Loe raamatut: «Selbstmitgefühl für Eltern», lehekülg 2

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Alle haben es schwer

Vielleicht war dein schrecklicher, furchtbarer, sehr schlechter Tag nicht so dramatisch wie derjenige von Amélie, vielleicht war er auch schlimmer, aber wir alle haben mindestens eine Geschichte über »jenen Tag« zu erzählen. Wir sind alle schon mal hungrig, wütend, einsam und müde mit leerem Tank oder etwas Schlimmerem dagesessen. Mutter oder Vater sein ist schwer für alle, aber besonders schwer ist es, wenn Angehörige weit weg sind und die Umgebung sie ersetzen soll, voller Idioten ist, oder anderen Eltern, die keine Zeit für uns haben. Und so erleben die meisten von uns heutzutage ihre Elternschaft – ohne ein Netzwerk und ohne Netz, das uns auffängt oder eine helfende Hand, wenn etwas unweigerlich schief geht. Die Verheißung der Elternschaft war Verbundenheit und Liebe, und doch finden wir uns einen Großteil der Zeit einsam und überfordert wieder. Und selbst wenn wir Hilfe haben, müssen wir immer einen Preis dafür zahlen. Es kann so leicht passieren, dass man ohne »Sprit« dasitzt. Wie können wir ohne Vollbremsung auftanken? Wird sich die Qualität unserer Erziehungsarbeit verbessern, wenn wir dafür sorgen, dass es uns selbst wieder gut geht? Mit diesem Buch möchten wir dir eine »Werkzeugkiste« voller Techniken, Anekdoten, Humor, Unterstützung und Rat anbieten, um dir zu helfen, gesund durch die Jahre der Kindererziehung zu kommen und dabei auch selbst Freude zu haben. Und wir werden dir helfen, die Probleme zu erkennen, die nicht als Eingriffe in oder Unterbrechungen deines früheren kinderlosen Lebens auftauchen, sondern als Chancen für Wachstum und Weisheit.

»Ja klar, Auftanken,« spottest du. »Wie wäre es mit Wut-Management? Oder ein paar Beruhigungspillen? Oder einem doppelten Martini?«

Ich verstehe. Wir alle waren schon an diesem Punkt. Was ich dir in diesem Buch aber hoffentlich vermitteln kann, ist, dass es dir leichter fallen wird, deine Wut in den Griff zu bekommen, Verantwortung zu übernehmen, emotional stabil zu bleiben und dich an deinem Kind (oder deinen Kindern) zu erfreuen, wenn du gut für dich selbst sorgst. Die Autorin Audre Lorde drückte es prägnant in einem Satz aus: »Selbstfürsorge ist keine Selbstverhätschelung, sondern Selbsterhaltung.«

Dir selbst Achtsamkeit und Mitgefühl entgegenzubringen ist kein Freibrief, faul zu sein, sich vor Verantwortung zu drücken oder auf einem Kissen zu sitzen und Nabelschau zu betreiben, während deine Kinder streiten und die Wohnung demolieren. Es hat nichts damit zu tun, sich selbst gegenüber zu nachgiebig zu sein. Im Gegenteil, Achtsamkeit hilft uns, klar zu sehen und aus einer Position der Freundlichkeit und Weisheit heraus zu handeln. Eine Definition von Achtsamkeit ist »klar sehen«.

Was also ist »Achtsamkeit«? Es gibt viele Definitionen aber die eine, die mich als Mutter und Psychologin stets geleitet hat, ist eine sehr einfache, unaufgeregte, schnörkellose Definition: »Gewahrsein des gegenwärtigen Moments mit Freundlichkeit und Akzeptanz.« Angesichts der ständigen Stresssituationen und Belastungen der Elternschaft, seien es schlaflose Nächte, kindliche Wutanfälle, Geschwisterrivalitäten, schwierige Schwiegereltern oder ein(e) kritische(r) Partner:in ­­– wir brauchen eine warmherzige und mitfühlende Antwort auf unsere jeweilige Erfahrung.

