Loe raamatut: «Mehr als ein Wunder»

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Warnung: Dieses Buch provoziert neue Denkansätze;

denn nach seiner Lektüre wird es einem schwerfallen,

weiterhin zu der gewohnten Auffassung von Sprache,

lösungsfokussierter Kurztherapie oder Psychotherapie zu stehen.

Steve de Shazer/Yvonne Dolan

Mehr als ein Wunder

Lösungsfokussierte Kurztherapie heute

Unter Mitarbeit von Harry Korman, Terry Trepper, Eric McCollum und Insoo Kim Berg

Aus dem Amerikanischen von Astrid Hildenbrand

Achte Auflage, 2022


Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

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Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Achte Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-0260-1 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8253-5 (ePUB)

© 2008, 2022 der deutschen Ausgabe: Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Das Original erschien unter dem Titel:

›More than Miracles‹

Published by Hayworth Press, Inc., 2007

© 2007, Hayworth Press, Inc. All Rights reserved.

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Inhalt

Vorwort

Vorbemerkungen

1.Ein kurzer Überblick

1.1Die wesentlichen Lehrsätze der lösungsfokussierten Kurztherapie

1.2Die Aufgabe des Therapeuten

1.3Therapeutische Prinzipien und Techniken

Allgemeine Interventionen

Spezifische Interventionen

1.4Anwendungsbereiche der lösungsfokussierten Kurztherapie

1.5Studien zur Wirksamkeit lösungsfokussierter Kurztherapien

1.6Zusammenfassung

2.»Ich fühle mich richtig verunsichert«

3.Die Wunderfrage

3.1Wie die Wunderfrage entstanden ist

Nur scheinbar einfach

Da steckt mehr dahinter

3.2Die Geisteshaltung des Therapeuten

3.3Vier Gründe, die Wunderfrage zu stellen

Eine Möglichkeit, Therapieziele zu entwickeln

Die Wunderfrage als virtuelles Wunder oder: Die Wunderfrage als emotionale Erfahrung

Der Blick auf die Ausnahmen des Problems

Anstoß zu einer Fortschrittsgeschichte

3.4Wie man die Wunderfrage stellt

3.5Antworten aufmerksam anhören

Was fällt dem Klienten auf?

Die Antwort: »Ich weiß nicht« oder: Schweigen als Antwort

Die negierende Antwort

Die Antwort »Ich denke …«, »Ich fühle …«

Die Antwort, die eine Verhaltensweise beschreibt

Was fällt anderen Personen auf?

Was geschieht zwischen Ihnen und der anderen Person?

Die Antwort: »Die Situation und die anderen werden sich ändern«

Die Antwort: »Sozialarbeiter mischen sich nicht mehr in mein Leben ein«

Die Antwort: »Die Angehörigen verändern sich«

3.6Mehrere Personen im Therapieraum

4.Die Wunderskala

Wann kann man das Wunderbild skalieren?

Worin besteht der Unterschied?

Was würden die anderen sagen?

Wie haben Sie das gemacht?

Ressourcen und Kompetenzen

Wie macht es sich bemerkbar, wenn Sie die nächsthöhere Stufe erreicht haben?

Der Klient antwortet: »Ich weiß nicht«

Der Klient antwortet mit einer 10

Der Klient antwortet mit einer 0

Und noch einmal: Man weiß nie, was man eigentlich gefragt hat

Die Wunderfrage und die darauf folgenden Sitzungen

Was sonst noch?

5.Das magenfreundliche Gespräch

6.Hinschauen statt deuten

6.1Wo bleibt die Theorie?

»Tatsachen«

»Familienähnlichkeiten«

»Sprachspiele«

7.»Mein wahres Ich«

8.»Private Erlebnisse« und das Verb »sein«

8.1Das Verb »sein«

9.Die SFBT und Emotionen

9.1Emotionen in ihrem Kontext

10.Fragen und mögliche Missverständnisse

10.1Allgemeine Einwände

Weshalb ignoriert die SFBT die Probleme der Klienten? Wie können Sie jemandem helfen, wenn Sie mit ihm nicht über seine Schwierigkeiten sprechen?

