Loe raamatut: «Die lichten Reiche», lehekülg 6

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Kapitel 4

Niemand wusste, woher der Sumpf kam. Nicht einmal die Druiden, die die Sprache des Waldes sprachen. Alles was sie sagen konnten war, dass der Sumpf tot war, dass sie ihn nicht spüren konnten und daher fürchteten. Begonnen hatte alles vor ungefähr zwanzig Jahren: Ein Stück des Waldes starb. Anfangs dachten die Druiden, dass die Überschwemmungen daran Schuld seien, dass das Salzwasser die Wurzeln der Bäume zerfressen hatte. Doch als immer mehr Wald starb und dem Sumpf Platz machte, wurde deutlich, dass mehr dahinter steckte. Der Sumpf war eine Brutstätte für seltsame Wesen. Immer neue Kreaturen erhoben sich daraus und bedrohten den Wald und die Menschen. Am schlimmsten waren die Fort’mai. Obwohl sie aussahen wie Tiere und sich nur durch Grunzlaute zu verständigen schienen, konnten sie Waffen gebrauchen. Die Wachen sorgten dafür, dass sie im Sumpf blieben und nicht auch den restlichen Wald unsicher machten.

Während Thistle seine Augen suchend über den Sumpf gleiten ließ, den Bogen gespannt und schussbereit, fragte er sich wieder und wieder, was die Menschen getan hatten um Lucis so sehr zu verärgern, dass sie ihnen diese Strafe aufbürdete. Seit fast einem halben Jahr war er nun bei den Wachen, die an der Grenze zwischen dem Sumpf und den Wäldern patrouillierten. Er hatte natürlich schon davor gewusst, dass der Sumpf existierte, doch er hatte sich nicht wirklich eine Vorstellung davon machen können, was er bedeutete. Wie ein Geschwür der Wälder war er – wie eine Krankheit des Landes selbst. Thistle war heilfroh, dass seine Zeit bei der Wache bald vorbei war und dass er wieder zu seiner Sippe zurückkehren konnte.

„Ho!“, schallte ein scharfer Ruf durch die Wälder. Thistle kannte den Befehl und verstärkte seine Bemühungen in dem dichten Bodennebel, der über dem Sumpfgebiet lag, etwas zu erkennen. Als er rechts von sich eine Gestalt wahrnahm, überlegte er nicht lange. In einer routinierten Bewegung nahm er einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn an und schoss. Thistle war der beste Bogenschütze seiner Sippe. Sein Pfeil traf das Ziel. Kaum einen Moment später bohrten sich zwei weitere Pfeile in den unachtsamen Fort’mai. Thistle atmete tief durch. Solange es ihnen gelang die Kreaturen schon im Sumpf zu töten, war alles in Ordnung, doch wenn sich die Fort’mai zu größeren Gruppen zusammenschlossen kam es vor, dass sie die Wachen erreichten. Thistle hatte mitangesehen, wie ein Mann an den Wunden, die die Fort’mai geschlagen hatten, gestorben war. Unachtsamkeit konnte tödlich sein.

„Guter Schuss“, ertönte die Stimme seines Freundes Forest neben ihm. Thistle grinste.

