Loe raamatut: «Pflanzenrevolution», lehekülg 2

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Anders als man vielleicht denken könnte, sind solche Studien nicht nur für die Botanik von größtem Interesse. Wenn wir begreifen, wie ein Gedächtnis ohne Gehirn funktioniert, können wir nämlich nicht nur das Rätsel um das Pflanzengedächtnis lösen, sondern auch unser eigenes besser verstehen: Auf welche Weise kann sich unser Gedächtnis verändern oder erkranken? Wie können sich auch außerhalb des Nervensystems spezielle Gedächtnisformen ansiedeln? Noch dazu könnten zahlreiche technologische Entwicklungen von den neuen Erkenntnissen der biologischen Gedächtnisforschung profitieren. Mit anderen Worten: Fortschritte auf diesem Gebiet sind von allgemeinem Interesse für die Menschheit, weil sie uns ungeahnte Möglichkeiten eröffnen können.

2 VON DER PFLANZE ZUM
PLANTOIDEN


Ein Wurzelstock kann Milliarden von Wurzelspitzen besitzen.

Auf dem Bild sieht man einen Ausschnitt des komplexen Mais-Wurzelstocks.

Wer tief in die Natur hineinschaut, wird alles besser verstehen.

Albert Einstein

Ist die Bioinspiration
wirklich ein neuer Ansatz?

Die Roboter-Revolution scheint ihre Probleme nach Jahren der vorschnellen Ankündigungen, Bedenken, Richtigstellungen und Erläuterungen langsam in den Griff zu kriegen: Heute werden in vielen Bereichen, die man noch vor nicht allzu langer Zeit dem Menschen vorbehalten glaubte, zuverlässige und wirtschaftliche Roboter eingesetzt. Manche gehören sogar schon zum Alltag: Nicht mehr nur im Science-Fiction-Film saugen heute Roboter die Wohnung, mähen den Rasen oder sammeln den Papiermüll von der Straße auf.

Doch obwohl die Roboter längst da und aus einigen Bereichen gar nicht mehr wegzudenken sind, betrachten die meisten Menschen sie noch immer, je nach Einstellung, als Zukunftsgespenst oder Zukunftstraum. Schuld daran ist vermutlich das Bild, das wir von ihnen haben. Eigentlich verbreiten sich die Roboter rasend schnell. In der Automobilindustrie, der Medizin oder der Unterwasserforschung sind sie längst unersetzbar geworden, und täglich kommen neue Anwendungsmöglichkeiten hinzu: Roboter mit künstlicher Intelligenz, Putzroboter, Unterwasserroboter etc.

Doch in Gesprächen mit Freunden stellen wir unweigerlich fest, dass offenbar kaum jemand gemerkt hat, dass heute viel mehr Roboter im Einsatz sind als, sagen wir, vor dreißig Jahren. Woran liegt das? Meiner Meinung nach an dem Bild, das wir uns nach Hunderten Science-Fiction-Filmen und -Büchern von ihnen gemacht haben: In unserer Vorstellung ist der Roboter ein Androide mit menschlichen Zügen und Eigenschaften.

Der Begriff Roboter stammt bekanntlich aus dem Tschechischen. Dort bedeutet robota schwere Arbeit oder Zwangsarbeit – im Polnischen heißt der Arbeiter robotnik. Der Begriff tauchte erstmals 1920 in dem Kollektivdrama R.U.R.Rossum’s Universal Robots des tschechischen Autors Karel Čapek auf, von wo er sich ebenso schnell verbreitete wie die Vorstellung, die damit einherging. Die künstlichen Arbeiter in Čapeks Drama, die dem Menschen das Leben erleichtern sollten, waren aber eigentlich Replikanten, also humanoides Personal. Doch höchstwahrscheinlich entwickelte sich daraus die allgemeine Vorstellung von einem Maschinenwesen, das im Grunde ein humanoider Sklave war, ein vereinfachtes Abbild des Menschen. Schon kurze Zeit später, 1927, sollte das expressionistische Meisterwerk Metropolis von Fritz Lang die Vorstellung vom Roboter als Maschinenmenschen dann für alle Zeiten zementieren. Aber wer sagt denn, abgesehen von Literatur und Film, dass ein Roboter unbedingt wie ein Mensch aussehen muss?