Wie können Sie ein therapeutisches Konzept anwenden, das sich nicht mit Gefühlen befasst?

10.2Einwände von Nichtexperten

Sie gehen davon aus, dass Menschen immer wissen, was zu tun ist. Viele meiner Klienten wissen das keineswegs. Manchmal muss man Menschen sagen, was sie tun müssen. Werden Therapeuten nicht genau dafür bezahlt?

Klienten leugnen manchmal ihre Schwierigkeiten und müssen deshalb mit diesen konfrontiert werden. Werden in der SFBT ernsthafte Probleme nicht ignoriert, wenn man den Klienten nicht mit seinen Problemen konfrontiert?

Wie geht man in der SFBT mit Dingen um, die auf Gefahren hinweisen oder die Sicherheit von Menschen bedrohen? Ignoriert der lösungsfokussiert arbeitende Therapeut Sicherheitsprobleme, wenn der Klient sie nicht thematisiert oder für unwichtig hält?

Wie geht der lösungsfokussiert arbeitende Therapeut z. B. im Fall von Kindesmissbrauch mit der Kontrolle durch Sozialbehörden oder -einrichtungen um?

10.3Die SFBT und andere Therapieansätze

Ist die SFBT nicht einfach eine Spielart von …?

Kann ich die SFBT integrieren in …?

10.4Eine Frage des Stils

Sie stellen anscheinend nur Fragen. Sind Klienten durch alle diese Fragen nicht irritiert?

Die SFBT scheint ein Ansatz der langsamen Schritte zu sein. Klienten müssen über die an sie gestellten Fragen nachdenken. Meine Behörde verlangt von mir, dass ich innerhalb kurzer Zeit sehr viele therapeutische Beurteilungen abgebe. Ich habe keine Zeit zum lösungsfokussierten Arbeiten

Ich glaube, die SFBT ist nur ein Trostpflaster. Was macht man bei diesem Vorgehen mit tief sitzenden Gefühlen und Problemen?

10.5Gibt es Belege für die Wirksamkeit der SFBT?

10.6Was macht das Arbeiten nach dem SFBT-Konzept lohnenswert? Könnte nicht auch ein Computer lösungsfokussiert arbeiten?

Das Vorgehen der SFBT klingt irgendwie langweilig. Was ist der Kick daran, immer wieder die Wunderfrage zu stellen?

Welche Erfahrungen machen Therapeuten und Therapeutinnen, die im Stil der SFBT arbeiten?

11.Fazit

Literatur

Über die Autoren

Vorwort

Steve de Shazer und Insoo Kim Berg haben das Leben unzähliger Menschen berührt. In Ihrer bescheidenen und oft unauffälligen Weise haben beide uns, die wir bei Ihnen lernen durften, reich beschenkt. Was Steve und Insoo gaben, war nicht das Brot, sondern die Saat, um eigene Getreidefelder anlegen zu können. Das erforderte manchmal etwas mehr Geduld, gab dem Empfänger dann aber Jahr für Jahr neue Ernte. Mit wenig mehr als einem Jahr Abstand sind nun beide von uns gegangen; mir scheint, wir können Ihre Güte und Ihren Humor, ihren kristallklaren Blick und ihre erstaunliche Geduld, Ihren Scharfsinn und die in langen Jahren der Arbeit mit menschlichen Problemen gewachsene Weisheit am wirksamsten würdigen, wenn wir so viel wie möglich von alledem, was wir dem lösungsfokussierten Ansatz und seinen beiden Gründern verdanken, weitergeben und es dabei als Saatgut behandeln, das in neuen Umgebungen auch auf unterschiedliche Weise aufgehen kann.

Dieses Buch, an dem Steve und Insoo noch selber mitgewirkt haben, wirkt auf mich daher wie eine Art würdiger Stabübergabe im Staffellauf; und Steve und Insoo hatten in ihrem wundervoll fruchtbaren Leben und Lehren gut dafür gesorgt, dass die Botschaft an vielen Orten weitergegeben und weiterentwickelt wurde und werden wird.

