Loe raamatut: «Die lichten Reiche», lehekülg 5

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Kapitel 3

Corus stieß Dawn in die Seite und zeigte auf die beiden Gestalten, die erst vor kurzem den Schankraum betreten hatten. Dawn folgte seinem neugierigen Blick und wusste gleich, was Corus’ Interesse geweckt hatte. An einem Tisch in der Ecke saß ein großer, dunkler Mann in Magiroben; neben ihm hatte eine hübsche, rothaarige Frau Platz genommen. „Jetzt bist du wohl froh, dass der Magus erst aufgetaucht ist, nachdem die Vorführung vorüber war, was?“, fragte Dawn um ihren Freund zu necken. Als sie seinen verletzten Gesichtsausdruck bemerkte, lenkte sie jedoch sofort wieder ein. „Komm, wir setzen uns zu ihnen.“ Corus schien nicht allzu begeistert, doch Dawn zog ihn einfach mit sich. „Guten Abend und möge das Licht eure Wege erleuchten“, grüßte Dawn, als sie bei dem Tisch angekommen waren, an dem die beiden Fremden saßen.

„Mögen die Lichten ihre schützende Hand über euch halten“, erwiderte der Mann höflich.

„Können wir uns vielleicht zu euch setzen?“, fragte Dawn. Beide nickten und so setzte sich Dawn ihnen gegenüber auf eine Bank. Corus stand etwas linkisch neben ihr, bis Dawn seine Hand packte und ihn zu sich zog. „Ihr seid wohl auch nicht von hier?“, fragte sie ungeniert.

„Ich komme aus der Baronie Kornthal“, entgegnete die Frau. Sie hatte eine schöne, sanfte Stimme und Dawn unterzog sie interessiert einer eingehenden Musterung. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, als hätte sie sich in letzter Zeit zuviel zugemutet, doch ansonsten war ihr Gesicht makellos schön; überhaupt hielt sie sich wie eine Königin, fand Dawn. Gerader Rücken, sparsame, grazile Bewegungen und das Haar ordentlich hochgesteckt. Sonst nie um Worte verlegen, fühlte sich Dawn plötzlich unwohl. Überdeutlich wurde sie sich dessen bewusst, dass ihr dunkler Zopf unordentlich über ihre Schultern fiel, dass die Leinenbluse lange nicht mehr gewaschen worden war und dass ihre Beine ungehörigerweise in engen Hosen steckten.

„Und woher kommt ihr?“, fragte die Frau interessiert.

„Von hier und da“, erklärte Corus. „Wir sind Gaukler – die haben kein Zuhause.“ Dawn zuckte zusammen. Normalerweise schämte sie sich nicht für das, was sie war, doch in den Augen der Lady wollte sie nicht die Reaktion der meisten Leute sehen, welche ihnen zu verstehen gaben, dass sie ihrer Meinung nach weniger wert waren, als all die ‚anständigen Leute’. Doch die Fremde dachte gar nicht daran Dawns Vorurteile zu bestätigen. Begeistert klatschte sie in die Hände.

„Wie aufregend! Bestimmt habt ihr schon viel erlebt und gesehen!“ Dawns Augen verengten sich prüfend. Wenn diese Frau sich über sie lustig machte… Doch Dawn konnte nichts als ehrliches Interesse feststellen und tiefe Dankbarkeit erfüllte sie. Kurz wunderte sie sich über die eigenartige Wirkung, welche die Fremde auf ihren Seelenfrieden ausübte, doch dann zuckte sie nur mit den Schultern und grinste über ihre eigene Dummheit. „Wie schade, dass wir die Aufführung verpasst haben. Was macht ihr Beide denn?“, erkundigte sich die rothaarige Frau, der es nicht ganz gelang die Aufregung aus ihrer Stimme zu verbannen.

„Corus ist Zauberkünstler“, erklärte Dawn. Ihr Freund saß stumm neben ihr und schaute schüchtern den Magus an, der seinen Blick mit unbewegter Miene erwiderte. „Ein ziemlich guter sogar“, setzte sie hinzu. „Und ich selbst jongliere ein bisschen.“

„Das finde ich aufregend! Ich bin leider schrecklich ungeschickt!“, meinte die Fremde, was dem Magus die erste Reaktion entlockte: eine amüsiert hochgezogene Augenbraue.

