Loe raamatut: «Für Jetzt und Für Immer», lehekülg 2

Font:

KAPITEL DREI

Emily musste mit verschiedenen U-Bahnen fahren, um den Langzeitparkplatz in Long Island City zu erreichen, wo ihr altes, heruntergekommenes Auto stand. Sie hatte es schon seit Jahren nicht mehr verwenden, denn Ben hatte immer darauf bestanden, selber zu fahren, damit er mit seinem kostbaren Lexus angeben konnte. Als sie über den riesigen, schattenreichen Parkplatz lief und ihren Koffer hinter sich herzog, fragte sie sich, ob sie überhaupt noch fahren könnte. Das war auch eines der Dinge, die sie im Laufe ihrer Beziehung hatte schleifen lassen.

Allein schon der Weg hierher, zu diesem Parkplatz am Rande der Stadt, hatte sich endlos angefühlt. Während sie sich ihrem Auto näherte, hallten ihre Schritte auf dem gefrorenen Parkplatz wider und sie fühlte sich fast schon zu müde und erschöpft, um weiter zu gehen.

Machte sie gerade einen Fehler?, fragte sie sich. Sollte sie umkehren?

„Da ist es ja.“

Emily drehte sich um und sah, wie der Parkplatzwächter mit einem schon fast mitleidigen Lächeln auf ihr heruntergekommenes Auto schaute. Er streckte seine Hand aus, in der er ihre Schlüssel hielt.

Der Gedanke daran, jetzt noch eine achtstündige Fahrt vor sich zu haben, kam ihr wie eine überwältigende, unmöglich zu meisternde Herausforderung vor. Sie war bereits jetzt schon so unglaublich erschöpft, sowohl physisch als auch emotional.

„Wollen Sie sie nicht nehmen?“, fragte er schließlich.

Emily blinzelte, sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie mit ihren Gedanken abgeschweift war.

Sie stand dort und wusste irgendwie, dass dieser Moment entscheidend war. Würde sie zusammenbrechen und zu ihrem alten Leben zurücklaufen?

Oder wäre sie stark genug, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen?

Emily schüttelte die dunklen Gedanken ab und zwang sich dazu, stark zu sein. Zumindest für jetzt.

Sie nahm die Schlüssel und ging stolz zu ihrem Auto. Dabei versuchte sie, mutig und selbstsicher zu sein, doch insgeheim war sie nervös, dass es gar nicht mehr anspringen würde, oder dass sie sich nicht mehr daran erinnern könnte, wie man fuhr, wenn er denn doch noch funktionierte.

Sie saß in dem eiskalten Auto, schloss ihre Augen und schaltete den Motor ein. Sie beschloss, dass es ein gutes Zeichen wäre, wenn er ansprang. Wenn er kaputt wäre, könnte sie umkehren.

Sie hasste es, zugeben zu müssen, dass sie sich insgeheim wünschte, dass der Motor nicht mehr funktionierte.

Sie drehte den Schlüssel um.

Er sprang an.

*

Es war für Emily eine große Überraschung und ein Trost zugleich, dass sie immer noch wusste, was sie zu tun hatte, auch wenn die ersten Meter etwas holprig waren. Alles, was sie tun musste war, auf das Gaspedal zu treten und zu fahren.

Es war eiskalt, die Welt flog an ihr vorbei und Stück für Stück schüttelte sie ihre trübe Stimmung ab. Sie schaltete sogar das Radio an, als sie sich daran erinnerte, dass es in dem Auto eines gab.

Bei dröhnender Musik und mit heruntergelassenen Fenstern hielt Emily das Lenkrad fest in ihren Händen. In ihren Gedanken sah sie wie eine der glamourösen Damen in einem der 1940er Jahre Schwarz-Weiß-Filme aus, denen der Wind durch ihre perfekt frisierten Haare wehte. In Wirklichkeit hatte die kalte Februarluft ihre Nase so rot wie eine Beere anlaufen lassen und ihr Haar in ein ungekämmtes Nest verwandelt.

Schon bald hatte sie die Stadt hinter sich gelassen und je weiter in den Norden sie fuhr, desto dichter waren die Straßen von immergrünen Bäumen gesäumt. Sie ließ sich im Vorbeifahren Zeit, ihre Schönheit zu bewundern. Wie einfach sie sich von dem Gedränge und der Geschäftigkeit des Großstadtlebens hatte anstecken lassen. Wie viele Jahre hatte sie vorbeiziehen lassen, ohne die Schönheit der Natur zu bewundern?

