Loe raamatut: «Selbstmitgefühl für Eltern», lehekülg 5

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Achtsamkeit im täglichen Leben

Natürlich geht bei unserer Elternschaft meistens nicht um entzückend lächelnde Babys, ungeachtet dessen, was wir alle uns in den Jahren, bevor wir uns auf diesen Weg begaben, vorgestellt hatten. Sigmund Freud bezeichnete die Erziehungsaufgabe nicht ohne Grund als einen »unmöglichen Beruf«. Glücklicherweise haben die in diesem Buch vorgestellten Übungen das Potenzial, den physischen und emotionalen Tribut, den das Elterndasein von uns fordert, zum großen Teil umzukehren. Indem wir unseren Geist trainieren – so wie wir unseren Körper im Fitnesscenter trainieren – sind wir für die alltäglichen Anforderungen und Aufgaben gerüstet, die so wichtig für unsere Elternschaft sind: Entscheidungsfindung, emotionale Flexibilität, Empfänglichkeit und Verständnis. Ein Training in Aufmerksamkeit, das uns hilft, bewusst im gegenwärtigen Moment zu sein, anstatt uns in Gedanken über die Vergangenheit oder Sorgen über die Zukunft zu verstricken, fördert ebenfalls Qualitäten, die ganz wesentlich für das Glück und Wohlergehen einer Familie sind: Resilienz, Ruhe, Gelassenheit, Mitgefühl und Verbundenheit. Richard Davidson, ein Neurowissenschaftler und Pionier auf diesem Forschungsgebiet, betont, dass es möglich ist, unsere Emotionen zu trainieren.9

Und das gilt genauso für die Plackerei der Erziehung. Ich denke nicht, dass wir jeden Aspekt der Elternschaft bedingungslos lieben müssen (es nicht so einfach, Windeln und Toilettentraining zu lieben) aber ich möchte darauf hinweisen, dass wir die Wahl haben, wie wir auf die unerfreulichsten Aspekte reagieren wollen.

Die meisten Eltern von kleinen Kindern wechseln mindestens sechs bis acht Windeln pro Tag. Nach einer Schätzung verbrauchen Kinder insgesamt ungefähr 8.000 Windeln … wenn du mehrere Kinder hast, kannst du die Gesamtmenge ausrechnen.

Kein Quantum an Achtsamkeit und Mitgefühl wird unangenehme Dinge aus unserem Alltagsleben zum Verschwinden bringen. Vollgekackte Windeln werden sich nicht wie durch Zauberhand in Luft auflösen oder in Gold verwandeln. Aber was geschieht, wenn wir Gewahrsein in die Aufgabe des Windelwechselns hineinbringen? Wie wir auf die täglichen Mühen des Elterndaseins reagieren, kann einen großen Einfluss darauf haben, wie wir unseren Tag erleben. Während wir die unangenehmen Aufgaben der Elternschaft und Kindererziehung nicht zum Verschwinden bringen können, haben wir eine Wahl im Hinblick auf unsere innere Einstellung dazu. Die Achtsamkeitslehrerin Sharon Salzberg betont, dass es bei Achtsamkeit nicht darauf ankommt, was passiert, sondern »wie wir auf das, was passiert, reagieren«. Was zählt, ist der Unterschied zwischen einem Gedanken wie: »Mein Leben ist beschissen, war es immer schon und wird es immer sein – das hier ist nur noch eine Steigerung« und dem Gedanken: »Das hier ist eine unangenehme Aufgabe aber es ist notwendig und wohltuend für mein Kind. Ich tue es einfach.«

Wenn sich die täglichen Anforderungen der elterlichen Fürsorge für das eigene Kind überwältigend anfühlen und dich niederdrücken, dann probiere es in deinem Alltag einmal mit den folgenden Achtsamkeitsübungen. So wie man einen Muskel trainiert, können wir bei einfachen Handlungen wie dem Windelwechseln trainieren, mit dem anderen, nicht sprichwörtlichen »Scheiß« zu sein, der im Laufe unserer Elternschaft zutage treten wird.

Schmutzige Windeln

 Halte kurz inne, bevor du die Windel wechselst.

 Atme durch. Spüre deine Füße auf dem Boden.

