Loe raamatut: «Staatenlos»

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SHUMONA SINHA

STAATENLOS

ROMAN

AUS DEM FRANZÖSISCHEN

ÜBERSETZT

VON LENA MÜLLER


Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien unter dem Titel Apatride bei Editions de l’Olivier, Paris 2017

Die Übersetzung aus dem Französischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt



Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des Institut Français

Zitate fremdsprachiger Autoren wurden folgenden deutschsprachigen Ausgaben entnommen:

Nâzim Hikmet, »Wie Kerem« (1934), in: Hava kursun gibi agir / Die Luft ist schwer wie Blei. Gedichte. Aus dem Türkischen von Helga Dağyeli-Bohne und Yıldırım Dağyeli, Dağyeli Verlag 1988.

Guillaume Apollinaire, »Rheinische Nacht« (1913), in: Alkohol. Gedichte französisch-deutsch. Aus dem Französischen von Johannes Hübner und Lothar Klünner, Luchterhand 1976.


Edition Nautilus GmbH · Schützenstraße 49 aD - 22761 Hamburg · www.edition-nautilus.de Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus GmbH 2017 Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg Deutsche Erstausgabe September 2017 ePub ISBN 978-3-96054-048-9

Inhalt

Lehmschauer

Der Kreis der Auserwählten

Das Hauptquartier

Am Fuß des Hügels

Ihr Lehmkörper

Wodka-Litschi

Die Lichtbarke

Die Goldenen Zwanziger

Das Feld der Leuchtkäfer

Die Zone

Eine Nadel im Heuhaufen

Ein Ufo in der Nacht

Schmutzige, stumpfe Erde

Frohe Weihnachten

Schwarz und langsam wie eine Raupe

Standarten und Fahnen

Sterne in allen Farben

Die milchige Morgendämmerung

Das Luftschloss

Das Sandbett

Vom Winde verweht

Blau wie eine Orange

Die Spitze des Eisbergs

Schlangen und Leitern

Aus dem Bauch des Blauwals

Der Grabstein

Bienen im Kopf

Mutter in Bedrängnis

Fight Club

Größenwahn

Wenn wir nicht brennen Wie kann die Finsternis erleuchtet werden?

Nâzim Hikmet

Lehmschauer

Sie kam an einem Morgen zu Frühlingsbeginn hier an. Die Bäume waren noch kahl. Bis auf die Trauerweiden. Das Wasser, das gemächlich unter dem Gitter der Rinnsteine plätscherte, erinnerte sie an japanische Gärten. Sie folgte der menschenleeren, schnurgeraden Straße, die dann nach links abbog und die vom Morgentau feuchten Getreidefelder in zwei Teile schnitt. Verschlafene Häuschen tauchten auf. In weiter Ferne sah sie das weiße Schild, auf dem der Name der Stadt stehen musste. Sie beschloss, bis dorthin zu gehen. Und so lief sie trotz der Müdigkeit noch lange weiter, obwohl das Laufen doch schwerfällt, ohne Beine, ohne Füße, ohne irgendetwas unterhalb der Brust.

Einige Stunden zuvor war sie erwacht. Die Dunkelheit war wie Staub in ihre Augen gedrungen. Im Liegen hatte sie die Arme nach oben gestreckt und war gegen eine Decke gestoßen. Sie hatte die Fingernägel hineingebohrt, und Erde war auf sie heruntergerieselt. Da hatte sie sich an eine Schaufel erinnert, an mehrere Schaufeln, an eine im Gras liegen gebliebene Taschenlampe, an die weiße Zunge ihres Lichtscheins, an das dumpfe, regelmäßige Geräusch der Lehmschauer auf ihrem Körper, ein Brennen in der Lunge, die sich verzweifelt weitete, um ein wenig Sauerstoff einzuatmen. Sie hatte aufstehen wollen, ihre Beine ausstrecken, den Lehmhaufen vor ihr mit den Zehen berühren. Aber das vor ihr war eine formlose, körperlose Nacht, eine leere, trockene, freie Nacht. Sie hatte die Hände über ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Schultern, ihre Brust wandern lassen. Sie hatte ihren Bauch gesucht, aber sie hatte keinen mehr, auch keine Beine, kein Geschlecht mehr, unterhalb der Brust ein Haufen Asche, trocken, schwarz, der sich bald in alle Winde zerstreuen würde. In Panik hatte sie sich ruckartig aufgesetzt und war heftig gegen die Erddecke gestoßen.