„Du bist nicht ungeschickt, Crystal“, widersprach er leise, aber bestimmt. „Niemand, der dich spielen gehört hat, würde das je denken.“ Die Frau, die anscheinend Crystal hieß, winkte ab.

„Wenn ich eine Harfe in der Hand halte geht es einigermaßen, das stimmt. Aber sonst…“ Jetzt musste sogar Corus grinsen, auch er schien von der Lady fasziniert zu sein.

„Mein Name ist übrigens Corus und das freche Gör ist Dawn.“ Die junge Gauklerin stieß ihn mit dem Ellbogen in die Rippen, doch nicht zu fest, schließlich fand sie es gut, dass er endlich den Mund aufbrachte.

„Die Lady in meiner Begleitung ist die Baronin des Kornthales, Lady Crystal Trenmain, und mein Name ist Lucthen Amortis“, stellte der Magus die Beiden vor und Dawn stockte der Atem. Eine Baronin! Sie hatten sich einfach an den Tisch einer Baronin gesetzt! Einen Moment lang herrschte Schweigen, was der Magus anscheinend befriedigt zur Kenntnis nahm. Dawn hätte schwören können, dass auf seinen Lippen ein kleines, zufriedenes Lächeln lag. Na, der würde sie schon noch kennen lernen, wenn er dachte, dass sie sich von Titeln einschüchtern ließ! Sie stellte beide Füße auf die Bank und umschlang ihre Beine mit den Händen.

„Würdet Ihr uns etwas vorspielen, Baronin?“, fragte sie keck. Einen Moment lang sah es so aus, als wolle Crystal ablehnen, doch dann meinte sie:

„Nur, wenn du versprichst mich wieder zu duzen und aufhörst mich Baronin zu nennen.“ Dawn lachte befreit. Die junge Frau war wirklich nett. Rasch nickte Dawn und so holte Crystal ihre Harfe hervor und begann zu spielen. Für gewöhnlich hatte Dawn nicht viel für Musik übrig. Sie war immer zu ungeduldig gewesen um ein Instrument zu lernen und ihre Stimme war nicht gerade als schön zu bezeichnen, doch Crystals Harfe und ihr Gesang schienen direkt zu ihrem Herzen zu sprechen. ‚Du musst nicht so tun, als wenn du alles allein schaffen könntest’, schienen sie zu sagen. ‚Wenn du willst, werden wir dir helfen, wir können Freunde sein…’ Dawn lauschte wie verzaubert und als die Bardin ihr Lied beendete, gab es nicht einen Menschen im ganzen Raum, der ihr nicht Beifall spendete. Crystal erhielt mehr Anerkennung als Dawn selbst, als sie die Messer hatte tanzen lassen. Zu ihrer Verblüffung konnte sie das neidlos hinnehmen und zugeben, dass Crystal die Anerkennung verdiente.

„Wann reist ihr weiter?“, hörte sie Corus schließlich fragen.

„Schon morgen Früh“, erklärte Lucthen.

„Und wohin reist ihr?“ Der Magus verzog unwillig das Gesicht. Offensichtlich wollte er darüber keine Auskunft geben.

„Nach Osten“, meinte er schließlich barsch. Dawn stockte der Atem. Das konnte doch nicht sein! Sie wandte ihren Blick Corus zu, sah seine entgeisterte Miene und mit einem Mal wusste sie, was sie zu tun hatte.

„Crystal, nimm doch Vernunft an“, beschwor Lucthen die Frau vor ihm, die mit gelöstem Haar im Zimmer auf und ab schritt. Ihr Haar wehte wie eine Fahne hinter ihr her, doch sie schien sich der Ungehörigkeit ihres Aufzuges gar nicht bewusst zu sein.