Der menschenähnliche Roboter wirkt aber wohl auch darum so attraktiv, weil er suggeriert, dass wir dadurch menschliches Handeln ersetzen, erweitern oder verbessern würden. Im Grunde war der Mensch bei der Entwicklung seiner Werkzeuge immer bemüht, sich selbst zu kopieren – oder zumindest seinen tierischen Körperaufbau. Nehmen wir etwa den Computer, den Inbegriff der Moderne. Auf den ersten Blick scheint er uns keineswegs zu ähneln, und doch folgt er einem uralten Muster: Ein Prozessor verwaltet, ähnlich wie das Gehirn, Hardware, Peripherie, Festplatte, Arbeitsspeicher, Grafik- und Audiokarten, also sozusagen die in Schlüsseltechnologien umgewandelten Funktionen unserer Organe. Was der Mensch konstruiert und baut, gründet meist mehr oder weniger offensichtlich auf derselben Architektur: Ein «denkendes Gehirn» steuert die «ausführenden Organe». Auch unsere Gesellschaften sind nach diesem Muster aufgebaut.

Doch glücklicherweise geht man seit einigen Jahren bei der Planung und Produktion neuer Materialien und Geräte immer öfter von einem neuen Ansatz aus: der sogenannten Bioinspiration. Sie lässt sich bei der Entwicklung technischer Lösungen von der Natur anregen. Allerdings ist das gar nicht so neu: Schon Leonardo da Vinci (1452 – 1519) griff häufig darauf zurück. So etwa bei seinem «Ritterautomaten» von 1495, dem ersten humanoiden Roboter. Wie man Leonardos Notizen im Codex atlanticus und anderswo entnehmen kann, konnte der Automat aufstehen, Kopf und Arme bewegen, den Mund öffnen und Laute hervorbringen. Der Ritterautomat war höchstwahrscheinlich für ein pompöses Fest am Mailänder Hof der Sforza bestimmt. Auf jeden Fall aber war er von der Natur inspiriert und basierte auf Leonardos anatomischen Studien, wie etwa der berühmten Feder- und Tuschezeichnung Der vitruvianische Mensch.

Das Bühnenbild von Rossum’s Universal Robots. Das Science-Fiction-Stück wurde 1921 in Prag ufgeführt.

Das Büro von Domin, dem Demiurgen und Protagonisten des Stücks, in einer Zeichnung von Vlastislav Hofman.

Die Bioinspiration hat also in der Roboterentwicklung für frischen Wind gesorgt. Und mittlerweile dient nicht nur der Mensch als Vorbild. In der Tierwelt nach Lösungen zu suchen, die man erforschen und nachahmen kann, ist zu einer wahren Goldgrube geworden. Seit einigen Jahren experimentiert man zunehmend mit Animaloiden und Insektoiden, ja selbst Roboter, die Salamander, Esel oder sogar Kraken nachahmen, scheinen vielversprechend. Wenn ein Unterwasserroboter Gegenstände greifen und bewegen soll, ist es zweifellos klug, sich an den intelligenten Oktopustentakeln zu orientieren. Und für einen Amphibienroboter, der problemlos zwischen Wasser und Land wechseln soll, kann man wohl kein besseres Vorbild als den Salamander wählen. Doch scheint sich die Bioinspiration bisher völlig auf das Tierreich zu beschränken. Und was ist mit den Pflanzen? Tja. Offenbar glaubt keiner, dass sie hier eine große Rolle spielen könnten.

Ich sehe das allerdings anders. Meiner Meinung nach gibt es viele gute Gründe, sich bei technologischen Entwicklungen am Pflanzenreich zu orientieren. Pflanzen haben einen sehr geringen Energiebedarf, führen passive Bewegungen aus, sind modular aufgebaut, besitzen – im Gegensatz zur zentralisierten tierischen Intelligenz – eine verteilte Intelligenz und verhalten sich wie Kolonien. Wer nach etwas Robustem, energetisch Nachhaltigem und unglaublich Anpassungsfähigem sucht, wird auf unserer Erde kein besseres Vorbild als die Pflanzen finden.

Warum ausgerechnet die Pflanzen?

Nun denken Sie vielleicht: «Das meint der doch nicht ernst? Roboter, die sich Pflanzen zum Vorbild nehmen? Wozu das denn?» Fassen wir noch mal zusammen: Pflanzen sind mehrzellige, eukaryotische Organismen, die Fotosynthese betreiben und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aus einem oberirdischen Teil und einem Wurzelapparat bestehen. Weil sie ortsgebunden sind und sich notgedrungen an die wechselhaften Umweltbedingungen vor Ort anpassen müssen, haben sie die Fähigkeit entwickelt, sich wachsend in eine geeignete Richtung zu bewegen, sind also außergewöhnlich flexibel.