 Schau dein Baby an. Schau ihm in die Augen. Lächle.

 Schau, ob du auf eine akzeptierende, nicht-reaktive Weise bei dem bleiben kannst, was während dieser Aufgabe auftaucht Empfindungen, Gedanken, Gefühle, Gerüche.

 Wenn wir Dinge mögen, wollen wir daran festhalten. Dinge, die wir nicht mögen, wollen wir gereizt oder verärgert wegschieben.

 Eine angemessene Reaktion ist es, anzuerkennen, dass dies nicht verschwinden wird, ob es mir passt oder nicht.

 Nimm die einzelnen Schritte des Windelwechselns bewusst wahr das Aus- und Anziehen der Kleidung, die Benutzung von Feuchttüchern, Öl, Puder.

 Vielleicht schreit das Baby, windet und wehrt sich. Das tun Babys eben. Atme tief ein und aus, bleib geerdet. Dieser Moment wird vorbeigehen.

 Schau, wie es ist, die Dinge so sein zu lassen, wie sie sind und nicht davon abgestoßen zu werden.

 Das gehört zum Leben. Der Zen-Meister Thich Nhat Hanh hat oft gesagt »Kein Schlamm, kein Lotos«.

 Während du diese Tätigkeit beendest, ist dir bewusst, dass du dein Baby sauber und zufrieden hältst.

 Wenn du magst, kannst du das Ganze mit einem Lächeln und einer Umarmung abschließen.

 Wiederhole das 8.000 Mal.

Viele Meditationslehrer und -lehrerinnen weisen darauf hin, dass man nicht viel Zeit im Tagesablauf einplanen muss, um still zu sitzen – welche Eltern können sich diesen Luxus schon leisten? Sehr hilfreich ist die Vorstellung, dass zahlreiche achtsame Momente im Laufe des Tages einen riesigen Unterschied in Bezug auf das eigene Wohlbefinden und die Fähigkeit, mit Stress umzugehen, ausmachen können. Eine meiner Lehrerinnen brachte es auf den Punkt – »Kurze Momente – oft«. Achtsamkeit zu praktizieren muss keine große Sache sein. Du kannst das immer und überall machen und dabei tun, was du sonst auch tust. Ziel dieser Übungen ist es, zu lernen, auch während einer profanen oder unangenehmen Tätigkeit präsent zu sein. Bei der informellen Praxis geht es darum, zu tun, was wir immer tun, dabei aber zu wissen, dass wir es tun – vielleicht indem wir versuchen, die Dinge etwas mehr mit unseren Sinnen wahrzunehmen.

Probiere die folgende Übung einmal morgens aus, wenn es hektisch zugeht und du kaum Zeit zum Frühstücken hast (keine Sorge, ich werde jetzt keinen Vortrag über die gesundheitlichen Vorzüge von Kräutertee halten). Das erinnert mich an einen Spruch, den ich kürzlich im Internet gelesen habe: »Da sitzt ein Typ im Café, hängt nicht am Handy, hackt nicht auf seinen Laptop ein; trinkt einfach nur Kaffee. ­– Was ein Psycho.« Wie oft trinkst du einfach nur deinen Kaffee, wenn es Zeit ist, deinen Kaffee zu trinken? Achtsamkeit muss nicht 10 Minuten lang auf einem Meditationskissen stattfinden, sie kann 10 Minuten lang beim Kaffeetrinken stattfinden. Okay, vielleicht 5 Minuten. Denn du brauchst ­wirklich zwei Dinge, um als Mutter oder Vater bei Trost zu bleiben: Deinen Kaffee und deine fünf Minuten.

Meditation »Kaffeetrinken«

 Falls du deinen Kaffee selbst zubereitest: Halte inne und atme tief durch, bis das Wasser kocht.

 Lausche den Geräuschen des sich erhitzenden Wassers oder der Kaffeemaschine.

 Rieche den Kaffee; nimm den Duft in dich auf.

 Achte beim Einschenken des Kaffees auf alle Sinneseindrücke: Nimm aufmerksam die Farbe, den Geruch und den Dampf wahr, der aus der Tasse aufsteigt.

 Falls du Milch, Sahne oder Zucker hinzufügst, nimm auch das aufmerksam wahr. Achte bewusst auf die Tätigkeit des Umrührens.