»Klingt gut«, wendest du vielleicht ein, »aber das ist nicht realistisch. Die Welt ist ein rauer Ort; wir alle werden ständig beurteilt. Es ist lebensfremd, zu denken, man könne immer freundlich und akzeptierend sein. Manchmal werde ich einfach wütend. Und wie bringt man Kindern bei, was richtig und was falsch ist? Wie kann man sie motivieren, ihr Bestes zu geben, wenn man keinen Druck macht? Und wir müssen an die Zukunft denken. Es ist einfach nicht machbar.«

Das sind alles sehr gute Fragen, denen ich mich noch widmen werde. Was ich vorschlage, ist ein radikal anderer Ansatz, Kinder zu erziehen, Mutter oder Vater zu sein: eine andere Art, mit unseren Kindern und uns selbst zu sein. Die meisten von uns sind daran gewöhnt, sich durch Kritik zu motivieren, und meinen, dass wir, wenn wir uns selbst anschreien und ausschimpfen, besser, effektiver, glücklicher und erfolgreicher sein werden.

Tatsächlich funktioniert Selbstkritik so gut wie nie. Kristin Neff, weithin bekannt für ihre umfassende Forschung über Selbstmitgefühl (siehe Kapitel 2), hat viel zu diesem Thema geschrieben. Selbstmotivation mit Freundlichkeit und Mitgefühl ist tatsächlich effektiver als der Einsatz von Kritik.4

»Ja klar, noch mehr Psycho-Blabla,« protestierst du und willst das Buch schon weglegen. Warte einen Moment! Diese Ideen haben auch einen Einfluss auf die Geschäftswelt. Der Wirtschaftswissenschaftler, Unternehmer und Philanthrop Charles Schwab schrieb: »Ich muss erst noch den Menschen finden, wie hochrangig seine Position auch sein mag, der in einem Klima der Zustimmung nicht besser arbeiten und sich stärker bemühen würde als in einem Klima der Kritik.«5

Wenden wir uns, um dies zu veranschaulichen, noch einmal Amélie zu, die mich nicht wegen einer Therapie konsultierte, sondern um »bei Verstand« zu bleiben, wie sie es ausdrückte. »Ich brauche keine Therapie«, protestierte sie, »sondern einen Eltern- und Erziehungscoach. Ich weiß nicht, was ich machen soll, meine Geschwister, die auch kleine Kinder haben, und meine Eltern sind viele Flugstunden entfernt. Ich habe keine Hilfe und ich will nicht die neuen Freundschaften mit anderen Eltern strapazieren, die sowieso rar sind.«

Im weiteren Verlauf des Gesprächs wurde Amélies Geschichte greifbarer. Sie war wegen des Jobs ihres Mannes an die Ostküste gezogen und hatte Freunde und Familie zurückgelassen. »Die Menschen hier sind so kalt wie das Wetter«, sagte sie traurig. »Und alle wirken so ausgeglichen. Ich fühle mich wie ein einziges Durcheinander«. Sie begann zu weinen. »Wir sind wegen Toms Arbeitsstelle hierher gezogen – nicht, dass er je da ist; er muss zweimal im Monat auf Geschäftsreise.

Und wenn er nach Hause kommt, ist er müde und hungrig und will, dass die Kinder nur Freude machen und das Haus picobello ist und dabei vergisst er, dass das Haus kein Hotelzimmer ist und es hier keinen täglichen Zimmerservice gibt …« Sie hielt inne und holte tief Luft. »Es funktioniert einfach nicht.« Sie schwieg einen Moment. »Ich kümmere mich um alle, ich schlafe nicht, ich bin einsam, ich esse, was die Kinder übriglassen, weil ich so viel zugenommen habe, aber jetzt laufe ich meistens hungrig durch die Gegend. Manchmal habe ich das Gefühl, so schnell durch meinen Alltag zu hetzen, dass ich kaum Luft holen kann. Aber was mir am meisten Angst macht, ist das Gefühl, dass ich mich selbst verliere und mein Gehirn nur noch Brei ist. Ich habe mein altes, kompetentes Selbst verloren. Niemand kümmert sich um mich. Ich brauche Hilfe – und zwar jetzt. An diesem schrecklichen Morgen, als mir das Benzin ausging und ich im Schnee zu einer Tankstelle laufen musste, sah ich das Schild, auf dem ›Rundum-Service‹ stand und ich fragte mich, ›werde ich mich je wieder ganz fühlen?‹ Oder werde ich mich für immer so ausgelaugt fühlen?«