„Ich sehe nicht ein, warum sie uns nicht begleiten sollten“, sagte sie zum wiederholten Mal. „Sie haben eigene Pferde und sie haben angeboten sich an den Reisekosten zu beteiligen. Für mich klingt das alles sehr vernünftig.“

„Es sind noch Kinder“, warf Lucthen ein. Crystal unterbrach ihre Wanderung und sah ihn verblüfft an.

„Dawn ist kaum ein Jahr jünger als ich und obwohl Corus zugegebenermaßen nicht unbedingt so wirkt, bin ich sicher, dass er älter ist als ich.“ Sie hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt und sah ihn herausfordernd an. Lucthen unterdrückte ein verzweifeltes Stöhnen. Wer hätte gedacht, dass sich hinter der verschreckten und schüchternen Frau, die er kennen gelernt hatte, eine solch temperamentvolle und eigensinnige Person verbarg?

„Ich kann sie wohl kaum daran hindern zufällig in die gleiche Richtung zu reisen, in die auch wir unterwegs sind“, knurrte er schließlich verbissen. Crystal lachte und ließ sich auf ihr Bett fallen. „Sie sieht aus wie ein zufriedenes Kätzchen, das gerade eine Schale Milch ausgeschleckt hat“, dachte er. Er konnte nicht verstehen, warum Crystal solch einen Narren an dem burschikosen Mädchen gefressen hatte. Dawn hatte keine Manieren und diese seltsamen Augen! Ein blaues Auge und ein braunes. Und erst dieser Junge! Er bewachte die Gauklerin wie einen kostbaren Schatz und schien ihr all ihre kleinen Frechheiten zu verzeihen. Lucthen wusste nicht, ob der so genannte Zauberkünstler tatsächlich für die Magie begabt war, aber er würde es herausfinden. Schließlich löschte er die Laterne und zog seine Robe aus. „Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, erwiderte sie und er konnte an ihrer Stimme hören, dass sie schon beinahe eingeschlafen war. Lucthen verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte zur Decke, ohne sie wirklich zu sehen. Nachts, vor dem Einschlafen, gestattete er seinen Gedanken zu dem Grund seiner Reise zu wandern und es war immer ihr Gesicht, das er sah, bevor er einschlief.

„Ihr wollt was?“, polterte Corin Masters. Sein Gesicht hatte sich verfinstert, doch Dawn dachte gar nicht daran sich einschüchtern zu lassen.

„Wir werden mit der Baronin und dem Magus in die Auen reisen“, erklärte Dawn ruhig.

„Das kommt ja überhaupt nicht in Frage!“, explodierte Dawns Vater. Maija legte ihrem Mann beruhigend eine Hand auf den Arm.

„Warum wollt ihr denn weggehen?“, fragte sie sanft und erreichte Dawn damit viel eher, als ihr Vater mit seinem Geschrei.

„Ich hab’ keine Ahnung, warum Corus gehen will“, erklärte Dawn patzig und warf ihrem Freund einen bösen Blick zu. Sie verstand immer noch nicht, warum er so hartnäckig darauf bestand mit ihr zu kommen. „Aber ich muss gehen, Mama! Ich glaube es ist mein Schicksal.“

„Und ich werde Dawn nicht alleine lassen“, erklärte Corus entschlossen. „Irgendjemand muss schließlich auf sie Acht geben“, setzte er leiser hinzu.

„Ah, daher weht der Wind“, stieß Corin hervor. „Fates Prophezeiung. Kind, du solltest es eigentlich besser wissen. Sie redet einfach nur irgendetwas! Sie kann genauso wenig in die Zukunft sehen, wie ich mich unsichtbar machen kann.“ Dawn starrte ihren Vater schweigend an, bis er den Kopf senkte. „Er weiß, dass das nicht stimmt“, dachte sie.

„Die Auen – müssen es wirklich die Auen sein, Kind?“, jammerte ihre Mutter. In ihren Augen schwammen Tränen und Dawn trat zu ihr um sie in die Arme zu nehmen. „Ich meine, keiner von uns war je in den Auen. Wir wissen gar nicht, ob der König es gutheißen würde, wenn einer von uns einfach so das Reich verlässt.“ Dawn unterdrückte ein Schmunzeln. Sie erkannte schwachsinnige Argumente, wenn sie welche hörte, und das hieß meistens, dass ihren Eltern die Vernünftigen ausgegangen waren und folglich, dass sie kurz davor stand einen Streit zu gewinnen.