 Halten inne, bevor den ersten Schluck nimmst. Inhaliere das Aroma.

 Spüre die Wärme der Tasse.

 Genieße den ersten Schluck. Ahhh.

 Schmecke den Kaffee wirklich.

 Was bemerkst du? Wie fühlt sich das auf deiner Zunge an? Lass dich die Empfindung des Schluckens spüren.

 Nimm dir eine Minute Zeit, um dort zu sitzen (oder zu stehen falls es einer dieser Morgen ist), halte inne, während du den Kaffee trinkst und nimm so viele Momente wahr, wie du kannst.

 Schau, ob du diese Aufmerksamkeit und dieses Gewahrsein in deine alltäglichen Aktivitäten hinüber retten kannst. Versuche, alle paar Wochen eine neue Aktivität hinzuzufügen, der du totale Aufmerksamkeit schenkst.

Lästige Aufgaben

So wie Achtsamkeit uns helfen kann, unsere Kinder mit neuen Augen zu sehen, kann sie uns auch helfen, Dinge, die wir normalerweise im Autopilot-Modus erledigen oder die wir als lästig oder mühsam empfinden, mit einer neuen Einstellung zu tun. Wir haben nicht gezählt, wie viele Wäscheladungen wir zusammengelegt oder wie viele Töpfe und Pfannen wir gespült und abgetrocknet haben, aber glaub mir, es sind sogar noch mehr als die Windeln, die wir gewechselt haben. Jahrelang war Hausarbeit eine ungeliebte, lästige Pflicht, unangenehm aber notwendig. Und wie immer haben wir keine Wahl im Hinblick auf das Geschirrspülen, Wäschewaschen oder Windelwechseln. Es muss getan werden. Aber wir haben die Wahl, mit welcher Einstellung wir diese Aufgaben erledigen wollen. Wir können murren und uns beklagen oder wir können versuchen, etwas Neues oder sogar Vergnügliches in der jeweiligen Aufgabe zu entdecken. Eine andere Möglichkeit, mehr Achtsamkeit ins Alltägliche hineinzubringen, ist, diese Dinge bewusst zu einer Entdeckungsreise zu machen und neugierig zu werden. Kannst du, während du etwas Bestimmtes zum x-ten Mal machst, etwas Neues darin entdecken? Schau, ob du etwas wahrnehmen kannst, was du bisher noch nie an einem Wäscheberg, an den Farben des Geschirrs und … Okay vielleicht oder vielleicht auch nicht an dieser Windel wahrgenommen hast. Unsere Kinder sind von Natur aus neugierig, besonders, wenn sie klein sind, und sie drücken das jederzeit aus. Bitte sie, dir Gesellschaft zu leisten und die Empfindungen und Erfahrungen während der Hausarbeit wahrzunehmen. Sie drücken ihre Sinneserfahrung oft unmittelbar aus »Ohhh, das Wasser ist warm, die Seife kitzelt, die Blasen sind lustig.« Versuche, dieses Wunder im Alltäglichen zu entdecken. Wenn die Kinder das können, kannst du es auch.

Viele Lehrerinnen und Lehrer vermitteln eine bestechend einfache Übung, bei der man der eigenen Hände gewahr wird. Ich habe sie zuerst von Tara Brach gelernt. Hier eine Version, die ich für Eltern kreiert habe:

Achtsamkeit für die Hände

 Erlaube dir zunächst einmal, einen Moment innezuhalten, bevor du den Haufen Geschirr im Spülbecken spülst oder den Berg Wäsche zusammenlegst, vor dem du dich den ganzen Tag gedrückt hast.

 Betrachte deine Hände. Fang an, mit den Fingern zu wackeln und lass behutsam die Handgelenke kreisen. Werde der Bewegungen gewahr.

 Balle die Hände zu Fäusten und öffne sie wieder. Spüre deine Hände von innen nach außen.

 Nimm die Empfindungen in deinen Händen wahr das Pulsieren und Vibrieren. Du musst das nicht benennen, einfach nur fühlen.

 Werde jedes einzelnen Fingers gewahr, der Handflächen und Handrücken.