„Ich muss sagen, ich jage trotzdem lieber Hasen.“

Als Crystal Lucthens Warnschrei hörte, fuhr sie erschrocken herum. Sie sah eine riesige Axt wie einen wirbelnden Schatten auf sich zukommen und drehte sich instinktiv zur Seite. Sie war nicht schnell genug und als die Waffe ihren rechten Arm streifte, wurde sie von der Wucht des Schlages zu Boden geschleudert. Der Aufprall trieb ihr die Luft aus den Lungen, ein heftiger Schmerz fuhr durch ihren Körper und ihr wurde kurz schwarz vor Augen. Crystal kämpfte gegen die drohende Ohnmacht an, blinzelte heftig und sah, dass die Kreatur bereits über ihr stand und zum nächsten Schlag ausholte. Die junge Bardin rollte sich zur Seite um dem tödlichen Hieb auszuweichen. Als sie auf ihrem verletzten Arm zu liegen kam, schrie sie vor Schmerzen auf. Die Axt grub sich neben ihr in den Boden, wühlte das Erdreich auf und Erdklumpen trafen Crystal am Hinterkopf, sie hörte das überraschte Grunzen ihres Angreifers und blickte über ihre Schulter. Der Krötenmensch riss die Axt erneut hoch, bereit für den nächsten Schlag – doch er führte ihn nie aus. Ein leises Sirren in der Luft und ein Aufblitzen von Silber waren die einzigen Warnungen; dann fiel Crystal der Kopf des Krötenwesens vor die Füße. Etwas Warmes, Rotes spritzte auf ihr Kleid, ihren Körper, ihr Gesicht. Der Körper der Bestie sank in sich zusammen und dahinter stand Dawn, das blutige Schwert immer noch erhoben. Die Augen der Gauklerin glänzten und einen Moment lang fürchtete Crystal, dass Dawn sie nicht erkennen und auch auf sie losgehen würde. Das Mädchen atmete schwer, stand bebend da; dann wandte es sich mit einem leisen Knurren ab. Im nächsten Moment war Lucthen bei ihr. Er kniete sich neben sie, drehte sie zu sich und griff vorsichtig nach ihrem verletzten Arm, doch Crystal konnte ihren Blick nicht von Dawn lösen. Crystals Freundin ging langsam auf eine weitere Kreatur zu, die nur ein paar Schritte entfernt stand, die Axt erhoben, das Maul zu einem Schrei geöffnet, doch sie bewegte sich nicht. Wie eingefroren stand sie in dieser seltsamen Pose. Dicht vor der Bestie blieb Dawn stehen, legte den Kopf zur Seite und musterte die fremdartige Gestalt. Dann hob sie das Schwert und stach es dem Krötenwesen tief in den Bauch. Crystal keuchte erschrocken auf. Der Anblick, wie Dawn die wehrlose Kreatur einfach abschlachtete, hatte etwas Entsetzliches.

„Hol Wasser, Corus!“ Lucthens Stimme drang an ihre Ohren und zum ersten Mal lenkte sie ihren Blick zu jener Stelle an ihrem Arm, von der immer noch ein scharfes Brennen ausging. So viel Blut… „Ganz ruhig, das wird schon wieder“, meinte Lucthen und stützte sie. „Es sieht schlimmer aus als es ist.“ Crystal nickte zitternd. Sie hatte keine Kraft um ihm zu antworten, denn jetzt, wo sie das ganze Ausmaß der Situation erfasste, erforderte es ihre ganze Konzentration, bei Bewusstsein zu bleiben. Lucthen säuberte die Wunde, die von der Schulter bis zum Ellenbogen reichte. Anschließend vollführte er einige seltsam anmutende Gesten über der Verletzung und Crystal beobachtete mit Staunen, dass die Blutung stoppte und die Wundränder sich zusammenzogen. Corus reichte ihm schweigend ein paar Tücher und gemeinsam legten sie ihr einen Verband an. „Du brauchst Ruhe“, meinte Lucthen und drückte sie sanft zu Boden. Corus breitete einen Mantel über sie, dann standen die beiden Männer auf und blickten besorgt auf sie nieder. Crystal versuchte ein – wie sie hoffte – beruhigendes Lächeln aufzusetzen, doch es wollte ihr nicht wirklich gelingen. Ihre Verletzung verursachte ihr immer noch Schmerzen und ihr war übel. Dann wandte sie den Kopf zur Seite, ihr Blick suchte Dawn. Diese kniete im Gras, das Schwert, dessen Klinge rot war von Blut, lag vor ihr. Sie starrte vor sich hin und wirkte so verloren und einsam, dass Crystal zu ihr wollte um ihr Trost zu spenden, doch noch bevor sie sich aufsetzen konnte, verschwamm die Welt vor ihren Augen und gnädige Dunkelheit umfing sie.

„Wir wissen doch gar nicht, was diese Kreaturen von uns wollten; wie kannst du dir dann so sicher sein, dass sie hinter dir her waren?“, fragte Dawn. Nachdem Crystal wieder zu sich gekommen war, waren sie zur nächsten Taverne geritten und hatten sich dort ein Zimmer genommen. Sie hatten entschieden die Reise zu unterbrechen, bis es Crystal besser ging. Der Schock des Nachmittages saß allen noch in den Knochen – Corus war noch schweigsamer als sonst, Lucthen umsorgte Crystal wie ein krankes Kind und die Bardin selbst war noch immer ziemlich blass. Dawn wollte lieber nicht so genau darüber nachdenken, was heute passiert war. Lucthen und Corus hatten die Leichen verbrannt. Dawn hatte das für überflüssig gehalten, doch der Magus meinte, er könne es nicht verantworten, dass diese Kreaturen noch länger in Talos’ Reich verweilten.

„Ich habe es doch schon erklärt“, meinte Crystal. Ihre schöne Stimme klang müde und traurig. „Ich werde nicht zulassen, dass meinetwegen noch mehr Menschen sterben.“ Dawn kniete neben Crystals Bett nieder und fasste nach ihrer Hand.