Schon bald wurden die Straßen breiter, die Anzahl der Spuren nahm zu und schließlich war sie auf der Autobahn. Sie ließ den Motor aufheulen, zwang ihr heruntergekommenes Auto, immer schneller zu fahren. Durch die Geschwindigkeit fühlte sie sich lebendig und voller Energie. All die Menschen, die in ihren Autos unterwegs waren, und endlich war sie, Emily, auch einer von ihnen. Aufregung schoss durch ihren Körper, als sie immer weiter nach vorne schoss und die Geschwindigkeit so weit erhöhte, wie sie es sich traute.

Ihr Selbstvertrauen erreichte neue Höhen, während die Straße unter den Rädern ihres Wagens vorbeizog. Als sie über die Grenze des Bundesstaates Connecticut fuhr, wurde ihr erst wirklich klar, war sie eigentlich hinter sich ließ. Ihre Arbeit, Ben, sie war endlich all den Ballast losgeworden.

Je weiter sie in den Norden fuhr, desto kälter wurde es und Emily sah schließlich ein, dass es einfach zu kalt war, um das Fenster offen zu lassen. Sie ließ es hochfahren und rieb ihre Hände aneinander, wobei sie sich wünschte, etwas zu tragen, dass dem Wetter angemessener wäre. Sie hatte New York in ihrem unbequemen Arbeitsanzug verlassen und aus einem Impuls heraus ihren Blazer und ihre Stilettos aus dem Fenster geworfen. Jetzt trug sie nur eine dünne Bluse und die Zehen ihrer nackten Füße schienen sich in Eisblöcke verwandelt zu haben. Das Bild des Filmstars aus den 1940er Jahren verblasste in ihren Gedanken, als sie ihr Spiegelbild in dem Rückspiegel erblickte. Sie sah ganz schön durch den Wind aus. Doch das war ihr egal. Sie war frei, das war alles, was zählte.

Stunden vergingen und plötzlich lag Connecticut hinter ihr, es war nur noch eine ferne Erinnerung, nur ein Ort, den sie auf dem Weg in eine bessere Zukunft durchquert hatte. Die Landschaft des Bundesstaates Massachusetts war viel offener. Anstatt der dunkelgrünen Blätter der immergrünen Bäume hatten diese hier ihr Sommerkleid abgeworfen und ragten nun wie dürre Skelette auf beiden Seiten der Straße empor. Zwischen ihnen konnte man hin und wieder Schnee und Eis auf dem harten Boden sehen. Über Emily begann der Himmel, seine Farbe von einem klaren Blau zu einem matschigen Grau zu ändern, was sie daran erinnerte, dass es dunkel sein würde, wenn sie endlich in Maine ankäme.

Sie fuhr durch Worcester. Viele der Häuser dort waren groß, aus Holz gebaut und in verschiedenen Pastelltönen gestrichen. Emily musste sich unwillkürlich fragen, welche Menschen hier wohnten, was für Leben sie führten und welche Erfahrungen sie machten. Sie war nur wenige Stunden von ihrem Zuhause entfernt, doch bereits jetzt erschien ihr schon alles fremd – all die Möglichkeiten, all die verschiedenen Orte, an denen man leben und die man besuchen könnte. Wie hatte sie sieben Jahre lang nur eine Variante des Lebens sehen können, indem sie die alte, bekannte Routine verfolgte und jeden Tag die ganze Zeit auf etwas mehr gewartet und gewartet und gewartet hatte. All diese Zeit hatte sie darauf gewartet, dass Ben sich zusammenreißen würde, damit das nächste Kapitel ihres Lebens beginnen konnte. Doch die ganze Zeit lang hatte sie selbst die Macht gehabt, ihre eigene Geschichte voranzutreiben.

Als sie der Route 290 folgte, fuhr sie über eine Brücke, wo die Straße zur Route 495 wurde. Hier gab es keine Bäume mehr, die sie bewundern konnte, sie wurden von steilen Gesteinsformationen abgelöst. Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass sie die Mittagszeit hatte verstreichen lassen, ohne etwas zu essen. Sie überlegte, ob sie an einem LKW-Rastplatz anhalten sollte, doch das Verlangen, in Maine anzukommen, war zu groß. Sie könnte etwas essen, wenn sie dort ankam.

