichen Fakultät, der Historiker Professor Doktor Muhammad, war auf dem Heimweg von der Universität in Bustan al-Qasr von der Kugel eines Scharfschützen getroffen worden. Zwischen all diesen Widersprüchlichkeiten, einerseits dem Gefühl, Glück gehabt zu haben, weil ich einen sicheren Zufluchtsort und eine neue Arbeit gefunden hatte, und andererseits der Frustration und Gewissensqual, weil ich meinen Vater und meine Schwestern in Leid und Gefahr zurückgelassen hatte, erinnerte ich mich an Nassers Gesicht. Sein sanfter Blick erfüllte mich mit Freude und ein Lächeln breitete sich über mein Gesicht aus, ich wehrte mich nicht dagegen in der Hoffnung, dass es die ganze Tragödie, die in mir eingebrannt war, wegfegte und nichts als Glück hinterließ.

*

Wie ich nicht anders erwartet hatte, rief Nasser an, nachdem sein Schmerz über den Verlust abgeklungen war. Er fühlte sich einsam nach dem süßen Trost, als er die Geduld kennenlernen musste, die mit der Trauer einhergeht. Er rief an, weil er inzwischen einer anderen Form der Aufmunterung bedurfte, die mir wohlbekannt war. Er brauchte jetzt jemanden zum Reden. Also trafen wir uns am Abend im Restaurant Blue Fig im Stadtteil Abdoun. Hier in Amman kannte ich bisher wenige Lokale und fühlte mich unbeholfen. In Aleppo hätte ich mein Stammlokal gehabt, das Baron Hotel, wo ich früher regelmäßig saß, wo immer ein Tisch für mich reserviert war, wo alle Angestellten mich und meine Vorlieben kannten, wo, wenn ich mich mit Freunden treffen wollte, meinen Gästen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, und wo man mich in Ruhe ließ, wenn ich schreiben wollte.

Weder die Restaurants im Ritz noch die Cafés an den Champs-Elysées oder die Prager Straßencafés waren mit der Terrasse des Baron Hotel vergleichbar. Damals war das Hotel ein kleines Gebäude im Herzen Aleppos, in einer Straße, die seit 1946 nach ihm »Baron-Straße« heißt, und zwar in Anerkennung der patriotischen Rolle, die das Hotel während der französischen Mandatszeit gespielt hatte. Da war die Straße allerdings noch nach Henri Gouraud benannt, jenem französischen General, der bei seinem Einzug in Damaskus nach der Schlacht von Maysalun mit dem Fuß gegen Saladins Grabmal getreten hatte und dabei seine berühmt gewordenen Worte sprach: »Wach auf, Saladin! Wir sind wieder da!« Das Gebäude des Baron Hotel stammte aus dem Jahr 1906. Ursprünglich besaß es einunddreißig Zimmer und zwei Bäder. Später setzten die Brüder Mazloumian noch ein drittes Stockwerk mit siebzehn Räumen auf, die alle über ein eigenes Bad verfügten.

Östlich davon lag das Viertel Azizieh, der Zufluchtsort des vor allem christlichen Großbürgertums, wo sich auf den Gehsteigen die Caféterrassen eleganter Restaurants breitmachten: das Wanis, das Schallal oder das Cordoba. Davor erstreckten sich Beete mit grünen Sträuchern und Blumen, die man im ehemaligen Flussbett des Quwaiq angelegt hatte, das wegen der vielen Insekten, die Krankheiten wie die Leishmaniose verbreiten konnten, zugeschüttet worden war. In diesen Restaurants trafen sich Künstler, Schriftsteller, Geschäftsleute und hohe Beamte. Sie verbrachten ihre Abende bei der Musik namenloser armenischer Bands, die das Talent besaßen, nostalgische Erinnerungen an die Vierziger- und Fünfzigerjahre heraufzubeschwören, als man in Aleppo noch zu bekannten Tango- und Walzermelodien tanzte …

Südlich des Baron Hotel, direkt am Stadttor Bab al-Faradsch, stand der Uhrturm, eines der Wahrzeichen Aleppos. Es heißt, Aleppo ließe sich nur durch das Bab al-Faradsch entdecken, und dies, obwohl es noch sechs weitere Stadttore gab. Gleich bei dem Uhrturm befand sich die Nationalbibliothek, Ziel aller Freunde des Lesens und Forschens, des Theaters und der Künste. Zwischen dem Hotel und dem Platz vor dem Bab al-Faradsch verliefen enge parallele Sträßchen. Diese Gegend heißt »Bustan Kull Ab« oder, im lokalen Dialekt, »Bustan Kleb«. Dort fand man Ersatzteilläden für Autos und landwirtschaftliche Maschinen in direkter Nachbarschaft zu den billigen Hotels – wo sich mehrere Zimmer immer ein Bad teilten. Sie trugen Namen wie Suez Canal, Unity, das Syrien und das Libanon. Außerdem gab es Restaurants, wo man armenischen Kebab und »Königsgratin« zubereitete, sowie Nachtclubs. Vor den berühmtesten wie dem Moulin Rouge und dem Crazy Horse flanierten sowohl Frauen mit Kopftuch oder Gesichtsschleier als auch Stewardessen aller Fluggesellschaften, im Innern jedoch wimmelte es vor ausländischen Prostituierten, darunter manche auch aus Aleppo.