Sokratischer vs. lösungsfokussierter Dialog

Das klare Licht, das Steve de Shazer in seinem Zusammenwirken mit Insoo Kim Berg auf grundlegende Fragen der Therapie und des Menschen im Allgemeinen geworfen hat, lässt sich wie mit einem Prisma in viele Facetten aufspalten. Eine dieser Facetten zeigt sich in seiner Abwendung von der Grundidee des sokratischen Dialogs als einer Form, in der der Angesprochene (zu) wenig Freiraum erhält für die Nutzung und Entwicklung seiner eigenen kreativen Ideen.

In diesem Buch entwickelt Steve gemeinsam mit Yvonne Dolan und dem Team ihrer Koautorinnen (Insoo Kim Berg, Harry Korman, Terry Trepper und Eric McCollum, im Folgenden kurz ›das Team‹) die Idee eines lösungsfokussierten Dialogs als Kontrast und Alternative zum sokratischen Dialog, eine Alternative, die den in unserer Kultur in Erziehung und Bildung, in Schulen und Universitäten, in Therapie, Beratung und Training oft immer noch vorherrschenden Ansatz von Abrichtung (wie es Wittgenstein nannte) oder (bestenfalls) Pacing und Leading nicht nur durch einen viel weicheren, unauffälligeren und zurückhaltenderen ersetzt, sondern eine radikal und grundlegend andere Haltung zum Dialogpartner einführt.

Wer Steve de Shazer kannte, weiß, auf welche Weisen er unauffällig zu sein verstand. Mir kam er manchmal vor wie einer der großen (und oft etwas ruppigen) taoistischen Weisen, von denen gesagt wurde, dass sie keine Spuren im Sand hinterließen.

Doch darin erschöpft sich der Unterschied zum sokratischen Dialog nicht: Sokratischer Dialog ist erzieherisch, Steve war das nie. Im sokratischen Dialog wird der Gesprächspartner zu einem vorher bekannten Ziel hingelotst, im lösungsfokussierten Dialog erkundet der Gesprächspartner in dem weit offenen Raum Möglichkeiten, die ihm schon einmal zuvor, wenigstens in Fragmenten, zur Verfügung standen. (Daher ist eben auch die Wunderfrage bei jedem neuen Klienten eine neue Frage – und sogar bei jeder einzelnen Erwähnung des Wunders!)

Wittgenstein als nachträgliches Fundament für Steve de Shazer

Dieses Buch zeigt vielleicht klarer als irgendeines seiner früheren Werke die wirklich grundlegende Rolle der Philosophie Wittgensteins für Steve de Shazers Ideen zum Ansatz der lösungsfokussierten Kurztherapie.1 Wittgenstein wird hier nicht etwa als Steinbruch ge- oder missbraucht, aus dem sich jeder bei Bedarf ein passendes Fragment oder kleines Zitat herausbrechen kann, wie das heute in so vielen Texten der Fall ist.

Die Haltung und die Grundidee seiner Philosophie kommen vielmehr im Denken und Handeln von Steve de Shazer und in der Praxis exzellenter lösungsfokussierter TherapeutInnen wie Insoo Kim Berg und dem Team so deutlich zum Vorschein, dass dies für einen interessierten und geschulten Beobachter wie Gale Miller (Becoming Miracle Workers) und für jemanden, der seit Jahrzehnten über Logik und Wittgenstein forscht (wie der Autor dieser Zeilen), zu einer wichtigen Quelle neuer Einsichten zu Wittgensteins Werk wurde; eine in der (modernen) Philosophie unübliche und wundersame Vertauschung der Rollen von Theorie und Praxis. Das Verhältnis wird hier ein wechselseitiges: Wittgenstein liefert nicht nur ein Fundament für die SFBT, sondern diese auch ein tieferes Wittgensteinverständnis.