Ich probierte die folgende Reflexionsübung mit Amélie aus, die ihr half, sich wieder mit dem Gefühl, kompetent zu sein, zu verbinden.

Reflexion: Zu dir finden

Hast du das Gefühl, dich verloren zu haben als du Mutter (Vater) wurdest? Nimm dir einen Augenblick Zeit und frage dich: »Wer bin ich?« Frage dich das wieder und wieder. Kam das Wort »Mutter« (Vater) in einer der ersten Antworten vor? Das ist wunderbar, aber wer bist du AUSSERDEM? Wir können diese unsere Essenz auch dann nicht verlieren, wenn uns das Elternsein überfordert.

Im Laufe der weiteren Arbeit fügte ich noch folgende Übung hinzu (angeregt von Christopher Germers Buch Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl), die Amélie morgens nach dem Aufwachen praktizierte. Das ist eine großartige Ausgangsposition. Wir wissen, dass du viel zu tun und keine freie Zeit hast. Keine Sorge. Stell dir einen Küchenwecker, die Übung dauert nur drei Minuten. (Bitte erzähl mir nicht, du hättest keine drei Minuten).

Sich um sich selbst kümmern
Aufnahme 1

 Nimm dir einen Moment Zeit, um eine bequeme Sitzhaltung zu finden.

 Komm zur Ruhe.

 Nimm deinen Atem wahr. Manchmal sind wir so beschäftigt, dass wir gar nicht realisieren, dass wir atmen. Wo ist der Atem? Wo nimmst du die Empfindung des Atmens am stärksten wahr? Konzentriere dich auf diese Stelle und spüre, wie der Atem ein- und ausströmt.

 Lass dich einen Atemzug voll spüren.

 Frage dich: »Wie merke ich, dass ich atme?«

 Nimm die Empfindungen in deinem Körper wahr.

 Was bemerkst du? Bist du hungrig? Müde? Welcher Emotionen bist du dir bewusst? Was fühlst du?

 Genauso, wie du dein Kind in den Armen hältst oder wiegst, lass dich sanft von jedem Ein- und Ausatmen wiegen und halten.

 Lass dich vom Ein- und Ausströmen des Atems beruhigen, trösten und erden.

 Wenn du magst, kannst du eine Hand auf den Brustkorb legen oder je eine Hand auf Brustkorb und Bauch.

 Spüre die angenehme Wärme der Berührung.

 Atme fünfmal tief ein und aus. Ja, du hast Zeit für fünf Atemzüge. Du atmest ja sowieso.

 Gib dir die Erlaubnis, dich um dich selbst zu kümmern, freundlich zu dir zu sein. Du verwendest soviel Zeit darauf, dich um andere zu kümmern, um die Bedürfnisse anderer. Nimm dir einen Moment für dich selbst. Was brauchst du?

 Gib dir die Erlaubnis, zu essen, zu duschen, dich auszuruhen, innezuhalten und zu atmen.

Amélie probierte das ein paar Wochen lang aus. An manchen Tagen gelang es ihr nur für drei Atemzüge, aber auch das schien bereits zu helfen. Obwohl es ihr so simpel vorkam, hatte sie das Gefühl, dass es sie erdete.