Wenn man auf der Hotelterrasse des Baron saß, hatte man auf der anderen Straßenseite die Zweigstelle der »Arab Writers Union« vor sich, ein Altbau, in dem Lesungen und Literaturabende veranstaltet wurden. Sie erlösten uns oft von der Monotonie des Alltags an der Akademie. In der benachbarten Straße lag das Al-Kindi-Cinema, an dessen Türen aufreizende Plakate von alten Schundfilmen klebten. Wie angewurzelt standen die Jugendlichen davor, kauten ihre Falafelsandwiches und starrten auf die verlockenden Bilder nackter Frauen. Meistens zogen sie bald weiter, an den alten dicht gedrängten Häusern vorbei zu den Kleider- und Schuhgeschäften, die sich in der Quwwatlistraße aneinanderreihten, wo sich Auslagen syrischer oder billiger chinesischer Qualität aneinanderreihten. Dem Kino fehlte es allerdings nie an Besuchern, egal, welcher Film gerade gezeigt wurde. Oft sah man dort Teenager, vielleicht auch Studenten, die keine andere Möglichkeit fanden, sich alleine zu treffen, und nur in den Saal gingen, um sich in die hinteren Reihen zu setzen, zu knutschen oder in aller Eile Sex zu haben. Der Platzanweiser ließ die jungen Leute rasch in der Dunkelheit zurück, während der Film, der schon Zeuge unzähliger solcher Zusammentreffen geworden war, kaum mehr als eine Nebenrolle spielte. Keiner von ihnen verschwendete einen Gedanken, warum das Kino »al-Kindi« oder die Straße »Quwwatli« hießen, vom täglichen Gebrauch abgenutzte Namen großer Philosophen und Übersetzer, die so gut wie jedes syrische Stadtbild prägen.

An den Sommerabenden saßen wir oft auf der großen Terrasse vor dem Baron Hotel. Von der Straße trat man ein paar Stufen hinauf, die aus dem gleichen Stein gehauen waren, den man für die niedrige Brüstung verwendet hatte … über dem Haupteingang stand in dünner, elegant geschwungener blauer Neonschrift der Name des Hotels. Im Winter zogen wir in die Lobby um, einer Mischung aus Lounge und Bar, und debattierten vor dem Marmorkamin, der in seiner Pracht mit dem schwarz-weißen Schachbrettmuster der Fliesen korrespondierte, über Kultur und Politik. Nie war ich zu den Hotelzimmern hinaufgegangen, in denen oft Prominente genächtigt hatten – heute sind die Zimmer nach ihnen benannt. Ich hatte stets das Gefühl, Agatha Christie könne herunterkommen und mir gegenüber Platz nehmen, Gamal Abd al-Nasser könne sich im nächsten Moment auf den breiten Balkon stellen, um den Massen zuzuwinken, oder aber türkische, englische und französische Militärführer könnten am langen Tisch hinter uns ihre Verschwörungen aushecken, die man bis heute in den Archiven der beiden Weltkriege verwahrt. Meine Freunde und ich strickten derweil an unseren eigenen Verschwörungen und persönlichen Mythen, inspiriert von der Energie dieses Ortes, der wie eine tiefe Höhle wirkte und so zahlreiche Gesichter zusammengeführt hatte. Die Wände hatten das Echo ihrer Geheimnisse aufgesogen, ebenso wie den Glanz in den Augen der Paare aus früheren Zeiten, ihr Lachen, ihre unvollendet gebliebenen Liebespläne und ihre aufrichtig vergossenen Tränen, die zu jener lebhaften Vergangenheit Aleppos gehörten.