„Mama, ich glaube kaum, dass Talos etwas dagegen hat, wenn ein paar Gaukler in die Auen ziehen.“

„Aber ich habe vielleicht etwas dagegen, wenn meine Tochter von einem Tag auf den anderen beschließt abzuhauen“, brummte Corin. Dawn lachte und umarmte ihren bärbeißigen Vater.

„Ach Papa, wir kommen doch wieder! Und es ist ja nicht so als würde ich gehen wollen, weil ich euch nicht mehr lieb habe, verstehst du? Aber ich muss das tun. Ich muss herausfinden, was in den Wäldern auf mich wartet.“ Dawns Vater schloss seine Tochter so fest in die Arme, dass dieser die Luft zum Atmen weg blieb und plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie hätte nicht gedacht, dass es so schwer sein würde, ihre Eltern zu verlassen! Doch die Entscheidung war gefallen, das spürte sie und sie würde das Beste daraus machen.

Als sie Stunden später allein mit Corus in ihrem Zimmer saß, war sie ganz benommen von den vielen Abschiedsworten, die sie mit allen getauscht hatte. Madame Fate war den ganzen Abend seltsam ruhig gewesen, doch bevor sie gegangen war, hatte sie Dawn kurz beiseite genommen. „Um der Weisheit Talos’ Willen, Kind, ich beschwöre dich, tu es nicht, du rennst in dein Unglück.“ Dawn ärgerte sich. Immerhin waren es ihre Worte gewesen, die sie auf die Idee gebracht hatten! Als sich schließlich alle zurückzogen, hatte sie Corus bedeutet noch zu bleiben.

„Hör zu“, meinte sie jetzt. „Ich weiß das wirklich zu schätzen, dass du mitkommen möchtest… Aber du brauchst das nicht zu tun.“ Es fiel ihr schwer, das zu sagen, denn in Wahrheit wusste sie nicht, ob sie ohne ihn den Mut finden würde wirklich zu gehen, doch sie wollte auch nicht das Gefühl haben, dass sie ihren Freund zu etwas zwang.

„Schon mal auf die Idee gekommen, dass ich mitkommen möchte?“, fragte er mit seinem schiefen Grinsen. „Du brauchst jemanden der auf dich achtet, auch wenn du das selbst nicht glaubst.“ Dawn boxte ihm vorsichtig in die Rippen, doch dann geriet sie aus dem Gleichgewicht, als er sie plötzlich ganz nah an seinen Körper heranzog und ihre Lippen vorsichtig mit den seinen streifte. „Schlaf gut, Dawn“, meinte er; dann verschwand er so schnell aus dem Zimmer, dass Dawn völlig überrumpelt die geschlossene Tür anstarrte. Langsam hob sie ihre Hand und legte die zitternden Finger an die Lippen. Plötzlich musste sie grinsen. Lange stand sie so da, bevor sie zu ihrem Bett ging. Sie kniete nieder und holte einen Gegenstand heraus, der unter der Matratze versteckt gelegen hatte. Vorsichtig hielt sie es in die Luft – ihr Schwert. Sie hatte nicht einmal Corus von ihrem Schatz erzählt. Nein, dieses Schwert gehörte ihr ganz allein. Es fühlte sich richtig an es zu halten, als sei das der Zweck ihres Seins, als sei dieses Schwert der Zweck ihres Seins.