Weitere Stunden vergingen, als sie schließlich die Grenze zu dem Bundesstaat New Hampshire überquerte. Der Himmel brach auf, die Straßen waren breit und auf beiden Seiten erstreckte sich, soweit man sehen konnte, flaches Land. Emily fragte sich unwillkürlich, wie groß die Welt wohl war, wie viele Menschen wirklich in ihr lebten.

Ihr Optimismus trug sie an Portsmouth vorbei, wo Flugzeuge über ihr herabschossen, ihre Motoren heulten laut, als sie die Landebahn anzielten. Emily gab Gas und fuhr an der nächsten Stadt vorbei, bei der auf beiden Seiten der Straße Frost auf dem Boden lag, dann ging es durch Portland, wo die Straße neben den Bahnschienen entlanglief. Sie nahm jedes Detail in sich auf und wurde von einer neuen Ehrfurcht vor der Größe der Welt erfüllt.

Sie rauschte über die Brücke, die aus Portland hinausführte, als sie plötzlich den Drang verspürte, anzuhalten und den Ausblick auf den Ozean zu genießen. Doch der Himmel wurde immer dunkler und sie wusste, dass sie sich beeilen musste, um es vor Mitternacht nach Sunset Harbor zu schaffen. Die Stadt lag noch eine dreistündige Fahrt entfernt und die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte bereits 9 Uhr abends an. Ihr Magen protestierte wieder, weil sie auch das Abendessen verpasst hatte.

Auf das, was sich Emily bei ihrer Ankunft am meisten freute, war die Aussicht, die restliche Nacht komplett durchzuschlafen, denn ihre Erschöpfung machte sich schon bemerkbar; Amys Couch war nicht besonders bequem gewesen, ganz zu schweigen von dem emotionalen Aufruhr, mit dem Emily die ganze Nacht lang gekämpft hatte. Doch in ihrem Haus in Sunset Harbor wartete ein wunderschönes, aus dunkler Eiche geschaffenes Himmelbett in dem großen Schlafzimmer auf sie, in dem ihre Eltern glücklichere Zeiten verbracht hatten. Der Gedanke, komplett alleine dort zu sein, war verlockend.

Trotz der Tatsache, dass sich am Himmel Schnee ankündigte, entschied sich Emily dagegen, die ganze Strecke nach Sunset Harbor auf der Autobahn zurückzulegen. Ihr Vater war sehr gerne die weniger genutzten Strecken gefahren – eine Reihe von Brücken erstreckten sich über eine Vielzahl an Flüssen, die in diesem Teil Maines in den Ozean flossen.

Sie fuhr von der Autobahn ab, erleichtert, zumindest die Geschwindigkeit reduzieren zu können. Die Straßen hier waren zwar gefährlicher, doch die Landschaft war umwerfend. Emily schaute hinauf zu den Sternen, die über dem klaren, glitzernden Wasser blinkten.

Sie fuhr auf der Route 1 an der Küste entlang und öffnete ihren Geist für die Schönheit um sie herum. Der Himmel veränderte sich von einem Grau zu einem Schwarz, was sich im Wasser widerspiegelte. Es fühlte sich so an, als würde sie durch das Universum fahren, bis in die Unendlichkeit.

Das Ziel der Reise war der Anfang des Rests ihres Lebens.

*

Erschöpft von der endlosen Fahrt musste sie sich zwingen, ihre Augen offen zu halten, doch sie merkte auf, als die Scheinwerfer des Autos endlich ein Schild erleuchteten, dass ihr die Ankunft in Sunset Harbor ankündigte. Vor Erleichterung und Aufregung schlug ihr Herz schneller.

Sie kam an dem kleinen Flughafen vorbei und fuhr über die Brücke, die auf die Mount Desert Insel führte. In einem Anflug von Nostalgie erinnerte sie sich an Zeiten, zu denen sie in dem Familienauto gesessen und über dieselbe Brücke gerauscht war. Sie wusste, dass das Haus jetzt nur noch zehn Meilen entfernt lag, was bedeutete, dass sie in maximal zwanzig Minuten ankommen würde. Ihr Herz fing vor Aufregung an, wild zu schlagen. Die Erschöpfung und der Hunger schienen verschwunden zu sein.

Sie sah das kleine hölzerne Schild, das sie in Sunset Harbor willkommen hieß, was ihr ein Lächeln entlockte. Große Bäume säumten beide Seiten der Straße. Emily fand es tröstlich, dass es immer noch die gleichen Bäume waren, die sie als Kind schon bewundert hatte, als ihr Vater eben diese Straße entlanggefahren war.