Bekanntlich fasst man die pflanzlichen Bewegungen unter dem Begriff Tropismus zusammen: Das deutliche Richtungswachstum der pflanzlichen Organe, insbesondere der Wurzeln, ist eine Reaktion auf Umweltreize wie Licht (Fototropismus), Schwerkraft (Gravitropismus), Berührung (Thigmotropismus), Feuchtigkeitsdifferenzen (Hydrotropismus), Sauerstoff (Aerotropismus) oder elektrische Felder (Elektrotropismus).

Neben diesen allgemein bekannten Tropismen kennen wir dank der Forschung an meinem Institut seit Kurzem auch den Phonotropismus, das von einer Lautquelle gesteuerte Pflanzenwachstum. Die Pflanze kann mithilfe der verschiedenen Tropismen in einer feindlichen Umgebung überleben und mit ihren Wurzeln, die für Nahrung und Stabilität sorgen, den Boden besiedeln. Häufig übertrifft der Wurzelstock hinsichtlich Masse und Länge sogar die Baumkrone, und manchmal erreicht er geradezu unvorstellbare Ausmaße.

Und um die Absorptionsfläche der Wurzeln noch erheblich zu erhöhen, bedient sich die Pflanze desselben Tricks wie Dido, die mythische Gründerin von Karthago. Wie die Sage zu berichten weiß, versprach der Numidierherrscher Iarbas der Königin nach ihrer Flucht aus Tyros so viel Land, wie sie mit einer Kuhhaut bedecken konnte. Offenbar wollte er sie hereinlegen. Doch Dido wusste sich zu helfen: Sie schnitt die Kuhhaut in sehr schmale Streifen, legte diese aneinander und steckte so den Hügel ab, auf dem dann Karthago entstehen sollte. Analog dazu kommt eine Weizenpflanze durch die Gesamtlänge ihrer Wurzelhaare auf ein Längenwachstum von über 20 Kilometer – obwohl sämtliche Wurzelhaare in ein einziges Würfelchen von 1,5 Zentimeter Kantenlänge passen würden.

Doch die Wurzelspitzen besitzen noch eine andere grundlegende Eigenschaft: Sie können sich durch extrem festes Material bohren. Obwohl sie so zart und zerbrechlich wirken, entfalten sie außergewöhnliche Druckkräfte und bringen durch Zellteilung und Zellvergrößerung selbst hartes Gestein zum Bersten. Die Wurzel kann nämlich nur wachsen, wenn Poren oder Risse im Boden größer sind als die Wurzelspitze. Ihre Kraft verdankt die Wurzelspitze dem Wasser, das ihre Zellen von innen her anschwellen lässt: Weil durch das osmotische Potenzial der Wurzel eine Potenzialdifferenz entsteht, dringt Wasser in die Zellen ein. Die Zellen schwellen an, und die Zellmembran drückt gegen die feste Zellwand. Je nach Pflanzenart können dabei Druckkräfte von einem bis drei Megapascal entstehen. Und so können sich Wurzeln selbst durch hartes Material wie Asphalt, Beton oder sogar Granit bohren.

Die Individualität der Pflanzen

Es gibt noch eine weitere wenig bekannte Eigenschaft der Pflanzen, von der sich die Roboterentwicklung inspirieren lassen könnte: Pflanzen sind modular und repetitiv aufgebaut. So besteht ein Baum aus sich wiederholenden Modulen, aus denen sich erst seine Gesamtarchitektur und Physiologie ergeben. Das ist etwas völlig anderes als im Tierreich. Eigentlich kann man bei Pflanzen nämlich noch nicht einmal von Individuen sprechen. Das mag seltsam klingen, aber schauen wir einmal genauer hin. Den Begriff «Individuum» kann man mindestens auf zweierlei Weise definieren:

Etymologisch:

Ein Individuum ist eine biologische Einheit, die sich nicht weiter teilen lässt, ohne dass dadurch mindestens ein Teil stirbt.

Genetisch:

Ein Individuum ist eine biologische Einheit mit einem räumlich und zeitlich stabilen Genom. Räumlich, weil das Genom in allen Zellen identisch ist, und zeitlich, weil es über die gesamte Lebensdauer beständig bleibt.