„Was passiert ist war nicht deine Schuld, hörst du?“

„Sie waren hinter mir her.“

„Das kannst du nicht wissen“, beharrte Dawn. „Und ich lasse mich nicht so einfach wegschicken. Ich will bei dir bleiben. Was hättest du denn heute Nachmittag gemacht, wenn du alleine gewesen wärst? Du hättest den Angriff nicht überlebt, das kann ich dir sagen, und dann wärst du den Talosreitern und deinem verehrten Meister Martim eine große Hilfe gewesen.“ Crystal war bei Dawns harschen Worten noch eine Spur blasser geworden, doch Dawn wusste, dass sie Recht hatte und so fuhr sie unbeirrt fort. „Außerdem haben die Mörder deiner Familie nichts, aber auch gar nichts, mit diesen schleimigen Kreaturen zu tun.“ Dawn konnte sehen, wie sich ein Hoffnungsfunke in Crystals Augen schlich. „Wer weiß aus welcher finsteren Höhle diese Kreaturen gekrochen kamen. Ich meine, hat einer von euch jemals so etwas gesehen?“ Lucthen schüttelte den Kopf und auch Corus verneinte.

„Ich bin nicht sicher, ob irgendjemand in den Mittellanden je solche Kreaturen zu Gesicht bekommen hat“, meinte Lucthen schließlich.

„Dann wäre also alles geklärt. Wir reisen gemeinsam weiter, wenn es dir besser geht.“ Dawn erhob sich schwungvoll. Crystal richtete einen flehenden Blick auf Lucthen, doch auch der war nicht bereit ihrer Bitte nachzugeben.

„Ich werde in die östlichen Wälder reisen“, meinte er. Sein Tonfall machte klar, wie sinnlos es wäre ihm zu widersprechen. „Und ich werde dich jetzt ganz bestimmt nicht alleine lassen.“ Crystal nickte, obwohl sie offensichtlich immer noch nicht ganz überzeugt war.

„In ein paar Tagen sind wir sowieso nicht mehr in den Mittellanden, dann sollte die Gefahr ohnehin vorüber sein“, meinte Dawn leichthin. Corus bedeutete ihr, ihm nach draußen zu folgen und Dawn fügte sich seinem Willen. Er zog sie mit sich in sein Zimmer und schloss die Tür hinter ihnen. Dawn schaute ihn misstrauisch an.

„Vielleicht hat Crystal Recht, Dawn. Vielleicht sollten wir besser unsere Sachen packen und umkehren“, meinte er schließlich. Dawn verdrehte genervt die Augen und ließ sich auf Corus’ Bett plumpsen.

„Nicht du auch noch… Glaubst du wirklich, dass diese Kreaturen hinter ihr her waren?“ Corus schüttelte bedächtig den Kopf und nahm neben ihr Platz. Wie sie so auf dem Bett saß, die Wangen vor Ärger leicht gerötet, war sie ganz jene Dawn, die er kannte und mochte, doch heute Nachmittag…

„Dawn, woher hast du das Schwert?“ Dawn funkelte ihn wütend an.

„Was geht dich das an, frag’ ich mich? Vielleicht hat Corin es mir zum Abschied geschenkt?“

„Ja, vielleicht. Hat er aber nicht, oder?“ Dawn starrte schweigend vor sich hin. Verdammt, sie konnte ihn nicht belügen.

„Ich hab es gefunden. Zufrieden?“

„Nein! Ich bin alles andere als zufrieden. Was heißt gefunden, Dawn? Hast du es genauso gefunden wie du Geldbeutel findest?“ Dawn blinzelte.

„Du weißt davon?“ Wenigstens besaß sie genügend Anstand, ihn schuldbewusst anzusehen. Corus nickte.

„Ich wusste es die ganze Zeit.“

„Warum hast du nie irgendwas gesagt?“ Corus zuckte mit den Schultern.

„Wir sind Freunde, oder?“

„Ich hab nie viel genommen, Corus. Ich schwöre es. Ich… Es tut mir leid.“ Dawn wusste nicht, was sie tun konnte, um es wieder gutzumachen. Seine Augen, die sonst in einem hellen Blau leuchteten, hatten sich verfinstert und Dawn hatte das Gefühl, als hätte sie seine Freundschaft verloren. Sie schluchzte auf. Corus konnte nicht mit ansehen, wie sie sich quälte. Er streckte die Arme aus und zog sie an seine Brust. Sanft streichelte er ihr übers Haar.