Dabei ist Wittgenstein nicht einfach die Grundlage von Steve de Shazers Ideen, da der lösungsfokussierte Ansatz zunächst weitgehend ohne Bezug zu Wittgenstein entstanden war (ähnlich ist de Shazers Verhältnis zu Derrida zu sehen), es sei denn, man greift die seltsame Idee eines nachträglichen Fundaments auf. Vielmehr war Steve wirklich glücklich, in Wittgenstein – endlich – jemanden gefunden zu haben, dessen Denken dem eigenen wirklich ähnelte.

Für mich und meine Frau Insa Sparrer bildeten Abende mit nicht endenden Gesprächen seit den frühen Achtziger Jahren über den Ansatz der Schule von Milwaukee, der sich zu den Grundlagen der Lösungsfokussierung über Steves Kritik an dem von uns hochgeachteten Gregory Bateson, in dem er »just a muddled thinker« sah, sehr im Gegensatz zu seiner außerordentlichen Hochachtung für John Weakland, schließlich seit 1989 mehr und mehr auf Wittgenstein richtete. Es war ein großes Geschenk, im Dialog mit Steve zu erleben, wie bei ihm Philosophie und (lösungsfokussierte) Praxis nicht etwa nur allmählich verschmolzen, sondern sich in gewissem Sinne als ›immer schon eines‹ herausstellten.

Wittgensteins philosophische Therapie

Ein wesentlicher Zug der Philosophie Wittgensteins besteht in der Idee, viele menschliche Probleme als durch eine Art schlechte Philosophie entstanden anzusehen, entstanden über die »Verhexung durch die Sprache«. Auf dieser Sicht beruht dann auch die Umwendung, die Aufgabe einer guten Philosophie, einer »philosophischen Therapie«, darin zu sehen, den Menschen aus dieser Verhexung zu befreien, indem die Irrtümer durch Fragen aufgehoben werden.

Doch anders als im sokratischen Dialog gebärdet sich Wittgenstein nicht als der Wissende, der einen anderen über etwas, das er im Vorhinein weiß, zu belehren vorhat, sondern lässt uns über ein Netz von Fragen selber ins dialogische Denken kommen. Wittgenstein ist hier ständig bereit, seine eigenen Fragen und Erwägungen durch andere in Frage zu stellen, und diese durch wieder andere. Seltsamerweise entstehen dabei Einsichten – aber eben kein fixes Theoriegebäude. Und könnte das gerade gesagte nicht schon eine Schilderung von Steve im lösungsfokussierten Dialog gewesen sein?

Wittgenstein sieht seine Philosophie als eine Art philosophischer Therapie zur Aufhebung oft leidvoller und auf jeden Fall hinderlicher sprachlicher Verstrickungen und Denkirrtümer an – und so ähnlich lässt sich auch Steves Verständnis vom Wesen des lösungsfokussierten Interviews sehen. Hier kann die Rolle der Logik als kunstfertiges Mittel zur Aufhebung menschlichen Leidens erkannt werden, ganz wie das in der buddhistischen Tradition gesehen wurde. Die Rolle der Unterschiede verknüpfte zugleich Steves Denken mit Spencer-Browns Unterscheidungsbegriff, doch war Wittgenstein für ihn viel tiefer und umfassender.

Solche wittgensteinschen Wendungen, aufgefasst als kunstfertige Mittel im Rahmen des Therapiegesprächs, zeigen sich unter anderem in der Auflösung von verdichteten Vorstellungen über innere Zustände und Gefühle und in der Entwicklung neuer hilfreicher Handlungsgewohnheiten bei den Klienten. Gefühle sind für Wittgenstein wie für Steve keine inneren Dinge; es sind problematische und irrige Denkgewohnheiten, die uns zu dieser Sicht immer wieder verleitet haben.