Wie sich schnell zeigt, treffen beide Definitionen auf die meisten Pflanzen eigentlich nicht zu. Betrachten wir zunächst die etymologische Definition: Wenn man eine Pflanze teilt, dann vermehrt sie sich. So schrieb schon der französische Naturwissenschaftler Jean-Henri Fabre (1823–1915): «Bei Tieren bedeutet Teilen in den meisten Fällen töten, bei den Pflanzen aber vermehren.» Das leuchtet nicht nur jedem Biologen sofort ein, sondern wohl auch jedem Hobbygärtner, denn die Vermehrung durch Stecklinge oder Pfropfung macht sich genau das zunutze.

Aber auch die genetische Stabilität der zweiten Definition scheint für die Pflanzen kein Muss. Obwohl das Genom selbst bei den winzigsten Tieren in allen Zellen und lebenslang stabil bleibt, gilt das für die Pflanzen offenbar nicht. Wer sich schon einmal mit der Knospenmutation von Obstbäumen beschäftigt hat, weiß das. In der langen Geschichte des Obstanbaus wurden nämlich immer wieder «mutierte» Äste mit interessanten Früchten entdeckt. Das zeigt sich unter anderem an den Obstsorten, die daraus entstanden sind: So verdanken wir die Nektarinen wohl der Knospenmutation eines Pfirsichbaums und die Pinot-Grigio-Traube der Knospenmutation einer Pinot-Nero-Traube.

Zudem zeugen die faszinierenden Schimären davon, dass ein und dieselbe Pflanze unterschiedliche Genome besitzen kann. Pflanzen, die durch Pfropfung entstehen, setzen sich – wie die Schimären der griechischen Mythologie – aus unterschiedlichen Teilen zusammen. Auch bei den zahlreichen «bizarren» Sorten, beispielsweise von Apfelsine oder Traube, wird diese pflanzliche Eigenheit augenfällig. Hier darf die berühmte Citrus x aurantium bizzarria nicht unerwähnt bleiben, eine äußerst seltene Zitruspflanze, deren Früchte unregelmäßig verteilte Merkmale von Bitterorange und Zitronatzitrone aufweisen. Sie wurde erstmals 1674 von Pietro Nati, dem damaligen Direktor des Botanischen Gartens von Pisa, beschrieben und war lange Zeit das Paradestück der Medici-Sammlungen. Aber dann galt sie als ausgestorben und wurde erst in den 1960er-Jahren «wiederentdeckt». Über solche Kuriositäten hinaus finden sich ähnliche genetische Abweichungen bei allen alten Bäumen.

Die berühmte Citrus x aurantium bizzarria gehört zu den zahlreichen Zitrusfrucht-Schimären. Heute kann man sie in der Villa Medici in Castello oder im Boboli-Garten in Florenz bewundern.

Kurzum, eine Pflanze kann man eigentlich nicht als «Individuum» bezeichnen. Schon am Ende des 18. Jahrhunderts tauchte daher die Vorstellung auf, Pflanzen seien eher wie Kolonien, die aus identischen, sich wiederholenden Elementen bestehen. So schrieb Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832), der nicht nur ein großer Dichter, sondern auch ein genialer Botaniker war, im Jahr 1790: «Die Seitenzweige also welche aus den Knoten der Pflanzen entspringen, lassen sich als besondere Pflänzchen, welche eben so auf dem Mutterkörper stehen wie dieser an der Erde befestigt ist, betrachten.» Goethes Gedanke wurde dann 1800 von Erasmus Darwin (1731–1802), dem Großvater des berühmten englischen Naturwissenschaftlers Charles Darwin (1809 – 1882), aufgegriffen: «Die Knospe eines Baums ist eine eigene Pflanze; ein Baum ist darum eine Familie, die aus mehreren Pflanzen besteht.» Schließlich ergänzte sein Enkel Charles 1839: «So überraschend die Verbindung separater Individuen in einem gemeinsamen Strunk stets erscheint, zeigt doch jeder Baum das gleiche Faktum, denn Knospen müssen als individuelle Pflanzen betrachtet werden. (…) Wir können die Polypen bei einem Zoophyten oder die Knospen an einem Baum als Fälle betrachten, bei denen die Teilung des Individuums nicht vollständig durchgeführt worden ist.» Und der Botaniker Alexander Braun (1805–1877) schrieb 1855: «Schon das bloße Naturgefühl erweckt bei der Betrachtung des meist verzweigten Pflanzenstocks, namentlich eines Baums (…), die Ahnung, dass dies nicht ein Einzelwesen und Einzelleben sei, dem Individuum des Thiers oder des Menschen gleichzusetzen, sondern vielmehr eine Welt vereinter Individuen.»