 Schau, wie es sich anfühlt, deine Hände zu »bewohnen«. Vielleicht stellst du fest, dass andere Bereiche deines Körpers anfangen, sich zu entspannen und loszulassen.

 Nimm deinen Nacken deine Schultern, deinen Kiefer wahr. Hat sich da etwas geändert?

 Bleib mit deiner Aufmerksamkeit bei deinem Körper, bevor du mit der nächsten Tätigkeit beginnst.

Diese Übungen können aufeinander aufbauen. Probiere die folgende kurze Reflexionsübung aus.

Reflexion: Seifenblasen

 Versuche dich zu erinnern, wann du das erste Mal in Seifenwasser geplanscht hast.

 Für manche kleinen Kinder haben Seifenblasen etwas Magisches. Kinder entdecken oft Regenbögen darin, die Erwachsene aufgrund der ganzen Plackerei gar nicht mehr sehen.

 Wenn du anfängst, die Töpfe und Pfannen vom Mittagessen zu spülen, betrachte die Seifenlauge einmal mit neuen Augen.

 Stell dir vor, du sähest diese Seifenblasen zum ersten Mal, was du ja eigentlich auch tust.

 Werde deiner Hände gewahr, spüre die Wärme des Wassers, rieche das Spülmittel, richte deine ganze Aufmerksamkeit auf deine Tätigkeit.

 Mach dir bewusst, mit welcher Einstellung du an diese Aufgabe herangehst. Ist es dir lästig, einen Berg Geschirr zu spülen und abzutrocknen? Was geschieht, wenn du an diese Aufgabe herangehst, als würdest du das zum ersten Mal machen?

 Schau, ob du dieses Gewahrsein deiner Einstellung zu einer bestimmten Tätigkeit im Laufe des Tages auch in andere Aufgaben hineinbringen kannst.

Einmal wurde der Zen-Meister Thich Nhat Hanh gefragt, wie man Achtsamkeit praktizieren könne. »Soll ich euch mein Geheimnis verraten? Ich versuche, den angenehmsten Weg zu finden, Dinge zu tun. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine anstehende Aufgabe zu erledigen – aber bei der, die mir am meisten Spaß macht, kann ich meine Aufmerksamkeit am besten aufrechterhalten.«10 Das ist simple Neurowissenschaft, wenn man mal darüber nachdenkt. Thich Nhat Hanh empfiehlt uns immer, beim Atmen zu lächeln. Warum sollte man das Atmen nicht genießen? Und ich gehe noch weiter: Warum sollte man beim Geschirrspülen nicht zumindest lächeln? Dasselbe gilt für die Elternschaft und die damit verbundenen Aufgaben. Wenn wir innere Widerstände gegen das Windelwechseln, Geschirrspülen und Wäschewaschen haben und diese Dinge als lästige Pflichten empfinden, können wir wütend und gereizt werden und uns durch die mit der Führung eines Haushalts und der Fürsorge für eine Familie verbundenen Aufgaben belastet fühlen. Aber wenn wir selbst bei profanen Tätigkeiten frische Impulse bekommen können, kann das unser Erleben im Hinblick auf die Aufgaben des täglichen Lebens verändern.

4 Eine ausführliche (englischsprachige) Zusammenfassung der Forschung über Selbstmitgefühl (self-compassion) findet sich auf Kristin Neffs Website www.self-compassion.org. Umfassende Ressourcen und Hilfen in deutscher Sprache finden sich auf www.arbor-online-center.de/themen/achtsames-selbst-mitgefuehl

5 Charles Schwab, zitiert in Coleman, Mark: Schließe Frieden mit Dir selbst: Wie wir uns mit Achtsamkeit und Mitgefühl vom inneren Kritiker befreien können. Freiburg: Arbor Verlag, 2018, Seite 65.

6 Brach, Tara: Mit dem Herzen eines Buddha: heilende Wege zu Selbstakzeptanz und Lebensfreude. München: Knaur Verlag, 2005 (orig. dies.: Radical acceptance: Embracing your life with the heart of a Buddha. New York, NY: Bantam Books, 2004, S. 53).