Irreduzibilität des Regelfolgens bei Wittgenstein

Der antitheoretische Zug Wittgensteins zeigt sich auch in seiner Ablehnung der Idee, dass das »einer Regel folgen« zerlegt werden könne in die Regel2 und das »ihr folgen«. Aus der Sicht der Philosophischen Untersuchungen, Wittgensteins berühmtestem Spätwerk, bildet ein Regelfolgen eine Einheit, aus der im Allgemeinen keine Regel als eigenständiges »Objekt« der Betrachtung herausgelöst werden kann. Was das mit Therapie und Methodik zu tun hat? Nun, versuchen Sie einmal eine gängige therapeutische Theorie ohne Bezugnahme auf Regeln zu formulieren!

Problematisches Verhalten von Menschen ist nun natürlich ebenso wie das, was sie nach einem Wunder täten, jeweils eine Form des Regelfolgens. Wenn in modernen Psychotherapieformen von so genannten Verhaltensmustern und Glaubenssätzen die Rede ist, sind dies aus Wittgenstein’scher ebenso wie aus lösungsfokussierter Sicht irreführende Redeweisen, da ja »die« Regel im Regelfolgen letztlich nicht anzutreffen ist. Lösungsfokussierung ist also auch in dem Verzicht auf die Generalisierung durch Regeln zu sehen, und damit im Verzicht auf innere Dynamiken, Verhaltensmuster, Dispositionen, …

Aus einer Lösung, die sich in einem Fall als wirksam erweist, wird im lösungsfokussierten Ansatz keine neue Regel abgeleitet3. Jede Beschreibung von Gefühlsqualitäten und Eigenschaften innerer Zustände der KlientInnen entfällt hier.

Die Systematik des lösungsfokussierten Ansatzes ist eine Systematik der Methode, nicht der Inhalte. Sie lässt sich auf der Ebene der Syntax, nicht aber auf der Ebene der Semantik verstehen.

Theorie, Praxis und Lernbarkeit

Einerseits ist der lösungsfokussierte Ansatz zweifellos eher eine in Jahrzehnten der Praxis entwickelte pragmatische Methodologie als ein Theoriegebäude im klassischen Sinne; doch andererseits sind grammatische Einsichten, Einsichten über die Art, in der die Struktur unserer Sprache Einfluss auf die in der Sprache ausgedrückten Fragen und Probleme nimmt, ein Zug, der über pure Pragmatik weit hinausreicht.

Steve de Shazer bot denen, die ihn kennen lernen und bei ihm lernen durften, ganz nebenbei eine Lösung zum Umgang mit der alten Frage über das Verhältnis von Theorie und Praxis an; eine Lösung, die wieder sehr nahe bei Wittgensteins Haltung zu dieser Frage liegt. Für Steve zeigte sich das Muster der Methode gerade in der brillanten Praxis seiner Frau Insoo Kim Berg, die auf so vielfältige Art hier in diesem Buch vertreten ist, sowohl als Therapeutin im Falltranskript als auch als Gesprächspartnerin bei den Reflexionen des Teams über die Fälle.

Steve de Shazer hatte die außergewöhnliche Fähigkeit, grundlegende Einsichten aus der Beobachtung von Praxis zu gewinnen, und sich zugleich bei dem Klienten auf das ganz Konkrete eines Falles zu beschränken, ohne die KlientInnen oder die von ihm Lernenden mit inhaltlichen Thesen über die Regeln des ursprünglich gestörten Verhaltens zu belasten. Zugleich aber hatte er eine reflexive Aufmerksamkeit, eine Art methodisch-theoretischen Witness State, durch den er das, was andere in der Praxis unbewusst verkörperten, zum Vorschein brachte, beschreibbar machte und damit lernbar.

Denn ohne Bewusstsein für solche nicht mehr inhaltlich gebundenen Invarianzen höherer Ordnung ist es schwer, etwas zu vermitteln und lernbar zu machen. Der Beitrag von Steve de Shazer dazu kann aus meiner Sicht gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. So wird z. B. klar, dass Vorsicht bei jeder Verdinglichung von Gefühlen geboten ist, wo Gefühle als eine Art innere Ursache von Leiden gesehen werden: Dies kann schon die Form der Konstruktion eines Problems haben.