„Schon gut, Dawn. Ich werde es den Anderen nicht sagen. Ich will doch nur nicht, dass du Schwierigkeiten bekommst, verstehst du? Heute Nachmittag hatte ich kurz den Eindruck, dass nicht du das Schwert führst, sondern dass das Schwert dich führt. Ich weiß das klingt idiotisch, aber Dawn, mir wäre lieber, du würdest es nicht mehr benutzen.“ Dawn versuchte das Entsetzen, das seine Worte in ihr auslöste, zu verbergen, indem sie den Kopf an seinem Hals barg und sich beharrlich weigerte ihn anzusehen. Er hatte es also auch gespürt. Sie atmete seinen vertrauten Geruch ein und versuchte sich zu beruhigen. Doch sie konnte nicht leugnen, dass sie heute das Lied gehört hatte, das das Schwert sang, als sie es geführt hatte; ein Lied, das direkt zu ihrem Herzen zu sprechen schien. Ein Lied. Ein Wort: ‚Blut, Blut, Blut…’, hatte das Schwert gesungen und Dawn hatte mitgesungen.

„Ich werde es nicht mehr benutzen“, murmelte sie schließlich leise. Es klang, als müsse sie sich selbst davon überzeugen.

Seit den frühen Morgenstunden hatten sie keine Menschenseele mehr gesehen. Lucthen hatte gewusst, dass die Grenzlande zwischen den Reichen nicht sehr dicht besiedelt waren, doch das hier war Niemandsland. Zum Glück hatten sie vorgesorgt und genügend Proviant und Schlafrollen mitgenommen. Ab jetzt würden sie vermutlich im Freien übernachten müssen. Lucthen wusste nicht, ob sie die Grenze zu Eidos’ Reich schon überschritten hatten; er wusste nicht, wie die Bewohner der Auen reagieren würden, wenn sie die Reisegruppe sahen. Es fiel ihm immer schwerer die eigene Ungeduld zu zügeln. Seit dem Tag, an dem Liisatiina verwundet wurde, hatte er sie nicht mehr gesehen und mit jeder Stunde wurde er unsicherer. Lebte sie überhaupt noch? Und was würde er tun, wenn er sie gefunden hatte? Crystals Verletzung hatte sie zwei Tage gekostet. Was für eine sture Frau sie doch war; sie wollte doch tatsächlich, dass sie sie alle im Stich und sie alleine weiterreisen ließen. Obwohl Lucthen den Vorschlag lächerlich fand, respektierte er sie für ihren Wunsch andere zu schützen, auch wenn sie selbst darunter zu leiden hatte. Es war ihm längst klar geworden, dass er seinen ursprünglichen Plan, Crystal bei dem Magus in den östlichen Wäldern abzusetzen und sich dann auf die Suche nach Liisatiina zu machen, nicht würde umsetzen können. Sie würden sich nicht trennen. Wenn sie mit dem Magus geredet hatten, konnten sie danach Liisatiina suchen. Er würde Crystal nicht alleine lassen. Die Dämmerung brach langsam herein und Lucthen begann sich nach einem Nachtlager umzusehen. Je weiter sie nach Osten gekommen waren, desto dichter waren die Wälder geworden. Jetzt gerade ritten sie durch einen jungen Buchenwald. Die Blätter rauschten im leichten Wind und das Gezwitscher von Vögeln war zu hören. Die Luft war angenehm kühl und Lucthen genoss den Ritt.

Dann plötzlich änderte sich alles. Die Dinge waren gleich und doch so vollständig anders, dass Lucthen die Worte fehlten, die Änderungen zu beschreiben. Benommen blickte er sich um, suchte irgendetwas, woran er sein Gefühl festmachen konnte. Doch er fand nichts. Der Wald sah noch genauso aus wie zuvor, die Blätter bewegten sich immer noch im Wind. Und doch schmeckte die Luft anders, hörten sich die Geräusche des Waldes anders an. Er wandte sich nach den Anderen um und las in ihren Gesichtern dasselbe fassungslose Staunen, das er selbst verspürte. „Wir haben die Grenze überschritten“, murmelte Crystal. Niemand erwiderte etwas und doch spürten alle, dass sie Recht hatte. Lucthen hatte natürlich Berichte darüber gehört, dass die Elfenherrscher mit ihrem Land verbunden waren, doch das war für ihn nie mehr als graue Theorie gewesen; Sätze, deren tiefere Bedeutung er nicht erfassen konnte. Jetzt verstand er sie. Im Stillen grüßte er Eidos, die Herrin der Wälder. Er entschuldigte sich für ihr unerlaubtes Eindringen und versicherte ihr, dass sie keine bösen Absichten hatten. Vielleicht war das lächerlich. Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls fühlte er sich danach besser.