Da hatte sie die Stöcke wieder vor sich gesehen, um deren Enden nach Kerosin, nach Feuer stinkende Lappen gewickelt waren, hatte ihre Hitze gespürt, den Atem der Flammen gehört. Sie hatten sie vergewaltigt, erwürgt, hatten ihren Körper angezündet, sie hatten sie von den Füßen bis zur Brust verbrannt, um die Frau in ihr auszulöschen, die gelebt und geliebt hatte. Sie hatten den Körper in ihrem Körper verbrannt und begraben, das winzige Leben, das im schwarzen Wasser ihres Bauchs schwebte.

Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie, gelähmt vor Angst, dagelegen hatte, sie wollte den Tag abwarten. Und um ans Ende der Nacht zu gelangen, musste sie das Grab hinter sich lassen. Sie hatte begonnen, die Decke aus Erde über ihrem Kopf abzutragen. Sie hatte beschlossen aufzustehen, zu gehen, die Straße zu überqueren und die Stadt zu erreichen.

Mitten in der Nacht schreckte Marie hoch. Sie hatte den Eindruck, dass jemand im Zimmer war, schwer atmend, in der Dunkelheit zusammengekauert. Sie hätte reflexhaft die Nachttischlampe anschalten sollen, aber sie rührte sich nicht, sie hatte Angst, aber eine furchtbare Traurigkeit half ihr über den Schrecken hinweg, sie stützte sich auf die Ellenbogen, wartete geduldig, als ob es so hatte kommen müssen, dass man sie besuchen kam, dass man die Erde und das Grab aufwühlt und aufsteht, geht, die Meere überquert, die Ozeane und Kontinente, und zu ihr kommt.

Marie flüsterte: »Verzeih mir! Ich sollte mich nicht vor dir fürchten, Mina! Ich bin froh, dass du da bist!«

Der Kreis der Auserwählten

In der Metro war zwischen zwei Frauen plötzlich ein heftiger Streit entbrannt. Eine hatte goldbraune Haut, dunkle Locken, die ihr fleischiges Gesicht umrahmten, einen Pony, der ihre großen, haselnussbraunen Augen verdeckte. Die andere war schwarz, trug strohblondes Kunsthaar, das sich über ihren Rücken wellte, lange, blaue und orangefarbene, mit Strass besetzte Nägel. Die erste hatte den Arm in einer Schlinge, die Hand eingegipst. Bei einem abrupten Bremsmanöver der Bahn war die zweite an den verletzten Arm gestoßen, und sofort waren sie lauthals übereinander hergefallen. Immer heftiger zeterten und schimpften sie, beleidigten und drohten einander, bis ihr verbaler Zusammenstoß eine andere Wendung nahm. Jede rühmte sich, rechtmäßige Staatsbürgerin dieses Landes zu sein, sich rechtmäßiger als die andere auf französischem Boden aufzuhalten, auf der sozialen Leiter weiter oben zu stehen, und war der grimmigen Überzeugung, die mutmaßlich Unterlegene mit gutem Recht niedertrampeln zu dürfen. Die eine kletterte auf eine Sitzbank, brüllte sich die Stimme heiser. Sofort stieg auch die andere auf einen Sitz. Sie begannen, sich zu schlagen. In diesem Augenblick gingen ein paar Fahrgäste dazwischen. Beim nächsten Halt stieg die erste aus, die zweite schlug gegen die Scheibe und zeigte ihr den Mittelfinger, während die Metro im Tunnel verschwand.