Ein paar Minuten später fuhr sie über eine Brücke, über die sie als Kind an einem wunderschönen Herbstabend spazieren gegangen war, wobei das rote Laub unter ihren Füßen geraschelt hatte. Die Erinnerung daran war noch so lebendig, dass sie sogar die lila Wollhandschuhe vor Augen sah, die ihre Hände bedeckten, während sie mit ihrem Vater Hand in Hand dort entlanggelaufen war. Sie konnte damals nicht älter als fünf Jahre gewesen sein, doch die Erinnerung daran war noch so frisch, als ob es erst gestern geschehen wäre.

Weitere Erinnerungen drängten sich in ihre Gedanken, als sie an anderen Orten vorbeifuhr – dem Restaurant, in dem man unglaublich leckere Pfannkuchen essen konnte, der Campingplatz, der den ganzen Sommer lang mit schottischen Gruppen gefüllt gewesen war, der einspurige Pfad, der hinab zu der Salisbury Cove, einer Bucht, führte. Als sie das Schild erreichte, das den Acadia Nationalpark ankündigte, legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, denn sie wusste, dass sie nur noch zwei Meilen von ihrem Ziel entfernt war. Es sah so aus, als ob sie das Haus gerade noch rechtzeitig erreichen würde; es hatte gerade erst angefangen zu schneien und ihr altes Auto würde es wahrscheinlich nicht durch einen Schneesturm schaffen.

Wie aufs Stichwort begann ihr Auto, irgendwo unter der Motorhaube ein seltsames schleifendes Geräusch zu machen. Emily biss sich vor Verzweiflung auf die Lippe. Ben war immer der Praktische von den beiden gewesen, der Bastler in der Beziehung. Ihre mechanischen Fähigkeiten waren bedauerlich. Sie betete, dass das Auto wenigstens noch die letzte Meile aushalten würde.

Aber das schleifende Geräusch wurde immer lauter und wurde kurz darauf von einem seltsamen Surren begleitet, dann kam noch ein nerviges Klicken und schließlich ein Pfeifen hinzu. Emily schlug mit ihren Fäusten gegen das Lenkrad und stieß einen leisen Fluch aus. Der Schnee fiel immer schneller und dicker vom Himmel, gleichzeitig begann ihr Auto, immer größere Probleme zu machen, bis es schließlich ruckelnd zum Stehen kam.

Während sie dem Zischen des Motors lauschte, saß Emily hilflos da und überlegte, was sie tun könnte. Die Uhr zeigte Mitternacht an. Sonst war auf der Straße nichts los, niemand war zu dieser Zeit unterwegs. Es war totenstill und stockdunkel, da es keine lichtspendenden Straßenlaternen gab und die Sterne und der Mond von Wolken verdeckt waren. Das alles erschuf eine gruselige Atmosphäre und Emily war der Meinung, dass es sich perfekt als Kulisse für einen Horrorfilm eignen würde.

Sie schnappte sich ihr Handy, als ob es ihre letzte Rettung wäre, doch musste feststellen, dass sie keinen Empfang hatte. Der Anblick der fünf leeren Balken ließ ihre Sorge größer werden, denn nun fühlte sie sich sogar noch isolierter und einsamer als zuvor. Zum ersten Mal, seit sie ihr altes Leben hinter sich gelassen hatte, bekam Emily das Gefühl, eine fürchterlich dumme Entscheidung getroffen zu haben.

Sie stieg aus dem Auto aus und erzitterte, als die kalte Luft zusammen mit den Schneeflocken in ihre Haut stach. Sie ging um den Wagen herum, um sich den Motor anzusehen, doch sie wusste gar nicht, wonach sie eigentlich suchen sollte.

In dem Moment hörte sie das Poltern eines LKWs. Ihr Herz fing vor Freude an, schnell zu schlagen, als sie in die Ferne schaute und kaum merkbar Scheinwerferlichter ausmachte, die auf der Straße in ihre Richtung kamen. Sie begann, mit ihren Armen zu winken, um so den sich nähernden LKW auf sich aufmerksam zu machen.

Glücklicherweise fuhr er an den Straßenrand heran und kam dicht hinter ihrem Auto zum Stehen. Dabei stieß er heiße Abgase in die kalte Nachtluft aus und seine grellen Lichter erleuchteten die fallenden Schneeflocken.