»Manchmal bin ich so hektisch, dass ich vergesse zu essen oder keine Zeit zum Duschen finde. Ich war völlig ausgepowert. «Und jetzt erkenne ich, wie wahr die Redensart ist, mit der ich im Süden aufgewachsen bin: ›Wenn Mama nicht glücklich ist, ist niemand glücklich‹», sagte sie lachend. Ich kann nicht ohne Schlaf oder Essen auskommen und dann erwarten, dass es in der Familie gut läuft. Wenn ich nichts zu geben habe, leiden alle darunter. Ich habe erkannt – und das war ein Durchbruch für mich – dass ich nicht von anderen abhängig sein muss, um meine Batterien aufzuladen. Ich kann es selbst tun. Ich brauche weder meinen Mann, noch meine Geschwister oder Eltern, um mich zu stärken. Das war sehr befreiend.«

Es gibt viele Möglichkeiten, Achtsamkeit und Mitgefühl zu praktizieren. Nicht alle wollen still sitzen und nach innen schauen. Kein Problem. Eine Größe passt nicht für alle. Ich werde dir helfen, herauszufinden, was für dich funktioniert. Ich vermittele den Leuten gerne kurze Reflexionen, bei denen man sich einen Moment Zeit für sich selbst nimmt (vielleicht wenn die Kinder im Bett sind), und sich Gedanken über die eigenen Bedürfnisse und Wünsche macht. Nach dieser Übung kannst du notieren, was bei dir dabei aufgetaucht ist.

Reflexionsübung: Was brauche ich?

Finde einen ruhigen Augenblick, vielleicht am frühen Morgen oder Abends, nachdem die Kinder zu Bett gegangen sind. Stell dir, wenn du magst, vor deinem inneren Auge einen mächtigen Baum mit tiefen Wurzeln und einem starken Stamm vor. Nimm wahr, dass die Zweige des Baumes sich so hoch gen Himmel strecken, wie die Wurzeln tief sind. Du könntest dir sogar vorstellen, dass du durch deine Schädeldecke einatmest und dann durch deine »Wurzeln« oder Füße ausatmest.

Frage dich »Was brauche ich?«

Halte inne und achte auf Worte oder Bilder, die eventuell auftauchen.

Frage noch einmal »Was brauche ich wirklich?«

Nimm dir ein paar Minuten Zeit, um dich für alles zu öffnen, was hochkommt.

Schreib auf, was du entdeckt hast.

Als Amélie diese Übung ausprobierte, bemerkte sie, dass sie sich innerlich mit dem Bild des tief verwurzelten Baumes verband. »Ich habe meine Familie und meine Geschwister und meinen Freundeskreis verlassen, um hierher zu kommen und ich vermisse dieses Gefühl der Verbundenheit wirklich. Irgendwann hatte ich die Vorstellung, dass ich eines Tages einen Partner, ein Zuhause und Kinder haben würde und dass alles wundervoll sein würde und ich alles hätte, was ich brauchte; dass ich mich erfüllt fühlen würde. Wie ich mich getäuscht habe! Ich fühle mich hier so isoliert, so allein. Und ich dachte, ich könnte das alles schaffen, aber ich schaffe es nicht. Ich brauche eine Auszeit. Ich kann nicht sieben Tage die Woche 24 Stunden am Tag für alle da sein. Dieser Baum braucht Sonne, Wasser und ein bisschen Dünger!«