Als sie später an diesem Abend bei einem kleinen Feuer, welches sie mühsam entfacht hatten, zusammen saßen, spielte Crystal auf der Harfe. Keines der alten Lieder, sondern einfach ein Lied des Willkommens, das die Stimmung der Wälder einfing. Sie verwob das Vogelgezwitscher und die Geräusche des Windes zu einem einzigartigen Klang, der so sehr zum Land zu passen schien, dass Dawn sich danach erkundigte, ob Crystal schon einmal hier gewesen war. Die Bardin verneinte.

„In den Mittellanden wollte ich mich nie so recht mit den Wäldern anfreunden“, meinte sie, „doch hier fühle ich mich geborgen unter dem Blätterdach. Ich bin eigenartig zufrieden hier zu sein.“ Corus grinste.

„Ich frage mich, wie lang es dauern wird, bis wir die Annehmlichkeiten einer anständigen Taverne vermissen werden.“

Thistle erwachte als es noch dunkel war, doch sein Gefühl sagte ihm, dass es ohnehin bald Zeit aufzustehen gewesen wäre und so zog er sich leise an, um die Anderen nicht zu wecken, und schlich sich aus dem Lager. Auf einem Baumstumpf ließ er sich schließlich nieder und starrte ins Leere. Die Bilder seines Traumes standen ihm noch deutlich vor Augen:

Er blickte an sich selbst hinab. Die braune Lederrüstung, die kräftigen Hände. Dann hob er den Blick zum Himmel, als würde er etwas suchen oder auf etwas warten. Plötzlich kreiste ein Falke über ihm. Er bewunderte den eleganten Flug des Vogels und streckte ihm unwillkürlich den Arm entgegen. Ungläubig beobachtete er, wie der Falke tatsächlich immer tiefer kreiste und schließlich auf seinem Unterarm landete. Scharfe Krallen gruben sich tief in Thistles Fleisch, doch im Traum verspürte er keinen Schmerz. Er sah gebannt auf die Krallen des Tieres, die rot waren von seinem Blut. Dann flog der Falke wieder auf und Thistle starrte ihm hinterher. Sein Blickwinkel änderte sich und er sah die Bäume unter sich vorbeiziehen, spürte das rhythmische Schlagen seiner Flügel und wusste, dass seine Augen von der Farbe von Bernstein waren und durchdringender als die bitterste Kälte. Er war der Vogel und flog Richtung Osten. Die Wälder wurden immer dichter. Wenn er nicht fliegen könnte, hätte er keine Chance sie zu überwinden, begriff er. Immer weiter flog er, bis sich die Wälder wieder lichteten und plötzlich änderte sich seine Perspektive noch einmal. Er hatte keinen Körper mehr, brauchte ihn nicht mehr. Um ihn herum saßen Druiden am Boden. Männer, Frauen, Kinder. Gebannt starrten sie in den Himmel und er folgte ihren Blicken. Da sah er den Falken wieder. Er kreiste eine Zeit lang, dann landete er auf dem tiefliegenden Ast einer Weide. Welch wunderschönes Tier! Thistle konnte seinen Blick nicht von ihm wenden. Und dann sah er es. Die Krallen des Falken waren voller Blut. Langsam löste sich ein schwerer Tropfen. Thistle sah gebannt zu, wie das Blut, sein Blut, langsam auf die Erde fiel. Als der Tropfen auf dem Boden aufschlug und zerplatzte, erwachte er.

Er zog zumindest in Erwägung, dass er sich täuschen könnte. Doch instinktiv wusste er, dass dem nicht so war. Er war gerufen worden. Zum Glück hatte er heute sein letzter Tag bei der Sumpfwache und er würde ohne Verzögerung nach Hause aufbrechen können. Was dann zu tun war, musste er mit dem Druiden besprechen. Thistles Blick glitt über die Sümpfe und die Berge, die dahinter aufragten. Die ersten Strahlen der Sonne tauchten sie in warmes Licht.