Die Fahrertür öffnete sich quietschend und zwei in schweren Stiefeln steckende Füße landeten knirschend auf dem schneebedeckten Boden. Emily konnte nur die Umrisse der Person vor ihr ausmachen, plötzlich beschlich sie eine fürchterliche Panik, dass sie gerade die Aufmerksamkeit des örtlichen Mörders auf sich gezogen haben könnte.

„Da hast du dich aber in eine ganz schön verzwickte Lage gebracht, hm?“, hörte sie die kratzende Stimme eines alten Mannes.

Emily rieb sich, in dem Versuch, ein Zittern zu unterdrücken, über die Arme, wobei sie die Gänsehaut, die sich unter ihrer Bluse gebildet hatte, spüren konnte. Sie war erleichtert, dass es ein alter Mann war.

„Ja, ich weiß nicht, wie das passiert ist“, erwiderte sie. „Es fing an, seltsame Geräusche zu machen und blieb dann einfach stehen.“

Der Mann trat näher an sie heran, sein Gesicht wurde durch die Lichter seines LKWs erleuchtet. Er war sehr alt und hatte weißes Haar in seinem faltigen Gesicht. Seine Augen waren zwar dunkel, doch sie strahlten vor Neugier, als er zuerst Emily und dann ihr Auto musterte.

„Du weißt nicht, wie das passiert ist?“, fragte er lachend. „Ich kann dir sagen, wie das passiert ist. Dieses Auto hier ist nicht viel mehr als ein Haufen Schrott. Ich bin überrascht, dass du überhaupt in der Lage warst, damit loszufahren“ Es schaut nicht so aus, als ob du dich gut darum gekümmert hättest, und dann entscheidest du dich dazu, im Schnee damit zu fahren?“

Emily war nicht in der Stimmung, aufgezogen zu werden, vor allem, weil der alte Mann Recht hatte.

„Ich bin sogar den ganzen Weg von New York hierhergefahren. Es hat ganze acht Stunden durchgehalten“, antwortete sie, wobei sie es nicht verhindern konnte, dass sich ein trockener Tonfall in ihre Stimme schlich.

Der alte Mann pfiff. „New York? Nun ja, ich hätte nie…Was bringt dich in die Gegend?“

Emily hatte keine Lust, ihre Geschichte preiszugeben, weshalb sie einfach antwortete, „Ich bin auf dem Weg nach Sunset Harbor“.

Der Mann bohrte nicht weiter nach. Emily stand dort und beobachtete ihn, ihre Finger wurden schnell taub, während sie auf irgendeine Form der Hilfe wartete. Doch er schien mehr daran interessiert zu sein, um das alte, rostige Auto herumzugehen, mit der Spitze seines Stiefels gegen die Reifen zu treten, ein bisschen Farbe mit dem Fingernagel abzukratzen, ein bisschen zu spötteln und seinen Kopf zu schütteln. Dann öffnete er die Motorhaube und untersuchte den Motor für eine ganze Weile, wobei er gelegentlich vor sich hinmurmelte.

„Also?“, erkundigte sich Emily schließlich, denn sie war von seiner Langsamkeit genervt. „Was stimmt denn nun nicht?“

Er schaute mit einem leicht überraschten Gesichtsausdruck von dem Motor auf, fast so, als ob er vergessen hätte, dass sie da war, und kratzte sich am Kopf. „Es ist kaputt.“

„Das wusste ich schon“, erwiderte Emily gereizt. „Aber kannst du es reparieren?“

„Oh nein“, antwortete der Mann mit einem Glucksen. „Kein bisschen.“

Emily wollte am liebsten schreien. Der Nahrungsmangel sowie ihre Müdigkeit durch die lange Fahrt entfalteten so langsam ihre Wirkung und brachten sie fast zum Weinen. Alles, was sie wollte, war, nach Hause zu gehen und zu schlafen.

„Was soll ich denn jetzt tun?“, fragte sie sich verzweifelt.

„Nun ja, es gibt verschiedene Optionen“, erwiderte der alte Mann. „Du könntest zur Werkstatt laufen, sie ist nur etwa eine Meile entfernt.“ Dabei deutete er mit seinen kurzen, faltigen Fingern in die Richtung, aus der sie gekommen war. „Oder ich könnte dich dorthin abschleppen, wo auch immer du hinwolltest.“

„Würdest du das wirklich tun?“, fragte Emily, überrascht von seiner Freundlichkeit, etwas, an das sie durch ihre lange Zeit in New York nicht gewohnt war.