Jeder Baum lässt sich als eine Kolonie sich wiederholender architektonischer Module beschreiben.

Die Vorstellung von der «Pflanze als Kolonie» wird also schon seit Langem und von berühmter Seite unterstützt. Sie impliziert zudem, und das dürfte für die Roboterentwicklung von besonderem Interesse sein, eine längere Lebensdauer: Eine Kolonie lebt länger als ihre Teile. Ein Polyp lebt nur wenige Monate, aber die Koralle, die ihn beherbergt, potenziell ewig. Ähnlich ist es mit den Bäumen: Obwohl ihre Grundbausteine nur eine kurze Lebensdauer haben, könnte die Kolonie, der Baum, theoretisch ewig leben.

Wobei zu ergänzen ist, dass nicht nur der oberirdische Pflanzenteil, sondern auch der Wurzelstock modular und repetitiv aufgebaut ist. Jede einzelne Wurzel verfügt über eine autonome Kommandozentrale, die die Bewegungsrichtung vorgibt, kooperiert aber zugleich, wie für Kolonien typisch, mit allen anderen Wurzelspitzen, wenn es allgemeine Probleme zu meistern gilt. Die dezentral organisierte Intelligenz der Pflanzen – das einfache, funktionale System, dank dem sie effizient auf Umweltherausforderungen reagieren können – zeugt eindeutig davon, dass sie eine enorme evolutionäre Entwicklung hinter sich haben.

Von Pflanzen inspiriert: Der Plantoid

Es gibt also, wie wir gesehen haben, viele gute Gründe, sich bei der Roboterentwicklung von den Pflanzen inspirieren zu lassen. Davon war ich jedenfalls felsenfest überzeugt, als 2003 die Idee in mir reifte, einen Plantoiden zu entwickeln. Die ungeahnten Möglichkeiten, die sich dem Roboterbau durch das Pflanzenvorbild eröffnen würden, begeisterten mich, und der Begriff «Plantoid», in Anlehnung an «Android», schien mir für meine Idee mehr als passend. Ich malte mir aus, wo sich die Plantoiden überall als nützlich erweisen konnten, ob in der Bodenerkundung oder der Weltraumforschung, wusste allerdings auch, wie begrenzt meine Roboterkenntnisse waren und sind. Aus meiner Idee konnte nichts werden, wenn ich sie allein weiterentwickelte, das war mir klar, und ich sah meinen Traum schon, wie viele wissenschaftliche Ideen, in irgendeiner Schublade verstauben.

Plantoiden auf einer Fotomontage. Die von Pflanzen inspirierten Roboter sind für alle Arten von Bodenerkundungen geeignet, ob für die Suche nach Ressourcen oder nach Giften.

Glücklicherweise kam es anders. Damals erzählte ich jedem von der Idee, der mir irgendwie zu nahe kam – wenn mich etwas wirklich interessiert, neige ich leider zur Monomanie –, und eines Tages lief mir genau die Richtige über den Weg, die Frau, mit der mein spannender, aber bislang eher theoretischer Traum doch noch wahr werden konnte. Schon 2003, bei unserer ersten Begegnung, war Barbara Mazzolai, heute Leiterin des Zentrums für Mikrobiorobotik am IIT (Italienisches Institut für Technologie mit Sitz in Pisa), eine herausragende Forscherin im Bereich Robotertechnologie – und durch ihr Studium außerdem in der Biologie bewandert. Mit ihr über Roboter und Pflanzen zu reden, ergab sich sozusagen von selbst. Barbara war von der Idee eines Plantoiden fasziniert, und je öfter wir darüber sprachen, desto überzeugter wurden wir, dass sich die Idee auch verwirklichen ließ. Zweifellos würde es viele technische Probleme geben, aber keine unlösbaren. Wir waren uns sicher: Der Plantoid musste einfach das Licht der Welt erblicken.