Damit ist Amélie nicht allein. Viele von uns fühlen sich isoliert. Im Laufe der vergangenen 30 Jahre habe ich mit so vielen Eltern gesprochen und habe so viele Wege gesehen, die in die Isolation führten. Manchmal warten wir, bis wir meinen, alle Puzzlestücke am richtigen Platz zu haben: Die Karriere, das Haus oder die Wohnung, ein anständiges Einkommen, und wir denken »Ja, das ist der richtige Zeitpunkt«. Aber dann klappt es vielleicht nicht mit der Schwangerschaft, und wenn wir dann endlich Kinder bekommen, haben die meisten unserer Freundinnen ihre Kinder schon gehabt oder sind wieder in den Beruf zurückgekehrt. Anstatt mit unseren Freundinnen Zeit zu verbringen und unsere Kinder im goldenen Sonnenlicht auf der Schaukel anzustoßen, sind wir auf der Suche nach Babysitter:innen und Kindermädchen. Plötzlich haben wir das Gefühl, aus dem Tritt zu sein. Oder das Unternehmen, für das wir arbeiten, hat uns in ein anderes Bundesland oder sogar ins Ausland versetzt. Soviel zu diesem Traum. Vielleicht hat auch unsere Partnerin das Gefühl, dass sie nun an der Reihe ist, sich auf ihre Karriere zu konzentrieren und wir sind an den meisten Tagen der einzige Mann auf dem Spielplatz, und die Mütter und Babysitterinnen sind nicht sehr freundlich und es gibt niemanden, mit dem wir uns unterhalten können. Wie sehr wir uns auch anstrengen, wie viel wir auch planen: Es ist nie perfekt, und wir erkennen, wie wenig Kontrolle wir über die Dinge haben. (Falls du dich in dieser oder einer ähnlichen Situation befindest, gefällt dir vielleicht die Übung »Du musst nicht alles kontrollieren« in Kapitel 5, Seite 123).

Lernen, inne zu halten

Die Leute beklagen sich oft darüber, dass sie keine Zeit für eine Achtsamkeitspraxis haben, insbesondere mit kleinen Kindern. Keine Sorge: Ich verstehe das sehr gut. Ich hatte auch keine. Deshalb sind die von mir vorgeschlagenen Übungen – besonders die in den ersten Kapiteln – für Eltern gedacht, die zu viel zu tun haben, und denen es an Zeit für sich selbst mangelt. Die meisten dieser Übungen dauern nur drei Minuten oder weniger. Forscher:innen sagen uns, dass es auf die Regelmäßigkeit ankommt, nicht auf die Dauer der Übung oder Meditation. Denk mal darüber nach: Was würde dein Zahnarzt empfehlen? Einmal pro Woche die Zähne 40 Minuten lang zu putzen oder zweimal täglich drei Minuten lang? Und du musst auch nicht stillsitzen, um Achtsamkeit praktizieren zu können. Man kann das im Gehen, im Stehen, beim Autofahren (halte die Augen offen!), im Bett liegend und sogar beim Windelnwechseln tun (siehe die Übungen »Achtsamkeit im Alltag«).

Achtsamkeit muss nicht etwas sein, das du allein in der Stille eines Meditationsraums oder auf einem entgelegenen Berggipfel tust, sondern kann Teil deines verrückten, geschäftigen Lebens als hektische Mutter (oder Vater) werden, die oder der versucht, zu viel auf einmal unter einen Hut zu bringen. Und genau dann brauchst du sie am meisten.

Eine der einfachsten Übungen ist die »Elternpause«, die von der Psychologin und Meditationslehrerin Tara Brach adaptiert wurde. Tara Brach lehrt, dass eine simple ein- oder zweiminütige Pause den Ton und die Richtung einer Interaktion verändern kann – eine Fertigkeit, die sich bei der Kindererziehung und in allen Beziehungen (insbesondere engen Beziehungen) als sehr wertvoll erweist.6

Warum kannst du, verd… nochmal, nicht einschlafen!?

Leon hatte einen sehr stressigen Job im Verkauf. Bevor er und Kyra heirateten, hatten sie sich darauf geeinigt, die Kinderbetreuung halbe-halbe untereinander aufzuteilen. Theoretisch hatte sich das gut angehört aber Tim war eine Frühgeburt und hatte Atemprobleme. Es wurde zwar besser, aber sowohl Kyra als auch Leon machten sich weiterhin Sorgen um ihn. Als Tim sieben Monate alt war und nachts immer noch nicht durchschlief, schlief niemand im Haus nachts durch.