„Natürlich“, entgegnete der Mann. „Ich werde dich nicht mitten in der Nacht in einem Schneesturm hier zurücklassen. Ich habe gehört, dass es in der nächsten Stunde schlimmer werden soll. Wohin genau bist du denn unterwegs?“

Emily war von Dankbarkeit erfüllt. „West Street. Nummer Fünfzehn.“

Der Mann legte seinen Kopf neugierig auf die Seite. „West Street fünfzehn? Das alte, heruntergekommene Haus?“

„Ja“, antwortete Emily. „Es gehört meiner Familie. Ich muss einmal etwas alleine sein.“

Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Ich kann dich dort nicht hingehen lassen. Das Haus fällt auseinander. Ich bezweifele, dass es überhaupt wasserdicht ist. Warum kommst du nicht mit zu mir? Wir leben über dem kleinen Einkaufsladen, meine Frau Bertha und ich. Es wäre uns eine Freude, dich bei uns aufzunehmen.“

„Das ist sehr nett von dir“, erwiderte Emily. „Aber ich will im Moment einfach nur alleine sein. Wenn du mich also zur West Street abschleppen könntest, wäre ich dir sehr dankbar.“

Der alte Mann musterte sie einen Moment lang, bevor er schließlich nachgab. „Okay, junge Dame. Wenn du darauf bestehst.“

Emily war erleichtert, als er in seinen LKW stieg und damit vor ihr Auto fuhr. Sie beobachtete, wie er ein dickes Seil hervorholte und die beiden Fahrzeuge aneinanderband.

„Willst du mit mir fahren?“, fragte er. „Ich habe zumindest eine Heizung.“

Emily lächelte leicht, doch schüttelte ihren Kopf. „Ich würde lieber –“

„Alleine sein“, beendete der alte Mann gemeinsam mit ihr den Satz. „Schon verstanden. Schon verstanden.“

Emily stieg wieder in das Auto und fragte sich, welchen Eindruck sie auf den alten Mann wohl gemacht hatte. Er musste denken, dass sie ein bisschen verrückt war, weil sie unvorbereitet und mit unpassenden Kleidern mitten in der Nacht bei einem anstehenden Schneesturm unbedingt zu einem heruntergekommenen, verlassenen Haus gefahren werden wollte, damit sie komplett alleine sein konnte.

Der LKW vor ihr erwachte brummend zum Leben und sie konnte spüren, wie er das Auto vorwärts zog. Als sie so davonfuhren, lehnte sie sich zurück und schaute aus dem Fenster. Auf der einen Seite der Straße, die die letzten paar Meilen zu dem Haus führte, lag der Nationalpark und auf der anderen war das Meer. Durch die Dunkelheit und den Vorhang aus fallendem Schnee konnte Emily den Ozean und die Wellen sehen, die gegen die Felsen krachten. Dann, als sie in die Stadt fuhren, verschwand das Meer aus ihrem Blickfeld, stattdessen fuhren sie an Hotels und Motels, Bootstour-Unternehmen und Golfplätzen vorbei und durch dichter besiedelte Gebiete hindurch. Doch Emily fand, dass man es im Vergleich zu New York kaum als dicht besiedelt bezeichnen konnte.

Dann bogen sie links auf die West Street ab und Emilys Herz setzte für einen Moment aus, als sie an dem großen Eckhaus aus rotem, mit Efeu bewachsenen Eckhaus vorbeifuhren. Es sah genauso aus wie vor zwanzig Jahren, als sie das letzte Mal hier gewesen war. Sie fuhren erst an dem blauen, dann dem gelben und dem weißen Haus vorbei und sie biss sich auf die Lippe, denn sie wusste genau, dass das nächste Haus, das graue Steinhaus, ihres wäre.

Als es vor ihr auftauchte, überkam Emily ein starkes Gefühl der Nostalgie. Mit fünfzehn war sie das letzte Mal hier gewesen, damals war ihr Körper bei der Aussicht auf eine mögliche Sommerromanze voller Hormone gewesen. Sie hatte zwar nie eine gehabt, doch sie erinnerte sich noch genau an den Kick des Möglichen, der sie damals wie eine Welle überrollt hatte.

Der LKW kam zum Stehen, genauso wie Emilys Auto.