Während des Zwischenfalls hatte Esha den Kopf gesenkt gehalten. Dann war ihr Blick dem des jungen Mädchens begegnet, das ihr starr vor Angst gegenübersaß, das Gesicht so blass wie die Augen. Wortlos hatte sie sie beruhigt und dabei ihre Tasche an sich gepresst, ihr ganzes Leben war da, in diesem Packen Dokumente. Woher kam diese hysterische Energie, als ob man wie ein Hund ständig sein Territorium markieren müsste? Niemand wusste, wann dieses schreckliche pyramidale System zwischen den Menschen und ihren früheren Herren entstanden war, zwischen den ehemaligen Dienern, die nördlich und südlich der Wüste aufgebrochen waren, den Reisenden vom blauen Fluss und vom weißen Fluss, jenen von den Inseln, vom Vulkanarchipel und den Exilanten des ehemaligen roten Regimes, die nach weißen, nach einfachen und freien Tagen suchten.

Links von ihr saß eine junge Frau, die sie »Mademoiselle Porzellan« hätte nennen können. Als Esha sie ansah, wich sie ihrem Blick aus, verzog das Gesicht, verkrampfte sich auf ihrem Sitz und schloss die Augen.

Esha hatte Lust, jemanden anzurufen, egal wen, sie ging im Kopf die Männer durch, ihre Namen und ihre Gesichter, als sie gerade ihre Wahl treffen wollte, leuchtete das rote Ausrufezeichen neben dem grünen Symbol für SMS auf. Und ein weißer, muskulöser, nackter Körper nahm den Bildschirm ihres iPhones in Beschlag, ein Körper ohne Gesicht, ohne Botschaft. Mit wenigen Worten vereinbarte sie ein Treffen für den Abend. Was ihr von diesen Männern blieb, Bruchstücke von Liebe ohne Worte, ein Blick, Finger, ein tiefer Bauchnabel und ein gewölbter Po, eine Unbeholfenheit, ein Rechtschreibfehler, grammatikalische Verfehlungen, Anrufe mit unterdrückter Rufnummer, dann Überdruss, Vergessen, gesperrte Nummern. Ihr Laken nahm keinen Geruch an, außer dem des schlüpfrigen Gummis, traurig und desillusioniert.

Nach dem Konflikt verband eine besänftigende Solidarität die Fahrgäste im Waggon, sie lächelten einander beruhigend zu, tauschten Belanglosigkeiten über das Leben, die Stadt, das Wetter aus. Eine Frau, die mit ihrem Säugling auf dem Arm auf dem Klappsitz neben der Tür saß, stand auf, um ihren Platz mit rauer, selbstbewusster Stimme einer alten Dame anzubieten. Dann spuckte sie etwas, das sie vorher gekaut hatte, in ihre Handfläche und steckte es ihrem Kind in den Mund, das seinerseits darauf herumkaute, ein Bissen Brot oder wer weiß was, winzig, eingespeichelt, zerkleinert von der Mutter für das Kind. Sie stieg bei der nächsten Haltestelle aus, mischte sich unter die Touristen auf ihrem Weg zum riesenhaften Lichtturm.

Auch Esha stieg dort aus, erleichtert, die ungeliebten, die schmutzigen, stinkenden Bahnhöfe hinter sich zu lassen, den Eisen-und-Diesel-Bahnen zu entkommen, die sie jeden Morgen auf die andere Seite der Mauer, auf die andere Seite der roten Linie brachten, in den Nordosten von Paris. Dort, wo Typen vor dem KFC standen und Zigaretten verkauften, mit einem Geräusch, als würden sie Schafe zusammentreiben, die Zunge schnalzend an die Zähne und den Gaumen gepresst. Dort, wo alte Männer mit weißen Käppis überwachten, ob die Passantinnen ihr Haar bedeckten oder nicht. Das Gymnasium, in dem sie seit September arbeitete, befand sich dort, neben dem holprigen Gehsteig, den leprösen Wänden und den wortkargen Menschen, die ihre Energie nicht für Höflichkeitsfloskeln verschwendeten, die ihre Beine zum Gehen brauchten, ihre Ellenbogen, um sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, und ihre Augen, um das Leben zu prüfen, zu begutachten, zu erfassen.

Sie befand sich in diesem ständigen Hin und Her zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen dem, was ihr wie ein Block aus Stein erschien, durchscheinend, unerschütterlich, undurchlässig, und dem ganzen Rest ringsum, abgelegen, abgenutzt, schemenhafte Mäander fremder Leben.

Esha hatte Jahre gebraucht, um dort anzukommen, sie hatte ihr Leben hingegeben für dieses Leben. Sie ging weiter, ihre Tasche an die Brust gepresst, als trüge sie einen Säugling. Zertifikate, Nachweise, Empfehlungsschreiben, Anträge und Erklärungen, Fotos und Fotokopien – Jahre und Länder, Jahreszeiten und Städte, um ihren Weg zurückzuverfolgen, zur Vergangenheit vorzudringen, zum Ursprung der Dinge, um zu verstehen, wie sie hier gelandet war, um ihr Profil zu erstellen, ihre Erfahrungen und ihre Absichten zu durchleuchten, bevor man an höchster Stelle über sie entscheiden würde, bevor man ihr zutrauen würde, eine würdige Staatsbürgerin Frankreichs zu sein. Esha lief es kalt den Rücken hinunter. Würde auch sie eines Tages auf einen Metrositz steigen, um ihre Daseinsberechtigung zu unterstreichen? Würde sie eine Tätowierung aus Zahlen und Buchstaben, ein Zeichen auf dem Arm, im Nacken tragen, um auf ihre Zugehörigkeit, ihre Treue, ihre Ergebenheit hinzuweisen?

Links waren der Turm, die Menge, der kühle, feuchte Wind, rechts ragten die Mauern des Friedhofs in die Höhe. Auf der anderen Seite des Platzes, auf der anderen Seite der von Touristen überlaufenen Cafés begann die Avenue und führte in die ruhige Geometrie eines anderen Lebens.

Sie lebte am Ende der von Tankstellen, Autovermietungen und chinesischen Imbissläden gegliederten Straße, mit Menschen unterschiedlichster Herkunft, die sich an dieses Ende klammerten wie an den Schwanz einer langsamen, müden Schlange, deren Leben sich weiter oben abspielte und die diesen Pöbel jeden Moment wie unnützen Ballast abschütteln könnte. Das Leben dort war für diese Leute die letzte Chance, um in Reichweite des Wohlstands zu bleiben, koste es, was es wolle.

Wer zum Arbeiten herkam, für Reparaturarbeiten, Auslieferungen oder für ein Essen in einem der Restaurants mit Sicht auf den Turm, begutachtete die Anwohner, konnte die authentischen Ansässigen von den Amateuren unterscheiden. Man erkannte sie von Weitem, die echten, mit ihren Hüten und ihren Pelzbergen, ihrem alten, mit Edelsteinen besetzten Goldschmuck, ihrem auf den Boden gehefteten Blick und der Hand auf der Brust, ihrem gesetzten Schritt und dem Geruch nach geschlossenen, mit Tapeten und Marmor ausgekleideten Räumen.