„Vielleicht sind die Auen unbewohnt?“, mutmaßte Dawn. Stille folgte ihren Worten. Stille, die ihr Recht zu geben schien. Sie hatte damit gerechnet, dass ihr der Magus widersprechen würde; dass er es nicht tat, beunruhigte Dawn. Konnte es sein, dass sie Recht hatte und Eidos’ Reich nur von Bären, Wildschweinen und Eichhörnchen bewohnt war? Sie reisten jetzt den dritten Tag, ohne einer Menschenseele begegnet zu sein. Die wilden Tiere des Waldes waren scheu, doch nicht furchtsam. Dawn dachte, dass sie sich nicht so benahmen, als hätten sie mit Menschen schon Erfahrungen gemacht. Seit sie in den Auen waren, hatten sie ihren Proviant kaum gebraucht. Die Wälder boten ein reiches Angebot an Speisen und sie ernährten sich von Beeren, Wurzeln und Pilzen. Wenn sie in den letzten Stunden des Tages bei einem Lagerfeuer zusammen saßen, dann hatte sie manchmal das Gefühl, als wären sie bereits Freunde geworden. Dawn hatte beobachtet, dass Lucthen Corus nicht mehr ganz so distanziert behandelte, seit dieser seine Geschichte erzählt hatte. Fast schien es, als hätte er Corus unter seine Fittiche genommen. Dawn verzog genervt das Gesicht, als sie an die langweiligen Vorträge dachte, die Lucthen ihrem Freund hielt. Corus hing jedoch mit Anbetung an den Lippen des Magus. Nun, sie musste gestehen, dass er nicht so übel war wie sie zuerst befürchtet hatte. Anfangs hatte er ja wie ein Eisblock, ohne jegliches Gefühl, gewirkt. Corus hatte ihr allerdings erklärt, dass Magi eine eiserne Körperbeherrschung lernen mussten, um nicht unbeabsichtigt Magie zu wirken und dass viele Magi diese Lektionen so sehr verinnerlichten, dass sie nie lächelten oder irgendeine Regung zeigten. Doch Dawn war eine aufmerksame Beobachterin und mit der Zeit hatte sie gelernt, in Lucthens unbewegtem Gesicht zu lesen; dass er Crystal gut leiden konnte, war ihm zum Beispiel deutlich anzumerken und auch, dass er sie selbst für einen unbändigen Wildfang hielt. Nun, ihr war egal, was er von ihr hielt, solange er Corus freundlich behandelte. Außerdem hatte sie gelernt, ihn nicht zu unterschätzen. Ein paar Tage nach dem Vorfall mit den Krötenmenschen hatte er sie ganz beiläufig gefragt, wie sie zu einem solchen Schwert kam. Ihr war fast das Herz stehen geblieben, so sehr hatte er sie mit der Frage überrumpelt, dann hatte sie irgendetwas von ihrem Vater und einem Abschiedsgeschenk gestottert. Er hatte die Sache auf sich beruhen lassen, doch Dawn vermutete, dass er ihr nicht glaubte. Wenn Crystal nicht wäre, hätte Lucthen vielleicht etwas dagegen mit ihnen zu reisen, doch er fügte sich ihren Wünschen. Genau wie Corus und sie selbst es taten. Sie konnte sich selbst nicht so genau erklären warum, aber irgendwie war sie ständig darum bemüht, Crystal einen Gefallen zu tun. Es tat so gut sie lachen zu hören oder zu sehen, wie ihre Augen in kindlicher Freude aufblitzten. Sie war wirklich ganz erstaunlich. Manchmal hielt sie sich wie eine Baronin, dann wieder wirkte sie traurig und verloren. Wenn sie etwas sah, das ihr gefiel, konnte sie staunen wie ein kleines Kind und wenn Dawn sie ermutigte, konnte sie genauso übermütig sein wie sie selbst. Seit Crystal ihnen erzählt hatte, was mit ihrem Bruder und dessen Frau geschehen war, bemühte sie sich die Bardin abzulenken. Gestern Nachmittag hatten sich die beiden Frauen in einem Bach das Haar gewaschen und Dawn hatte danach leichthin gemeint:

„Komm, lass mich deine Zofe spielen. Ich bürste dir dein Haar aus.“ Crystal hatte gezögert und schließlich geantwortet:

„Nur, wenn ich danach deine Zofe spielen darf.“ Also hatten sie sich gegenseitig das Haar frisiert und Dawn hatte zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl gehabt, dass sie eine Freundin gefunden hatte. Als sie dann gemeinsam zu den Anderen zurückgekehrt waren, sahen sie wie Lucthen Corus gerade eine Geste beibrachte. Corus’ Gesicht war vor Konzentration ganz rot gewesen und Dawn hatte herzlich gelacht. Bevor Corus wütend werden konnte, hatte der Magus gemeint, dass er mit den Fortschritten des jungen Mannes zufrieden war und dass sie besser morgen weitermachen sollten. Dieses Kompliment hatte Corus seinen Zorn vergessen lassen und sie hatten ein friedliches Abendessen genossen. Danach hatte Corus Crystal gebeten, dass sie etwas auf der Harfe spielen sollte und diese war seinem Wunsch nachgekommen. Ihre Musik hatte sich auf eigenartige Weise verändert. Sie folgte jetzt nicht mehr den Regeln der Liedmeister, die die Gesänge in Bild, Klage und Mahnung teilten. Sie spielte einfach, was ihr in den Sinn kam und je länger sie in Eidos’ Reich weilten, desto besser schien Crystal den Zauber der Natur in ihr Lied bannen können. Diese Waldlieder versetzten Dawn immer in vollkommenen Einklang mit ihrer Umgebung und wenn sie sich danach niederlegte, fühlte sich der Boden unter ihrer Schlafrolle nicht unangenehm hart an und das Blätterdach über ihrem Kopf rauschte seltsam tröstlich in ihren Ohren. Dawn fühlte sich zufrieden und Madame Fates Warnungen waren vergessen.

Crystal hatte sich auf ihrer Schlafmatte zusammengerollt und schaute in den Himmel. Es war eine klare Nacht. Der Mond schien durch die Blätter der Bäume und die Sterne leuchten von einem wolkenlosen Himmel. Es war vermutlich kurz vor Mitternacht. Die Anderen schliefen schon lange und Crystal lausche ihren entspannten Atemzügen. Sie selbst fand keinen Schlaf. Kurz entschlossen stand sie auf. Vielleicht würden ihre angespannten Nerven Ruhe finden, wenn sie ein wenig spazieren ging. Sie hatten ihr Lager in der Nähe eines kleinen Baches aufgeschlagen und Crystal beschloss seinem Lauf zu folgen. Der Gedanke, dass die Krötenmenschen ihr in die Auen folgen könnten, quälte sie. Es wäre für ihre Freunde vermutlich das Beste, wenn sie ihre Sachen packen und alleine weitergehen würde. Doch Crystal wusste, dass sie dazu nicht den Mut aufbringen würde. Sie hatte keine Angst vor dem Wald und den wilden Tieren, die in ihm wohnten. Nicht, seit sie das erste Mal das Waldlied gespielt hatte. In dem Moment hatte sie gewusst, dass sie in den Auen willkommen war. Doch wie sollte sie sich verteidigen, wenn sie jemand angriff? Crystal wusste sehr wohl, dass sie das nicht konnte. Außerdem würde sie Lucthens ruhige Zuversicht, Dawns Lebendigkeit und Corus’ Schlauheit zu sehr vermissen. Wie schrecklich einsam es sein musste, alleine zu reisen. Zum wiederholten Mal fragte sich Crystal, ob ihr die Talosreiter die Wahrheit gesagt hatten. Gab es wirklich jemand in den östlichen Wäldern, der ihr helfen konnte? Sie hatte eigentlich keinen Grund den Boten des Elfenkönigs zu misstrauen und dennoch fühlte sie, dass mehr hinter der ganzen Sache steckte, als ihr die Drei gesagt hatten. Warum würde jemand die Barden töten wollen? Crystal schauderte.

„Unsere Aufgabe ist es nicht nur, die Menschen mit unseren Liedern zu erfreuen, sondern die Menschen daran zu erinnern, wer sie sind“, hatte Meister Martim erklärt. „Die Menschen daran zu erinnern, dass sie Geschöpfe des Lichts sind und dass wir uns bemühen müssen, Gutes zu tun.“ Wenn jemand die Barden zum Schweigen brachte, konnten die Menschen dann vergessen? Als sie Corus’ Geschichte gehört hatte, hatte sie zum ersten Mal begriffen, dass die Menschen durchaus im Stande waren, Böses zu tun. Nicht weil sie böse waren, sondern weil sie es einfach nicht besser wussten. Corus hatte nur Gutes gewollt und dennoch war das, was er getan hatte, schrecklich falsch. Crystal setzte sich am Ufer des Baches ins Gras und blickte ins Wasser. Der Bach floss langsam und ruhig dahin und Crystal betrachtete ihr eigenes Spiegelbild. Ihre Haut schien im Mondlicht weiß wie Milch, ihre Augen unnatürlich groß. Ihr Haar fiel ihr offen über die Schultern. Sie wickelte sich eine Locke um den Finger. Thorben hatte einmal gemeint, ihr Haar habe die Farbe von Herbstlaub. Mit der anderen Hand griff Crystal ins Wasser und zerstörte so ihr Spiegelbild. Sie sollte wirklich versuchen zu schlafen. Seufzend schlich sie zurück ins Lager. Leise legte sie sich wieder auf ihre Schlafrolle und schloss die Augen. Sie atmete tief durch und wartete darauf, dass der Schlaf kommen würde, doch dann hörte sie, dass sich Lucthen unruhig hin und her wälzte. Crystal stützte sich auf einen Ellenbogen und blickte zu ihm, um herauszufinden, ob er wach war. Sie hörte ihn schluchzen und schon war sie auf den Beinen. Im Schlaf waren seine Züge gelockert und verrieten mehr Emotion, als er sich das tagsüber gestattete. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und Crystal überlegte nicht lange. Sie rüttelte ihn.