Noch bevor sich die Räder vollständig aufgehört hatten zu drehen, war Emily schon aus dem Auto gesprungen und stand vor dem Haus, das einmal ihrem Vater gehört hatte. Ihre Beine zitterten, sie war sich nicht sicher, ob sie das vor Erleichterung, endlich angekommen zu sein oder vor lauter Emotionen, endlich, nach so vielen Jahren, wieder hier zu stehen, taten. Aber während die anderen Häuser in der Straße unverändert aussahen, besaß das Haus ihres Vaters nur noch einen Schatten seines früheren Glanzes. Die einst weißen Fensterläden strotzten jetzt nur so vor Dreck. Während sie früher offen gestanden hatten, waren sie jetzt jedoch alle geschlossen, wodurch das Haus sogar noch weniger einladend wirkte als vor all den Jahren. Das Gras auf dem ausladenden Rasen vor dem Haus, auf dem Emily endlose Sommertage mit dem Lesen von Romanen verbracht hatte, machte überraschenderweise einen gepflegten Eindruck und sogar die kleinen Büsche an beiden Seiten der Eingangstür waren geschnitten. Doch das Haus an sich… jetzt sie verstand die verwirrte Reaktion des alten Mannes, als sie ihm gesagt hatte, wohin sie unterwegs war. Es schaute so verwahrlost aus, so ungeliebt auf dem Weg in die Baufälligkeit. Es machte Emily traurig, zu sehen, wie viel des schönen, alten Hauses im Laufe der Jahre verfallen war.

„Nettes Haus“, bemerkte der alte Mann, als er neben ihr zum Stehen kam.

„Danke“, erwiderte Emily fast wie in Trance, ihre Augen klebten förmlich an dem alten Gebäude. Schnee wehte um sie herum. „Und danke, dass du mich in einem Stück hierhergebracht hast“, fügte sie hinzu.

„Kein Problem“, antwortete der alte Mann. „Und du bist dir sicher, dass du heute Nacht hierbleiben willst?“

„Ich bin mir sicher“, entgegnete Emily, doch in Wirklichkeit begann sie sich zu fragen, ob es nicht ein großer Fehler gewesen war, hierher zu kommen.

„Lass mich dir mit deinen Taschen helfen“, sagte der Mann.

„Nein, nein“, winkte Emily ab. „Wirklich, du hast mehr als genug getan. Ich schaffe es von hier aus.“ Sie wühlte in ihrer Tasche herum und förderte einen zusammengekrümpelten Dollarschein heraus. „Hier, Benzingeld.“

Der Mann schaute zuerst auf das Geld und richtete dann seinen Blick auf sie. „Das werde ich nicht annehmen“, bemerkte er mit einem freundlichen Lächeln. „Behalte dein Geld. Wenn du mir wirklich etwas zurückgeben willst, warum kommst du dann nicht irgendwann im Laufe deines Aufenthaltes einmal zu mir und Bertha auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen?“

Emily spürte, wie sich in ihrem Hals ein Kloß formte, während sie den Geldschein zurück in ihre Tasche steckte. Die Freundlichkeit dieses Mannes schockierte sie nach der ganzen Feindseligkeit in New York.

„Wie lange hast du überhaupt vor zu bleiben?“, fragte er, als er ihr ein kleines Stück Papier mit einer Telefonnummer und einer Adresse reichte.

„Nur übers Wochenende“, gab Emily zurück und nahm das Stück Papier an.

„Nun ja, wenn du irgendetwas brauchst, dann ruf mich einfach an. Oder komm zur Tankstelle, wo ich arbeite. Sie ist direkt bei dem Tante-Emma-Landen. Du kannst sie gar nicht verpassen.“

„Danke“, sagte Emily erneut und versuchte, so viel Dankbarkeit wie möglich in dieses Wort zu legen.

Sobald das Geräusch des Motors in der Entfernung verhallte, legte sich wieder Stille über sie und plötzlich wurde Emily von einem Gefühl des Friedens erfüllt. Der Schneefall hatte sogar noch zugenommen und hüllte die Welt in eine weiße Stille.

Emily ging zu ihrem Auto zurück, um ihre Sachen zu holen, dann stampfte sie mit dem schweren Koffer in den Armen den Weg entlang. Dabei baute sich immer mehr Emotionen in ihrer Brust auf. Als sie die Haustür erreichte, hielt sie kurz inne, um den altbekannten Knauf zu betrachten und sich daran zu erinnern, dass sie ihn schon hunderte Male gedreht hatte. Vielleicht war es doch eine gute Idee gewesen, hierher zu kommen. Seltsamerweise konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, genau dort zu sein, wo sie sein sollte.