Die Arbeiter und Mechaniker, die Provinzler an den Tischen der Cafés irrten sich nie. Von Weitem machten sie die Betrüger, die Eindringlinge, die schwarzen Schafe in dieser Landschaft aus, die Handvoll Menschen einer Klasse, die in der Nähe des Turms nur geduldet wurde. Sie erregte ihre Aufmerksamkeit, eine Frau ohne Begleitung, ohne Herrchen, nicht reinrassig, eine brennende Sonne unter der Haut als einziges Erbe. Die Stadt war letztlich bloß ein riesiges Dorf, eine Vorstadt, wo die Leute sich ihre Zeit damit vertrieben, die anderen zu beobachten, zu bewerten, zu billigen oder zu missbilligen. Eine Fliegen-Stadt mit einer Vielzahl gieriger Augen. Die Männer sprachen sie an, musterten und kommentierten sie, wenn sie vorbeiging, folgten ihr von einer Avenue in eine Seitenstraße; die Frauen, die die Hunde oder Kleinkinder ihrer Arbeitgeber spazieren führten, musterten sie ebenfalls, ärgerten sich und murmelten etwas vor sich hin. Alle erinnerten sie daran, wo sie herkam, wo sie herkamen, sicher angetrieben von einem Gefühl seltsamer Brüderlichkeit, ihr verbunden in der Erinnerung an Elend, Pech und eine traurige Herkunft.

Sie musste einen Panzer tragen, eine Maske, Kopfhörer, und in den rosa, orange und samtig purpurfarbenen Himmel zwischen den Haussmann-Fassaden mit den smaragdgrünen Kuppeldächern am Ende der Straße schauen. Sie musste sich außerhalb ihrer Wohnung stets wie ein Soldat in Habtachtstellung bewegen, den Mund mit schwarzem Faden vernäht, eilig den öffentlichen Raum durchqueren, um von A nach B zu gelangen, von einem Privatraum in den nächsten, ohne sich Ärger einzuhandeln, ohne von den Worten verätzt zu werden.

Das Hauptquartier

Als der Generalsekretär der kommunistischen Partei, der auch der Bezirksabgeordnete war, sie sprechen wollte, wusste Mina nicht recht, ob das ein gutes Zeichen war, ob sie sich Sorgen machen oder sich angesichts dieser Aufmerksamkeit geehrt fühlen sollte. Seit der Abgeordnete in Vorbereitung seiner zweiten Amtszeit diese Gegend von Westbengalen bereist hatte, hatte er den Bau der Automobilfabrik zu seinem persönlichen Projekt gemacht.

Sie besprach sich mit ihren Eltern. Ihre Mutter zeigte ihre Missbilligung durch heftiges Rühren in der Linsensuppe, was ein metallisches, von Luftblasen und Dampf gemildertes Geräusch verursachte. Ihr Vater schien verwirrt. Seit einiger Zeit schon verstand er die Welt, die ihn umgab, nicht mehr. Er lebte im Rhythmus der Ernten, hielt die Tage und Monate und Jahre in der Hand wie einen gut durchgekneteten Klumpen Lehm, wie ein Bund Spinat, einen Strunk Kohl, ein Bündel Schilf. Die Jahreszeiten wanderten durch ihn hindurch, ihre Abstufungen von Blautönen, im Frühling sanft, im Sommer weißlich, verfärbten sich grau, schwarz, kräftig, gingen in Schauern auf ihn nieder, auf sein Dach, der Weiher trat über die Ufer und überschwemmte seinen bescheidenen Hof, wo er kleine, ungeschickte Fische fing. Er mochte den Fischgeruch an seinen rauen Händen nicht, er wartete ungeduldig, wieder zurück auf die Felder zu können, um sich über die Pflanzen zu beugen, ihre jungen Wurzeln zu pflegen, das Unkraut zu jäten, wobei er sich ab und zu schüttelte, um die Blutegel von seinen Füßen im Wasser zu vertreiben.

Auf die Fragen seiner Tochter antwortete er mit Schweigen und blickte zur Decke seiner Hütte aus Schilf und Bambus. Vor der Tür wurde der kahle, unebene, staubige Hof breiter und ging in die Höfe der Nachbarn über, um sich dann wieder zu verengen und als schmale, holprige Straße das Dorf zu durchqueren. Weitläufige, überflutete Reisfelder, von denen das ganze Jahr ein kühler, feuchter Wind herüberwehte, umgaben die Handvoll Häuser. Der Wind warf sich gegen die grün bewachsenen Hügel, immer bläulicher, dunstiger zum Horizont hin, wo Kalkutta lag, weit weg, irgendwo im Nebel, von wo nur allzu selten ein Gerücht bis hierher durchdrang.