Die Entwicklung eines Roboters, der wirklich funktionstüchtig und mehr als ein mechanisches Spielzeug ist, erfordert viel Zeit, Arbeit und Geld, umso mehr, wenn es sich um ein völlig neues Konzept handelt. Wie alle begeisterten Forscher waren wir bereit, Zeit und Arbeit in das Projekt zu stecken, aber mit unserem Geld wären wir, bei aller Liebe, nicht weit gekommen. (Informieren Sie sich mal, wie viel ein Forscher in Italien verdient; ich schäme mich, es zu sagen.) Wir mussten also eine Institution oder Stiftung finden, die das Projekt als Partner fördern würde.

Und das sollte sich als äußerst schwierig und zeitraubend erweisen. Die Argumente und Baupläne, die nach unserer Meinung stichhaltig, solide und makellos waren, ließen unsere Gesprächspartner vollkommen kalt. Auch diesmal war es, wie so oft, schwierig, Menschen von der Leistungsfähigkeit der Pflanzen zu überzeugen, die in diesen eher Gartenschmuck sehen, Organismen an der Grenze zur unbelebten Welt.

Und noch schwieriger war es, potenzielle Geldgeber davon zu überzeugen, dass das pflanzliche Vorbild eine völlig neue Robotergeneration ermöglichen würde. Meiner Ansicht nach – und ich hoffe, bald auch nach der meiner Leser – sprachen wir hier über einen hochinteressanten Ansatz mit spannenden Herausforderungen, doch die Wachhunde an den Geldtöpfen sahen das eindeutig anders. Sie konnten der Idee nichts abgewinnen und vermissten einen konkreten Nutzen. Und wenn man gegen die sogenannte «Vorsicht» dieser Leute, die ich allerdings eher als Mangel an Fantasie bezeichnen würde, anrennt, dann hat man meistens schon verloren.

Aber wer für ein visionäres Projekt Geld auftreiben will, darf nicht verzagen: Wenn man wirklich an seine Idee glaubt, wird irgendwann jemand auftauchen, der sich von der eigenen Begeisterung anstecken lässt. In unserem Fall war das Ariadna, eine Initiative des Teams für Fortschrittliche Konzepte (Advanced Concepts Team, ACT) der Europäischen Weltraumorganisation ESA. Wir konnten das Team von unseren Argumenten für einen bioinspirierten Weltraumroboter überzeugen, und man finanzierte uns unverzüglich eine Machbarkeitsstudie. Die Mittel dafür waren begrenzt, und wir konnten damit nichts bauen, aber die Studie half uns, unsere Ideen zu präzisieren und mögliche Probleme beim Bau des Plantoiden zu identifizieren. Wir präsentierten der ESA am Ende ein Dokument mit dem vielversprechenden Titel Bio-inspiration from plants’ roots (Pflanzenwurzeln als Bioinspiration), in dem die Pläne für den Plantoiden und mögliche Weltraumeinsätze, besonders auf dem Mars, ausführlich erläutert sind und das sich übrigens noch immer im Internet findet.

Unsere Grundidee war simpel: Weil Pflanzen per se Pioniere sind, müssen wir ihre Überlebensstrategien erforschen und nachbilden, wenn wir einen Plantoiden bauen wollen, der in feindlicher Umgebung überlebensfähiger ist als andere Roboter. Und welche Umgebung wäre feindlicher als der Weltraum, etwa der Mars? Das Projekt sah vor, unzählige etwa 10 Zentimeter große Plantoiden in die Marsatmosphäre zu bringen und dort auszusetzen. Sie sollten sich auf dem Mars verteilen und ihre Wurzeln in den Boden graben. So konnten sie den Boden erkunden, während der Roboter durch Fotovoltaikzellen in den oberirdischen Scheinblättern unbegrenzt mit Strom versorgt wurde. Unser Projekt bedeutete eine völlige Umkehrung des Ansatzes, mit dem man die Marserkundung bisher in Angriff genommen hatte. Wir würden keine teuren Roboter ins All schicken, die im Schneckentempo ein winziges Gebiet erkundeten, sondern Tausende von Plantoiden, die sich wie Samenkörner in der Atmosphäre ausbreiteten und über ein großes Gebiet verteilten, die untereinander und mit der Erde kommunizierten und uns so, ohne sich fortzubewegen, unzählige präzise Bodendaten zur Erstellung verlässlicher Landkarten senden würden.