Crystal saß gemeinsam mit ihren Reisegefährten auf einer Wiese. Lucthen hatte diesen Platz für eine kurze Rast ausgewählt und Crystal gefiel er ausnehmend gut. Die weite, offene Fläche erinnerte sie an ihre Heimat. Felder waren in dieser Baronie selten; Forstklamm bestand hauptsächlich aus Wäldern und als Crystal früher an diesem Tag eine Bemerkung darüber gemacht hatte, dass es sie bedrückte vor lauter Bäumen den Himmel nicht sehen zu können, hatte Lucthen nur gemeint, dass das nichts war, im Vergleich zu dem, was sie in den Auen erwarten würde. Also genoss sie es, dass ihr hier die Sonne ungehindert ins Gesicht scheinen konnte. Crystal aß einen der saftigen Äpfel, die Corus gepflückt hatte und bewunderte Dawn. Diese lief gerade auf ihren Händen durchs weiche Gras. Fast schien es, als hätte die lebenslustige Gauklerin zuviel Energie; als könne ihr kleiner Körper sie nicht richtig bündeln und als müsse sie ständig in Bewegung bleiben, weil sie sonst bersten würde. Sie reisten nun schon den zweiten Tag gemeinsam und gestern Abend hatten sich die beiden Frauen ein Zimmer geteilt. Dawn hatte pausenlos vor sich hingeplappert und Crystal hatte sich richtig wohl gefühlt. Lucthen war ein angenehmer Reisegefährte und Crystal wollte ihn nicht missen, doch er war immer so schrecklich ernst und vernünftig. Dawn hingegen war erfrischend unvernünftig und das tat manchmal gut. Crystal bereute es nicht, dass die beiden Gaukler sie nun begleiteten, zumal sie auch den blonden Jungen, der Dawn nie aus den Augen zu lassen schien, gut leiden konnte, doch die Stimmung zwischen Lucthen und Corus wurde ständig angespannter. Crystal konnte fühlen, dass ein Gewitter bevorstand, doch sie hatte keine Ahnung, warum die beiden Männer gar so feindselig waren. Als sich Lucthen, der gerade die Pferde in einem nahe gelegenen Bach getränkt hatte, zu ihnen setzte, versteifte sich Corus merkbar. Crystal unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Unangenehmes Schweigen senkte sich über die Runde, das sogar Dawn zu spüren schien. Sie hörte damit auf irgendwelche Verrenkungen zu vollführen und setzte sich neben Corus ins Gras.

„Warum wurdest du nicht ausgebildet?“, fragte Lucthen schließlich mit täuschend sanfter Stimme.

„Wer sagt, dass ich begabt bin, Magus?“, entgegnete Corus barsch.

„Ich sage es.“ Corus wirkte daraufhin verunsichert und Crystal runzelte verständnislos die Brauen. Was ging es Lucthen an, warum Corus nicht in einer Akademie gewesen war? Crystal glaubte schon, Corus würde gar nicht mehr reagieren, als er schließlich die Achseln zuckte.

„Was geht es dich an?“ Crystal hasste es, wenn sich jemand stritt. Sie musste einschreiten.

„Woher willst du wissen, dass er begabt ist?“, fragte sie an Lucthen gewandt. Dieser hielt seinen Blick jedoch starr auf Corus gerichtet.

„Alles ist Magie. Luft, Erde, Menschen, Tiere, sogar das Meer. Alles, was existiert, ist Teil des magischen Gewebes; alles was ist, existiert nur durch Magie. Es gibt in jedem Menschen einen Funken Magie, ein Funken, der mit dem magischen Netz verbunden ist.“ Lucthens Stimme klang, als würde er aus einem Lehrbuch zitieren und er ließ Corus dabei nicht aus den Augen. „Bei einem Begabten ist die Magie nicht nur ein Funken. In seinem Körper laufen die Fäden der Magie wie Blut, das durch den Körper zirkuliert, mehr oder weniger, je nach seiner Stärke. Über seinen Körper kann der Begabte in das Netz um ihn herum eingreifen. Ein Begabter ist wie ein Mensch, der in einem See schwimmt: jede seiner Bewegungen wühlt das Wasser auf und wird ans Ufer getragen, denn das Wasser überträgt sie, wie das Netz die Bewegungen eines Begabten überträgt. Das Hauptziel der Ausbildung besteht nicht darin Zauber zu lernen, sondern darin seinen Körper zu Wasser zu machen, so dass man sich darin bewegen kann, ohne Wellen zu schlagen. Vom Standpunkt der Magie aus macht es keinen Unterschied, ob die Fäden in der Luft oder im Körper eines Menschen verlaufen. Jede Bewegung, die ein Begabter macht, hat Auswirkungen auf das Gewebe um ihn herum. Ein Begabter, der nicht ausgebildet wurde, ist gefährlich.“

„Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass ich vielleicht nicht freiwillig auf die Ausbildung verzichtet habe?“, entfuhr es Corus. Lucthen entgegnete nichts, doch sein Schweigen war eine Aufforderung weiter zu sprechen. „Ich habe die Ausbildung begonnen“, meinte Corus schließlich. Seine Stimme klang so verzweifelt, dass Crystal wünschte, Lucthen würde den Jungen in Ruhe lassen, doch sie wusste nicht, wie sie das erreichen konnte. „Es wurde mir nicht gestattet sie zu beenden. Ich hatte schon die zweite Stufe der Grauen erreicht. Du musst dir also keine Sorgen machen. Mein Körper ist Wasser im Wasser; ich richte keinen Schaden an.“ Crystal war überrascht, doch Lucthen wirkte beunruhigt.

„Was hast du getan?“, fragte er schließlich. Corus stockte und warf Dawn einen traurigen Blick zu. Das Schweigen zog sich hin, bis er sich schließlich einen Ruck gab und zu erzählen anfing.

„Ich… ich war nicht besonders beliebt in der Akademie. Ich war zu schüchtern um mit den Anderen zu sprechen und ich war einsam. Bis Micel an die Akademie kam. Wir wurden Freunde. Ich habe nie verstanden, warum er ausgerechnet meine Freundschaft gesucht hat, denn ihn konnten alle gut leiden. Er war groß für sein Alter, selbstsicher und sehr begabt. Gemeinsam mit Micel war die Akademie ein wunderbarer Ort. Wir haben so viel Blödsinn angestellt… Dann eines Tages gab es einen schrecklichen Unfall. Wir waren an einem See und kletterten auf Bäume, um uns dann ins Wasser fallen zu lassen. Wir haben viel gelacht, doch dann… Micel sprang ins Wasser und ich dachte, er will mich erschrecken, weil er nicht mehr aufgetaucht ist. Er war immer länger unter Wasser und ich wurde unruhig. Ich sprang in den See und dort fand ich ihn. Er hatte eine Wunde am Kopf. Da war so viel Blut und er atmete nicht mehr.“ Corus’ tränenerstickte Stimme wurde immer leiser und Crystals Herz zog sich zusammen. Sie wusste, wie es sich anfühlte einen geliebten Menschen zu verlieren. „Ich habe ihn ans Ufer geschleppt und bin neben ihm gesessen, bis es dunkel wurde. In meinem Kopf war alles ganz durcheinander. Ich wusste nur eins: ich kann ohne ihn nicht weitermachen. Schließlich zog ich mich an und ging zur Akademie zurück. Ich sagte niemandem was passiert war, sondern ging zur Bibliothek und machte mich auf die Suche nach einem ganz bestimmten Buch. Micel und ich hatten es irgendwann zufällig entdeckt, als ein Magus vergessen hatte, es zurückzustellen. Ein Buch über die Magie der Dunklen.“ Lucthen sog scharf den Atem ein und fixierte Corus mit noch grimmigerem Blick. Corus reckte trotzig die Schultern. „Ich konnte ihn nicht verlieren, ich konnte es nicht! Also habe ich seinen Körper nachts heimlich in die Akademie gebracht um… um ihn wieder zu beleben. Es war riskant. Ich wusste nicht, ob die Gesten funktionieren würden und ich wusste, dass diese Art von Magie weit über meine Kräfte ging und dennoch wollte ich es versuchen. Sobald ich angefangen hatte, wurde es plötzlich dunkel. Die Kerzen brannten noch, doch sie verdichteten nur die Schatten und es wurde kalt und immer kälter. Es wurde immer schwieriger die Gesten auszuführen, doch ich war so fest entschlossen, dass ich weitermachte, bis irgendwann die Tür aufflog und jemand meine Hände gewaltsam festhielt. Ich hatte mit meinem Zauber sämtliche Magi der Akademie geweckt und alle standen um mich herum und sahen mich betroffen an. In dem Moment begriff ich nur, dass ich versagt hatte, dass es mir nicht gelungen war Micel zurückzuholen. Am nächsten Tag wurde entschieden, dass ich die Akademie zu verlassen hatte. Ich war immer noch wie betäubt; ich wusste nicht wohin. Nach Hause konnte ich nicht. Ich konnte meinen Eltern nicht sagen, wie sehr ich sie enttäuscht hatte. Letztendlich landete ich bei den Gauklern.“ Corus barg sein Gesicht in den Händen und krümmte sich wie unter Schmerzen. Dawn legte ihm die Arme um die Schultern und redete beruhigend auf ihn ein. Crystal stand unter Schock. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich vor der Dunkelheit gefürchtet. Tenebris war tot, die Dunklen vom Antlitz der Erde verschwunden, die Welt war licht. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass sich ein Mensch von der Dunkelheit verführen lassen konnte, dass die Dunkelheit selbst jetzt noch, nach so langer Zeit, ihre Schatten warf. Doch dann dachte sie an die Mörder ihrer Familie und begriff, dass sie schon einmal der Dunkelheit begegnet war.