Im Winter 2000 hatte ich in eben dieser Bar Sami getroffen. Er saß bei einer trinkenden und laut lachenden Gruppe russischer Männer und Frauen. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, ausgerechnet hier einen jungen Mann aus meiner Heimatstadt Raqqa zu treffen! Ich kannte Sami vom Sehen, wir hatten dieselbe Schule besucht, ich kam in die siebte, als er in die zehnte ging, und sein Bruder war in meiner Klasse. Ich saß gerade mit Nadjwan, meiner Freundin aus den Universitätsjahren, beim Abendessen, als Sami selbstbewusst auf mich zukam, mir die Hand gab und sich vorstellte. Ich pflegte damals keinen engen Kontakt zu den Leuten aus meiner Stadt, die zum Studium nach Aleppo gekommen waren. Sie gingen zwar sehr schnell offen miteinander um und unterstützten einander, aber sie mischten sich auch in Privatangelegenheiten ein und bespitzelten sich gegenseitig, obwohl jeder dem anderen weismachen wollte, was in Aleppo geschehe, werde auch in Aleppo bleiben. Dabei machten sich die Geheimnisse meist augenblicklich auf in Richtung Osten und hatten die zweistündige Distanz bis Raqqa schon überwunden, ehe die Betroffenen am Wochenende dort eintrafen.

Doch mir gefielen Samis Selbstvertrauen und auch seine Spontaneität. Er kenne mich noch aus der Schule, sagte er. Den ganzen Abend lächelten wir uns immer wieder zu, bis er das Hotel zusammen mit seinen Freunden verließ.

Sami hatte in Moskau Software Engineering studiert und arbeitete seit seiner Rückkehr im Wärmekraftwerk zwischen Aleppo und Raqqa. Bei unserer Begegnung damals war mir gerade ziemlich kalt. Er dagegen trug eine mehr als hüftlange Jacke aus teurem schwarzem Leder, mit breitem Gürtel und einem mit grauem Pelz besetzten Kragen. Am liebsten hätte ich mein kaltes Gesicht tief darin vergraben. Samis Kopf war groß und rechteckig, er hatte weizengelbe Haut und große Augen, die durch die schlaffen Lider müde wirkten. Sein hervorstechendstes Merkmal jedoch war seine große breite Nase. »Eine große Nase ist ein Zeichen von Lebenskraft!«, pflegte meine Tante zu sagen. Sein rundlicher Mund mit den fleischigen Lippen dagegen wirkte zu klein für sein Gesicht.

Am nächsten Tag traf ich Sami am selben Ort wieder, in Gesellschaft derselben Leute, offenbar waren sie Gäste des Hotels. Wir grüßten einander, setzten uns ein wenig zusammen und unterhielten uns über das Studium, unsere Heimatstadt sowie über Freunde und gemeinsame Bekannte dort. Wie bei einer russischen Matroschka-Puppe ergab sich ein Thema aus dem anderen. Von außen nach innen wurden die Themen immer persönlicher. Sami und ich ergänzten uns sehr gut. Wenn man gemeinsame Erfahrungen teilt, entwickelt sich leicht eine gegenseitige Anziehung. So kamen wir uns näher …

Er holte mich abends häufig von der Uni ab, und wir saßen in den Cafés im stillen Shahba-Viertel, wo wir stundenlang redeten. Dann wollte er die Wochenenden in Aleppo bleiben. Wir verbrachten die Abende am Tor der Zitadelle und aßen anschließend im Restaurant des Hotels Dar Zamaria im Stadtteil Jdaydeh, wo man gekochte Fleischbällchen mit Kirschen servierte, und wo Oud-Spieler, die ihre Kunst mit der Muttermilch aufgesogen hatten, traditionelle Lieder aus Alt-Aleppo vortrugen.

Sami brachte Freude in mein Leben, das bis dahin ganz auf die Forschung für meine Magisterarbeit ausgerichtet war. Ihm war es gelungen, eine kleine Tür zu öffnen, durch die glühende Gefühle drangen. Aber nur für kurze Zeit, wie ein Feuerwerk. Er war zwar freundlich und charmant, aber nicht sehr intelligent. So wollte er mich bei seinem ersten Besuch in meinem Büro an der Uni mit einem Gedicht von Puschkin beeindrucken. Er nahm meine Hand in seine, sah mir tief in die Augen und deklamierte mit ruhiger, angenehm heiserer Stimme:

Du Liebe, meine Süße,

Horche auf mein Flehen:

Zu mir soll um sich drehen

Der Bilderreigen, diese Güte,

Am Morgen, davon himmelstrunken,

Als Zauber wieder auferstehen,

Lasse er hinfort mich gehen,

Im Schlaf, auf immer tief versunken!

Später musste ich feststellen, dass es sich dabei um das Gedicht handelte, das alle arabischen Studenten im ersten Jahr Russischunterricht einübten, bevor sie sich ihren Fachgebieten zuwandten. Als ich meiner Freundin Nadjwan davon erzählte, fragte sie ungerührt: »Natürlich, was dachtest du denn, wer er ist? Majakowski etwa?« Ich schämte mich für meine naive Begeisterung.