7 Tara Brach: A.a.O., Seite 52.

8 Du bist nicht deine Schuld – »You are not your fault«: Meditationslehrer Wes Nisker, zitiert in: Coleman, Mark: Schließe Frieden mit Dir selbst: Wie wir uns mit Achtsamkeit und Mitgefühl vom inneren Kritiker befreien können. Freiburg: Arbor Verlag, 2018 (orig. ders.: Make Peace with Your Mind: How Mindfulness and Compassion Can Free You from Your Inner Critic. Novato, CA: New World Library, 2016). Seite 43.

9 Goleman, Daniel und Davidson, Richard: Altered Traits: Science Reveals How Meditation Changes Your Mind, Brain, and Body. New York, NY: Avery/Random House, 2017.

10 Zitiert nach: Murphy, Sean: One bird, one stone: 108 American Zen stories. New York, NY: Renaissance Books, 2002. Seite 85.

2
»Warum ist das so schwer?«
Selbstmitgefühl als Rettungsinsel nutzen

Hast du dich jemals für etwas gehasst, das du zu deinem Kind gesagt oder ihm angetan hast? Hast du je die Beherrschung verloren? Hast du je Verhaltensweisen an den Tag gelegt, an die du nicht einmal denken willst und von denen möglichst nie jemand erfahren soll? Voller Verzweiflung und Angst, dass die »Elternpolizei« (die es zum Glück natürlich nicht gibt) kommen und dich für irgendeinen Verstoß festnehmen würde?

Wir sind alle unvollkommene Eltern

Keine Sorge, damit bist du nicht allein. Niemand ist eine perfekte Mutter oder ein perfekter Vater und wir alle bauen auch Mist. (Ich auch … frag meine Kinder). Dies ist eine urteilsfreie Zone. Deine Geheimnisse sind hier sicher. Dieses Kapitel soll dir helfen, deine Unzulänglichkeiten mit etwas Abstand zu betrachten, und zeigen, wie man mit Freundlichkeit darauf antworten kann (anstatt mit Selbstverachtung, einer Flasche Schnaps, einer Großpackung Eiscreme oder Beruhigungspillen, nicht wahr …)

Ich spreche nicht davon, die Dinge zu beschönigen oder sich aus der Verantwortung zu stehlen. Selbstmitgefühl zu lernen ist kein »Freibrief«. Es geht darum, zu akzeptieren, dass wir alle unvollkommene Eltern sind. Es gibt keinen Grund, auf den Fehlern herumzureiten, sie im Geiste ewig wiederzukäuen oder am Ende in einem schwarzen Loch der Scham und des Bedauerns zu versinken. Es ist niemandem gedient, wenn du auf dir herumhackst.

Chrissies Konflikte mit ihrer neuen Stieftochter zeigen, wie Selbstmitgefühl in Aktion aussehen kann.

Nervenzusammenbruch

Als Chrissie, eine geschiedene Frau mit einem vierjährigen Sohn, den verwitweten Johann heiratete, der eine Siebenjährige mit in die Beziehung brachte, schien alles gut zu laufen. Offensichtlich aber nicht für Johanns Tochter Jenny, die nicht damit einverstanden war, dass ihr Vater sich nicht mehr auf Verabredungen beschränkte, sondern eine neue Ehe einging. Es machte sie wütend, bei den Großeltern zurückgelassen zu werden, während er mit seiner neuen Frau in die Flitterwochen fuhr. Sie betrachtete das als persönliche Beleidigung. »Du fährst mit ihr weg?«, protestierte sie.

Als die beiden zurückkehrten, ließ Jenny keine Gelegenheit aus, ­Chrissie zu zeigen, wie miserabel es ihr mit einer neuen Mutter ging. Sie wurde zunehmend unverschämt und bockig. Jeden Tag ein neuer Kampf. Wenn Chrissie Jenny bat, ihre Spielsachen wegzuräumen, ignorierte sie sie einfach oder stellte ihre Autorität infrage. Chrissie konnte nichts richtig machen und so verlor sie rasch die Geduld und ihre Zuversicht.

»Meine Freundinnen sagen mir, ich solle mich entspannen, das sei nur eine schwierige Phase«, erklärte Chrissie, »und dass sie schon einlenken würde. Ich weiß bloß nicht, wie lange ich noch warten kann. Dieses Wochenende war echt krass. Johann war auf Geschäftsreise und ich war mit den Kindern allein. Ich habe mich so angestrengt, damit alle Spaß haben. Wir schauten einen Film, den sie Kinder sehen wollten, Jenny durfte eine Freundin zum Übernachten einladen. Und Abends aßen wir Spaghetti, ihr Lieblingsessen.