Der Magus saß scheinbar ungerührt auf seinem Platz, doch in seinem Inneren tobte ein Sturm. Die Tragweite dessen, was der Junge versucht hatte, konnte nicht einmal er vollständig begreifen. Beim Licht! Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass es Elfenzauber gab, die so gut erhalten waren, als dass man sie rekonstruieren konnte. Wie unverantwortlich von den grauen Magi Bücher mit solchem Inhalt einfach herumliegen zu lassen! Es gab in der Geschichte nur eine handvoll Berichte über Menschen, die sich in der Magie der Dunklen versucht hatten und sie alle endeten mit gewaltsamem Tod. Ein normaler Mann würde vermutlich nie auf die Idee kommen, die Dunkelheit um Hilfe zu bitten – zu einem toten Gott zu beten. Doch die Magi wussten, dass obwohl Tenebris und seine Kreaturen tot waren, seine Magie nicht gestorben war. Sie war Teil der Erde und der Luft und wenn man nur wollte, konnte man an diesem dunklen Netz genauso rühren wie an Lucis’ lichtem. Durch die jahrtausendelange Herrschaft des Lichts war das dunkle Netz verblasst, doch verschwinden würde es vermutlich nie. Lucthen blickte auf den Jungen, der mittlerweile laut schluchzte. Er hatte kein Mitleid mit ihm. Wer dumm genug war so etwas zu versuchen, hatte das Recht verwirkt an einer Akademie zu studieren. Dawn hielt ihren Freund in den Armen und was sie sagte, goss Öl in Lucthens inneres Feuer.

„Du hast nichts Unrechtes getan, Corus“, versicherte sie ihm. „Es ist nur natürlich, dass du deinen Freund nicht verlieren wolltest. Ehrlich, wenn ich in deiner Lage gewesen wäre, ich hätte das Gleiche versucht.“ Dummes, törichtes Kind. Sie wusste ja nicht, was sie da sagte. Zu Lucthens Erstaunen hob Corus den Kopf, um seiner Freundin zu widersprechen.

„Nein, Dawn. Ich hätte das nicht tun dürfen. Es war schrecklich falsch; ich weiß das jetzt.“ Um Entschuldigung heischend blickte er zu Lucthen auf. Der Magus seufzte innerlich. Es hatte vermutlich keinen Sinn, wenn er ihn jetzt anschreien würde. Er bezweifelte auch, dass eine Tracht Prügel dem Jungen helfen würde seinen Fehler einzusehen, obwohl es ihm selbst dadurch ohne Zweifel besser gehen würde. Lucthen nickte.