Soweit er sich erinnerte, hatten sein Vater und der Vater seines Vaters hier gelebt, neben den Bäumen, neben den Reisfeldern. Bis vor Kurzem war die Zeit eine weite Ebene gewesen. Er war den vorgezeichneten Schritten der Männer der Familie gefolgt und hatte nicht gedacht, dass dieser friedliche Rhythmus aus Arbeitstagen und Nachtruhe unterbrochen werden könnte. Aber die Politiker hatten alles durcheinandergebracht, sie hatten entschieden, die Landschaft umzuformen, diese ländliche Gegend, Tajpur und Umgebung, in einen Hinterhof der Stadt zu verwandeln. Sie hatten es nicht für nötig befunden, die Bauern über den Verkauf ihrer Felder an internationale Investoren für den Bau einer Automobilfabrik zu unterrichten, weil weder Minas Vater noch die anderen Landbesitzer waren. Sie waren bloß einfache Bauern, die die Felder für die Ernte pachteten und nur ihren Lebensunterhalt erwirtschafteten, ihre Wünsche und ihre Stimmen fielen weniger ins Gewicht als die der Zugvögel, die die Ernte stibitzten, sie standen mit den Füßen im Wasser und im Schlamm, den ganzen Körper über die Wurzeln der Pflanzen gebeugt, aber diese Erde, die sie kneteten und besser kannten als den Körper ihrer Frau, gehörte ihnen nicht. Nun wollte man sie selbst wie Unkraut ausreißen, den Boden platt walzen, das Wasser abpumpen, um alles zu betonieren und einen Jahrmarkt aus Karosserien zu errichten, die ihren Durst am Ölbrunnen stillen würden.

Mina rief ihren Bruder auf seinem Mobiltelefon an, aber er hob nicht ab. Sie hörte sich die Filmmelodie bis zur letzten Note an, bevor sie eine Nachricht hinterließ. Sie dachte an Sam, traute sich aber nicht, ihn anzurufen: Seit einigen Wochen, seit ihrem letzten heimlichen Treffen, mied er sie. Sie ging auf die Straße, um mit den Nachbarn zu reden, alles Bauern, Freunde ihres Vaters. Als am Abend der Sekretär des Abgeordneten kam, um ihr die Uhrzeit des Treffens mitzuteilen, stammelte sie ein paar Worte, ohne recht zu merken, dass sie sich bei ihm dafür bedankte, ihr ein Treffen zu gewähren.

Mina ging also am nächsten Abend zum Sitz der Partei. Das zweistöckige Gebäude mit seinem roten Anstrich, seiner quadratischen Form und seiner großen, schmiedeeisernen Eingangstür war nicht zu übersehen. Die Schnellimbisse, Handyläden und Internetcafés wirkten daneben wie die Ställe und Schuppen eines Herrenhauses.

Sie stieg die Treppen hinauf und begegnete auf dem breiten Flur des ersten Stocks einem Mann, der sich an einem Zinnkessel zu schaffen machte. Sie stellte sich vor, während er auf einem mit Tintenflecken gesprenkelten Tisch mit Schubladen voller alter Zeitungen Tee zubereitete. Der Abgeordnete gab gerade ein Fernsehinterview, weswegen der Mann aus dem Flur sie bat, im Sitzungssaal zu warten. Große Porträts von Marx, Engels, Lenin, Stalin und den indischen kommunistischen Führern schmückten die Wände. Von der Decke hing ein ockerfarbener, vierblättriger Ventilator, schmutzig und voller Spinnweben. Zwei lange Tische bildeten einen Winkel. Sie setzte sich auf einen der vielen Stühle, die ringsherum standen. Der Mann aus dem Flur kam und brachte ihr Tee.