Aber sobald die Freundin am nächsten Morgen abgeholt worden war, rastete Jenny aus. Die Mädchen hatten nicht viel geschlafen und sie war übermüdet. Sie fing an, Steffen zu schikanieren; zuerst neckte und beschimpfte sie ihn und später versteckte sie seine Lieblings-Action­figuren. Aber dann brachte sie das Fass zum Überlaufen, indem sie einen Legoturm zerstörte, an dem wir den ganzen Tag gearbeitet hatten – stundenlange Arbeit. Nun rastete er völlig aus und ich war auch kurz davor.

Aber ich versuchte mich daran zu erinnern, was die Stiefeltern-­Bücher in so einem Fall raten, und so sagte ich zu ihr ›Jenny, so geht es nicht. Sieben Minuten Auszeit‹ (eine Minuten für jedes Lebensjahr, wie die Expert:innen empfehlen).

Zuerst stand sie bockig da. Als ich den Küchenwecker stellte, wusste sie, dass ich es ernst meinte und ging in ihr Zimmer, aber vorher versetzte sie mir noch einen Stich ins Herz, indem sie schrie ›Ich hasse dich! Du bist nicht meine Mutter. Du wirst nie meine Mutter sein. Ich wollte, du wärst tot.‹«

Wir alle haben negative Emotionen

Chrissie erzählte diese Geschichte in meiner Praxis, während sie eine Box mit Kleenex-Tüchern umklammerte, sich die Tränen abwischte und beschrieb, wie sehr sie sich eine Tochter gewünscht und sich auf das Leben mit ihrer Patchworkfamilie gefreut hatte.

Ich antwortete mit einer eigenen Geschichte und erzählte ihr, wie mein Mentor mich nach der Geburt meines ersten Kindes beiseite genommen und zu mir gesagt hatte: »Niemand wird das zu dir sagen. Hör bitte zu und vergiss es nicht. Im Moment ist alles wunderbar und du merkst den extremen Schlafmangel kaum. Du siehst nur Rosen und Regenbogen und hörst Babyglucksen. Aber an einem bestimmten Punkt, denke an meine Worte, wirst du dein Kind hassen. Das garantiere ich dir.« Ich war wie vom Donner gerührt. Das würde mir nie passieren, nie. Wie konnte er es wagen, so etwas zu sagen! Er fuhr fort: »Und wenn das passiert – vielleicht erst in vielen Jahren – dann erinnere dich daran: Du bist auch nur ein Mensch. Es passiert uns allen.«

Chrissie hörte auf zu weinen, als ich erklärte: »Damals empfand ich das fast wie einen Fluch, wie eine Szene aus einem dieser Märchen, in dem alle dem Täufling ein wunderbares Geschenk geben und eine Person ihm ein Stück Kohle schenkt. Aber es hat sich als eines der nützlichsten Dinge erwiesen, die je jemand zu mir gesagt hat. Es half mir, auch den Wutgefühlen Raum zu geben und mich nicht so sehr dafür schämen zu müssen.«

»Und wo ich gerade von Märchen spreche«, fuhr ich fort, „Ich habe kürzlich gelesen, dass es in den frühen Versionen der Märchen nicht die Stiefmutter war, die die Kinder zu töten versuchte. Es war die biologische Mutter, die den Tod des Kindes wünschte. Die böse Stiefmutter wurde ein literarisches Ausdrucksmittel für diese Aspekte der Mutterschaft, die wir uns nicht gerne eingestehen: Wut, Aggression, Grausamkeit, Hass. Es ist einfacher, das abzuspalten, als einzuräumen, wie komplex die Gefühle einer Mutter für ihr Kind sind und umgekehrt.11

»Mein Mentor gab mir die Erlaubnis, negative Gefühle zu haben – natürlich nicht, aus diesen Gefühlen heraus zu handeln, aber aufzuhören, ihretwegen Schicht um Schicht von Schuld und Scham aufzutürmen und zu glauben, ich sei eine schlechte oder gestörte Mutter.«