„Ja, was du getan hast war falsch. Ich gehe davon aus, dass du daraus etwas gelernt hast.“ Corus nickte erschöpft. Verdammt, jetzt tat ihm der Junge doch leid. „Vielleicht war die Strafe zu hart“, hörte er sich zu seiner eigenen Verwunderung sagen, während er aufstand und Crystal seine Hand reichte. „Wir sollten aufbrechen.“ Crystal legte ihre Finger in seine Hand und ließ sich von ihm aufhelfen. Er merkte, dass sie leicht zitterte und so schenkte er ihr ein aufmunterndes Lächeln. Sie wollten gerade die Pferde, die in der Nähe gegrast hatten, einfangen, als aus den Hecken plötzlich zwei Gestalten hervorbrachen. Lucthen erstarrte. So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen. Die Kreaturen gingen auf zwei Beinen, ihre wuchtigen Körper waren von schwarzen Lederrüstungen verdeckt, doch ihre Gesichter hatten nichts Menschliches. Ihre Haut war wie die einer Kröte, dunkel und vernarbt. Die unteren Eckzähne sahen aus wie die Hauer eines Wildschweins und ihre Augen waren völlig schwarz. Die Tatsache, dass sie mit gezogenen Äxten auf sie zustürmten, beunruhigte Lucthen lange nicht so sehr wie ihr seltsames Aussehen. Neben ihm schrie Crystal erschrocken auf und er begriff, dass das kein Traum war. Er reagierte instinktiv. Seine Hände formten die Geste der Bewegung und dann ihre Umkehrung. Zufrieden registrierte er, dass eines der Krötenwesen mitten im Lauf erstarrte. „Schnell, zu den Pferden!“, rief er. Als Crystal nicht reagierte, wollte er sie am Arm packen und mit sich ziehen, doch dann sah er wie Dawn aus ihrer Satteltasche ein Schwert zog und er blieb stehen. Sein Verstand sagte ihm, dass es nur eine Waffe war. Eine Waffe in den Händen eines Freundes und somit weniger gefährlich als die Krötenwesen; und doch hatte er einen Moment lang das Gefühl, dass er sich lieber in die Äxte der Feinde stürzen würde, als Dawn zu nahe zu kommen. Panische Angst stieg in ihm auf und raubte ihm den Atem – ihm wurde schwarz vor Augen… Dann war der Moment vorüber. Entschlossen zog er Crystal mit sich und beobachtete aus den Augenwinkeln wie Dawn auf eine der Kreaturen zulief.

„Du musst ihr helfen!“, stieß Crystal hervor. Corus lief Dawn hinterher und Lucthen zögerte kurz. Schließlich gab er sich einen Ruck und folgte den Beiden. Crystal hatte Recht. Dawn hatte gegen die Krötenwesen keine Chance. Das Schwert sah so groß und wuchtig aus, dass Lucthen ernsthaft bezweifelte, dass ihr damit auch nur ein einziger Schlag gelingen würde. Er war noch nicht weit gekommen, als Dawn den ersten Angreifer erreicht hatte. Corus schrie eine Warnung und Lucthen fluchte leise. Das Gör würde sich umbringen! Doch dann sah er mit Erstaunen, dass Dawn den ersten Hieb der Axt geschickt parierte und im Gegenzug ihr Schwert mit voller Wucht in den Hals des Angreifers trieb. Mit einem einzigen Streich trennte sie den Kopf vom Rumpf. Ohne innezuhalten sprang sie zu der zweiten Kreatur, die immer noch in Lucthens Zauber gefangen war, und tötete auch diese. Der Magus wusste nicht, ob er befreit aufatmen oder sich vor Dawn in Acht nehmen sollte. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr, drehte sich um und lief sofort los. Zwei weitere Kreaturen waren hinter ihnen aufgetaucht. Sie hatten Crystal, die alleine stand, erspäht und hasteten auf sie zu. Crystal hatte sie noch nicht bemerkt und Lucthen rief eine Warnung. Auch Dawn und Corus hatten die neuen Angreifer bemerkt und beeilten sich, Crystal zu Hilfe zu kommen. Doch sie würden es nicht schaffen. Der erste Krötenmensch hatte die Bardin bereits erreicht. Er holte mit seiner Axt aus und schmetterte sie ihr entgegen. Lucthens Herz setzte einen Moment lang aus. Dawns Schrei gellte ihm in den Ohren.

„Crystal! Nein, bitte nicht!“

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