Der erste Plantoid-Prototyp, der im Rahmen des europäischen FET-Projekts gebaut wurde, kann seine Wurzelspitzen in den Boden wachsen lassen.

Nach der Machbarkeitsstudie für die ESA geriet das Projekt allerdings wieder ins Stocken, und jahrelang wollte sich niemand finden, der es finanzierte. Doch 2011 bewarben Barbara und ich uns um eine Förderung der Europäischen Union, mit der «visionäre», also hochriskante, aber auch hochinnovative Projekte ausgezeichnet werden. Die FET-Initiative (Future and Emerging Technologies) war und ist die wichtigste Arena für alle bahnbrechenden europäischen Technologieprojekte. Hier treten sie gegeneinander an und kämpfen um eine ausreichende Finanzierung. Zu unserer großen Überraschung erhielt unsere Bewerbung mit dem Titel Plantoid. Innovative robotic artefacts inspired by plant roots for soil monitoring eine Bewertung von 15/15. Besser ging es nicht! Und wir erhielten endlich eine Finanzierung, mit der wir unseren ersten Plantoiden bauen konnten.

Die nächsten drei Jahre verbrachten wir mit der Planung, Entwicklung und schließlich dem Bau der zahlreichen Module des Plantoiden. Jeder Schritt stellte uns vor Herausforderungen. Als eine der größten Hürden für Barbaras Forschungsinstitut erwies sich die Nachbildung des Wurzelwachstums. Keine leichte Aufgabe; noch heute gehören selbstwachsende Mechanismen zu den großen Herausforderungen der Robotertechnik.

Den Wachstums- und Bewegungsprozessen der Wurzeln liegen hauptsächlich zwei Mechanismen zugrunde: die Zellteilung im Apikalmeristem, unmittelbar unter der Wurzelspitze, und die Zellvergrößerung im dahinterliegenden sogenannten Streckungsbereich. Beim Bau der Roboter-Wurzelspitzen ahmten wir beide Mechanismen mithilfe eines Kunststofftanks nach, der das Wachstum der Roboterwurzel vorantrieb. Unsere Roboter-Wurzelspitze bildete zudem die sensorischen Fähigkeiten der Wurzel nach: Mit einem Beschleunigungssensor folgte sie der Schwerkraftrichtung, mit einem Feuchtigkeitssensor spürte sie geringste Wasserdifferenzen auf; verschiedene chemische Sensoren sowie Osmose-Aktoren verwandelten osmotischen Druck in Bewegung und gewährleisteten die richtige Ausrichtung und das Eindringen in den Boden, und eine der verteilten Wurzelintelligenz nachempfundene Mikrosteuerung verwaltete sämtliche Sensordaten. Als die Roboterwurzeln unseres Plantoiden schließlich fertig waren, mussten wir noch die Blätter bauen. Sie stellten uns allerdings vor weniger Probleme. Wir bildeten den Fotosyntheseprozess einfach durch Fotovoltaikzellen nach, die den nötigen Betriebsstrom für alle Funktionen erzeugten.

Weil der Plantoide sich, analog zur Anpassungsstrategie der Pflanze, äußerst langsam bewegt, kann er seine Umgebung effizient erforschen und sich an die vorgefundenen Bedingungen anpassen. Dank neuartiger Osmose-Aktoren können die Wurzelspitzen wachsen und ihre Lage im Boden verändern. Dabei kommunizieren sie mit allen anderen Wurzelspitzen und erfassen auch deren Daten. Sie arbeiten also mit der pflanzentypischen Strategie der verteilten Intelligenz.

Heute sind Plantoiden Wirklichkeit und können in verschiedenen Bereichen eingesetzt werden: bei radioaktiver und chemischer Verseuchung, Terrorangriffen, der Kartierung von Minenfeldern, in der Weltraumforschung, bei Mineralien- oder Erdölsuche, speziellen Urbarmachungen oder in der Landwirtschaft 2.0. Barbara arbeitet bis heute an Verbesserungen und Spezialausstattungen für Plantoiden. Wir sind schließlich noch ganz am Anfang unseres spannenden Weges. Doch mittlerweile betrachten immer mehr Menschen Pflanzen als ein vielversprechendes Vorbild, dessen Nachahmung uns neue technologische Möglichkeiten eröffnet. Und ich wünsche mir oder bin mir eigentlich sicher, dass sich schon bald friedliche Plantoiden um unsere Gärten und Fabriken kümmern werden.

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