„Lucthen… Lucthen…“

Lucthen träumte von einem Ort, der so wunderschön war, dass sein Anblick schon beinahe schrecklich war; als würde sich das Bild in seine Gedanken brennen, bis sein Geist nur mehr aus diesem Bild bestand. Eine Kuppel aus flirrender Luft erstreckte sich in den Himmel. Dumpf begriff er, dass es sich um einen Zauber handeln musste. Lucthen konnte unmöglich bestimmen wie groß der Ort war, doch ihm schien er riesig. Er sah Rehe auf einer Wiese grasen und daneben eine Wolfsmutter, die ihre Augen unverwandt auf ihre Jungen gerichtet hatte. Er sah Wildschweine, Luchse und Füchse, Hasen, Wiesel und Eichhörnchen. Alle lebten im Schutz der Kuppel friedlich nebeneinander. Als er weiter in den Ort vordrang, sah er auch Bäume, doch sie waren nicht wie die Bäume, die er kannte. Sie alle schienen zu einem bestimmten Zweck gewachsen zu sein. Er sah eine Gruppe Weiden, die ihre Wurzeln so aus der Erde hoben, dass sie einen Tisch bildeten und ihre Zweige Bänke und Stühle. Die Äste von vier Tannen schienen ein Bett zu formen und darüber wuchsen höhere Bäume, die die Schlafstatt vor Regen und Wind schützten. Schließlich näherte er sich einer Reihe von Bäumen, deren Blätterdach eine riesige Halle formte. Sein Herz schlug schneller, als er eine schlanke Gestalt dort stehen sah. Sie trug ein Kleid in der Farbe von Mondlicht, ihr offenes Haar fiel ihr bis über die Hüften. In der riesigen Blätterhalle wirkte sie verloren. Zum ersten Mal, seit er sie sah, konnte er sie beim Namen nennen: Liisatiina. Kurz leuchteten ihre Augen auf und Lucthen hatte das Gefühl, als wüsste sie, dass er bei ihr war. Doch sie konzentrierte sich sofort wieder und sprach. Lucthen konnte nicht verstehen, was sie sagte. Doch die Antwort, die sie erhielt, dröhnte in seinem Kopf. Kein Klang, den er je gehört hatte, ähnelte der körperlosen Stimme, die er nun vernahm. Verglichen mit der samtenen Schönheit dieser Stimme wirkte Crystals Gesang wie das Krächzen einer Krähe.

„Vielleicht hast du Recht. Vielleicht wurde er wortbrüchig. Doch die Zeit ist noch nicht gekommen. Wir werden helfen so gut wir können, doch das, worum du uns bittest, ist unmöglich. Es wird so geschehen, wie es geschehen soll. Es wird so geschehen, wie es geschehen muss. Vergiss das nicht.“

Lucthen verstand den Sinn der Worte nicht, doch er sah, dass sie Liisatiina tief verletzten. Trotzdem konnte er dieser überirdisch schönen Stimme nicht böse sein. Er sah wie Lissatiina in einer tiefen, respektvollen Geste auf ein Knie sank und er wusste, egal wie sehr die Worte sie auch schmerzten, sie würde nie den Wünschen der Stimme zuwider handeln. Er spürte, dass sie die körperlose Stimme verstand und respektierte und dass es ihr dennoch das Herz zerriss. Lucthen fühlte mit ihr, konnte ihre Qual nicht ertragen. Er beobachtete, wie sie die flirrende Luftbarriere durchschritt, sich danach umdrehte und zu Lucthens Erstaunen sah er nur mehr Wald, ganz gewöhnlichen Wald. Die eigenartige Kuppel war verschwunden, als wäre sie nur eine Illusion gewesen. Und plötzlich hörte er eine Stimme, die seinen Namen rief.

Tasuta katkend on lõppenud.

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