Mina wartete. Die Zeitungen auf den Tischen interessierten sie nicht. Sie hatte den Linien der Wörter nie folgen können, sobald sie sie betrachtete, wimmelten sie über die Seiten wie Wildameisen. Nach zwanzig Minuten holte ein junger Genosse sie ab, um sie ins Büro des Abgeordneten zu bringen.

Das Fernsehteam war gegangen. Der Abgeordnete trug einen roten Wollschal, der sein Kinn verdeckte und seine fleischigen Lippen und seinen dicken Schnurrbart hervorhob. Seine grau melierten Haare waren auf der Seite gescheitelt, eine große, sorgfältig drapierte Schulkindlocke verdeckte seine Stirn. Er fasste sich an die schwarz gerahmte Brille, hob sie leicht an, setzte sie wieder auf, rückte sie zurecht.

Der junge Genosse setzte sich auf einen Stuhl neben der Tür und legte die Hände in den Schoß. An der dem Abgeordneten gegenüberliegenden Wand war ein Fernseher angebracht, auf dem die Abendnachrichten liefen, mit drei über den Bildschirm laufenden Informationsbalken zu drei verschiedenen Themen.

»Bring der jungen Dame einen Tee«, rief der Abgeordnete.

»Nein, nein, ich habe schon einen getrunken, danke.«

Er warf ihr einen überraschten Blick zu, als habe er von ihr keine Erwiderung erwartet.

Der Mann aus dem Flur brachte drei Tee auf einem Edelstahlteller, eine Tasse und zwei Becher.

»Habt ihr keine Tassen?«

Die Stimme des Abgeordneten hallte durch den Raum. Jemand spähte durch die Tür und verschwand sofort wieder.

»Das ist nicht schlimm! Ich kann ebenso gut aus einem Becher trinken.«

»Habe ich dich gefragt, ob es schlimm ist?«

Dieses Mal wirkte er nicht überrascht, er schien sich zu freuen, die Vermessenheit der jungen Frau aufgezeigt zu haben, die es wagte, über die Qualität der Ausstattung der Partei zu befinden.

Mina lächelte verlegen. Verknotete die Enden ihres Schultertuchs, entknotete sie wieder.

»Groß bist du geworden, sieh einer an, richtig erwachsen!« Der Abgeordnete gab seiner Stimme einen warmen Klang und wandte sich an den jungen Aktivisten: »Sie ist groß geworden, nicht wahr?«

»Ja, Sir!«, murmelte dieser und wich dem Blick des Abgeordneten aus.

»Ich kenne dich schon, seit du so klein warst.« Er zeigte mit der Hand die Größe des Mädchens, das sie gewesen war, nicht größer als ein Hocker. »Dein Vater ist ein guter Mann, ich kenne ihn, ich kenne ihren Vater, nicht wahr? Aber was hast du mit diesen Störenfrieden zu schaffen? Was soll der Blödsinn? Warum mischst du dich ein?«

»Herr Abgeordneter, vielen Dank, dass Sie mir die Möglichkeit geben, Ihnen zu erklären …«

»Du hast mir gar nichts zu erklären! Dein Platz ist woanders. Du hörst jetzt mit diesem Unfug auf. Kümmere dich um deine Familie. Wir werden allen Bauern ein neues Stückchen Land geben. Es wird etwas dauern, aber so wird es kommen. Schluss jetzt mit den Scherereien, du legst uns keine Steine mehr in den Weg. Mach, was ich dir sage, Punkt aus.«

Der Abgeordnete redete noch eine Weile auf sie ein, mit seiner lauten, tiefen, monoton autoritären Stimme.

Dann ließ er sie gehen. »Groß bist du geworden. Du bist jetzt eine Frau. Sie ist jetzt eine Frau, nicht wahr?«

Diesmal schaute der junge Genosse sie direkt an, grinste breit und nickte.

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