Kyra arbeitete im Einzelhandel, was bedeutete, dass sie lange Arbeitstage hatte und manchmal auch am Wochenende arbeiten musste. In den ersten Monaten, als Kyra im Mutterschutz war, hatten sie das Baby nach Bedarf gefüttert und sich über jeden Schrei Sorgen gemacht. Nach ihrer Rückkehr an ihren Arbeitsplatz war Kyras Chef nicht gerade begeistert darüber, dass sie tagsüber abpumpte. Und das Baby nachts alle zwei Stunden zu füttern war zusätzlicher Stress.

Leon war sicher, dass er es besser machen könne und bot großzügig an, das nächtliche Füttern zu übernehmen. »Kein Problem, ich hab das im Griff«, versicherte er Kyra. Doch es war nicht so einfach wie er gedacht hatte. Beim Versuch, es »richtig« zu machen und Kyra zu zeigen, wie kompetent er war, stand er jedes Mal auf, wenn Tim einen Laut von sich gab, fütterte ihn und versuchte, ihn wieder schlafen zu legen. Doch Tim genoss es, mitten in der Nacht seinen Papa zu sehen und beschloss, dass jetzt »Partyzeit« war: Er weigerte sich, wieder einzuschlafen. Die nächtlichen Fütterungen dehnten sich von fünf Minuten auf 50 ­Minuten aus und Leons Erschöpfung begann sich am Arbeitsplatz bemerkbar zu machen, was sich auch in Flüchtigkeitsfehlern niederschlug.

Die Nächte wurden schlimmer, nicht besser. »Wir müssen mit einem Schlaftraining anfangen«, sagte Leon, »Mein Job steht auf der Kippe. Ich mache Fehler und schlafe bei der Arbeit ein.«

»Auf keinen Fall«, insistierte Kyra. »Das ist missbräuchlich und sadistisch. Wir werden das unserem Kind nicht antun.«

Als Leon und Kyra zur Beratung kamen, sprachen (oder schliefen) sie kaum noch. Ihre Uneinigkeit über Tims Schlafgewohnheiten hatte zu einer tiefen Kluft in ihrer Ehe geführt. Sie litten nicht nur unter erheblichem Schlafmangel, das Problem hatte auch alte Probleme aus Kyras Familie zutage gefördert. Sie war sicher, dass es Tim schaden würde, wenn man ihn schreien ließ. Leon war der festen Überzeugung, dass es Tim prima ging und dass sie »übertrieben emotional« sei. Und das sagte er ihr auch. Diese Missachtung ihrer Gefühle erinnerte Kyra daran, wie ihr Vater ihre Mutter behandelt hatte, und sie revanchierte sich, indem sie ihn als unsensibel bezeichnete. Sie waren in einem Teufelskreis gefangen und weder er noch sie konnten nachgeben. Zu diesem Zeitpunkt war Tim fast ein Jahr alt.

Nachdem ich dieses Muster eines eskalierenden Konflikts eine Weile beobachtet hatte, fragte ich: „Können wir an dieser Stelle etwas anderes ausprobieren? Wir drehen uns immer wieder im Kreis. Darf ich euch eine Achtsamkeitsübung zeigen, die dazu beitragen könnte, den Teufelskreis zu durchbrechen?

»Auf keinen Fall«, erwiderte Kyra und ging in die Defensive. »Das ist uns zu esoterisch. Wir sind schon in einer Kirche. Ich will keinen trendigen Quatsch. Das machen wir nicht.«

»Okay, was ich euch beibringen will, hat mit all dem nichts zu tun. Es geht ausschließlich darum, euren Stress zu reduzieren, die ständigen Streitereien zu verringern und euch zu etwas Schlaf zu verhelfen.«

»Nun, das wäre nichts Geringeres als ein Wunder«, erwiderte Kyra sarkastisch.

»Ein Versuch kann nicht schaden. Wenn es nicht funktioniert, müsst ihr es ja nicht machen.«

In Ihrer Verzweiflung willigten Kyra und Leon ein, es zu versuchen.

Es ist eine sehr wirkungsvolle Übung für Paare, aber sie ist auch hilfreich bei Spannungen zwischen einem Elternteil und einem Kind. Stelle den Küchenwecker auf fünf Minuten ein.