*

Emily stand in dem Flur des alten Hauses ihres Vaters, der Staub wirbelte um sie herum auf, und sie rieb sich ihre Schultern in der Hoffnung, sich aufzuwärmen. Sie wusste nicht, was sie sich dabei gedacht hatte. Hatte sie etwa erwartet, dass dieses alte Haus, das zwanzig Jahre lang vernachlässigt worden war, auf sie wartete? Am besten noch beheizt?

Sie versuchte, den Lichtschalter zu betätigen, doch nichts passierte.

Natürlich, dachte sie. Wie konnte sie nur so dumm sein? Hatte sie wirklich geglaubt, dass der Strom noch angeschaltet wäre?

Sie hatte nicht einmal daran gedacht, eine Taschenlampe mitzubringen. Sie schimpfte sich selbst. Wie immer war sie zu voreilig gewesen und hatte nicht einen Moment damit verschwendet vorauszuplanen.

Sie stellte ihren Koffer ab und ging weiter in das Haus hinein, wobei die Bodendielen unter ihren Füßen knarzten. Sie fuhr mit den Fingerspitzen über die Rohfasertapete, genau wie sie es als Kind auch oft getan hatte. Sie konnte sogar die Streifen erkennen, die sich im Laufe der Jahre durch die immer gleiche Bewegung auf der Tapete gebildet hatten, erkennen. Sie ging an der langen, breiten, aus dunklem Holz gemachten Treppe vorbei, bei der ein Teil des Geländers fehlte, was ihr jedoch egal war. Wieder zurück in dem Haus zu sein fühlte sich mehr als bestärkend an.

Sie versuchte ihr Glück mit einem weiteren Lichtschalter, doch erneut tat sich nichts. Dann erreichte sie die Tür am Ende des Flurs, der zur Küche führte, und schob sie auf.

Sie schnappte nach Luft, als sie von einem Schwall kalter Luft getroffen wurde. Als sie den Raum betrat, fühlte sich der Marmorboden unter ihren nackten Füßen eisig an.

Emily versuchte, die Wasserhähne in dem Spülbecken aufzudrehen, doch nichts passierte. Bestürzt kaute sie auf ihrer Lippe. Keine Heizung, kein Strom, kein Wasser. Was hatte dieses Haus denn noch für sie auf Lager?

Sie lief das ganze Haus ab, auf der Suche nach irgendwelchen Schaltern oder Hebeln, die das Wasser, das Öl und den Strom kontrollierten. In dem Schrank unter der Treppe fand sie einen Sicherungskasten, doch auch das Umklappen der Schalter nützte nichts. Sie erinnerte sich daran, dass der Boiler im Keller stand, doch fand die Vorstellung, ohne Licht hinunterzugehen, furchteinflößend. Sie brauchte eine Taschenlampe oder eine Kerze, doch sie wusste, dass nichts davon in dem verlassenen Haus zu finden war. Trotzdem schaute sie in den Schubladen in der Küche nach, für den Fall, dass sich dort noch etwas versteckte – doch das einzige, was sie fand, war altes Geschirr.

In Emilys Brust machte sich Panik breit und sie zwang sich, nachzudenken. Sie ließ ihre Gedanken zu den Zeiten zurückwandern, die sie und ihre Familie in dem Haus verbracht hatten. Sie erinnerte sich daran, dass ihr Vater immer dafür gesorgt hatte, dass Öl geliefert wurde, um das Haus in den Wintermonaten zu heizen. Es hatte ihre Mutter verrückt gemacht, weil es so teuer war und sie es für reine Geldverschwendung hielt, ein leeres Haus zu heizen. Doch Emilys Vater hatte stets darauf bestanden, dass das Haus warmgehalten werden müsste, um die Leitungen zu schützen.

Emily erkannte, dass sie Öl bestellen musste, wenn sie das Haus aufwärmen wollte. Doch da ihr Handy keinen Empfang hatte, wusste sie nicht, wie sie das anstellen sollte.

Vanusepiirang:
16+
Ilmumiskuupäev Litres'is:
10 oktoober 2019
Objętość:
260 lk 1 illustratsioon
ISBN:
9781632919106
Allalaadimise formaat:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip