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Susanne Sievert

Sternstunde

Der finstere König

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhalt

Widmung

Udy

Shanalei

Shen Su

Jewell Teil 1

Jewell Teil 2

Nachwort und ein großes DANKE

Impressum neobooks

Inhalt

Ich will alles. Nicht nur mein eigenes Land. Ich will den Norden, den Osten, den Süden, und den Westen. Ich will jede verfluchte Seele, jedes schlagendes Herz. Männer, Frauen, Kinder. Ich nehme mir alles. Mit Feuer und Schatten werde ich jedes der Reiche an mich reißen. Die Welt gehört mir, und jedes Lebewesen wird lernen, vor dem König zu knien. Ich bin der finstere König - und ihr seid NICHTS.“

In diesen vier Geschichten kämpfen vier unterschiedliche Frauen zeitversetzt gegen das Böse. Der Schatten greift nach ihren Seelen, und jede von ihnen muss sich beweisen.

Im Norden löscht der finstere König ganze Stämme aus. Seine Drachen fliegen über die nördlichen Gebiete, und ihr heißer Atem ergießt sich über die unschuldige Bevölkerung. Die Häuptlingstochter Udy kommt mit dem Leben davon, aber was sich nach dem Angriff in ihr Herz frisst, ist gefährlicher als die kalten Fänge des Königs.

Im Süden kämpft Shanalei, von ihrem Meister Soraya genannt, mit ganz anderen Problemen. Sie muss ihrem Meister unter allen Umständen gefallen, wenn sie den Schlägen und Demütigungen entkommen möchte. Ihre Situation erscheint hoffnungslos, denn dem Sohn des finsteren Königs ist sie hilflos ausgeliefert. Doch als Prinz Al’Dabar im Palast erscheint, geraten die Pläne ihres Meister ins Wanken.

Im Osten lebt Shen Su einsam und verlassen im letzten Tempel des Landes. Unter der Herrschaft des finsteren Königs verlieren die Menschen ihren Glauben, und es gibt niemanden, der auf Shen Sus heilende Kräfte vertraut. Die Einsamkeit drückt immer weiter auf ihr Herz, bis die Priesterin eines Tages entscheidet, ihre Heimat zu verlassen. Den einzigen Ort, den sie je kennengelernt hat. Sie sehnt sich nach ihrem Bruder und will ihn unter allen Umständen finden. So reist sie ins verdorbene Land und ahnt nichts von den Grausamkeiten, die sie dort vorfinden wird. Ihr Bruder erwartet seine Schwester bereits mit offenen Armen und blutigen Händen.

Im Westen haben die Dunkelelfenkinder Jewell und Jareé ihre Eltern verloren. Es herrscht Krieg zwischen den Lichtelfen und den Dunkelelfen und als wäre das nicht genug, kündigt sich der finstere König auf schwarzen Schwingen an. Niemand ahnt etwas von seiner Ankunft, denn statt mit Drachen und Schwert greift er mit schönen Worten und einer List an, die Jewell aus dem Leben wirft. Die Liebe zu ihrem Bruder hält sie aufrecht, aber was geschieht mit ihr, wenn diese Liebe nicht mehr erwidert wird?

Widmung

Für meine kleine Familie,

denn hier strahlt das Licht am hellsten.

Udy

Im Norden

Der Himmel färbte sich schwarz, Schreie zerrissen den Tag und tauchten ihn in eine tiefe finstere Nacht. Alles was wir kannten, war vergangen – versunken im roten Nebel. Die Schreie der Riesen wurden verspeist von dem hohen, schrillen Kreischen der Drachen, die von einem Augenblick auf den nächsten mehr als die Hälfte des Dorfes mit ihrem Höllenfeuer vernichteten.

Rauch, Rauch, überall Rauch. Blut haftete an meinen Händen, meiner Kleidung. Ich schmeckte Blut auf meiner Zunge, würgte gebeugt und geplagt über den toten Leibern meiner Familie. Ich schrie und hustete, fluchte und heulte wie ein kleines Kind.

Meine Mutter lag mit offener Kehle am Boden, ihre Augen starr und leblos zum Himmel gerichtet. Ich wollte sie umarmen, ein letztes Mal halten und mich geborgen fühlen. Doch ich klammerte mich an einen kalten, starren Körper und mit dem Wissen, meine Mutter für immer verloren zu haben, wuchs die Verzweiflung. Mein Herz presste sich zu einem schmerzhaften Klumpen zusammen. Sie war die Einzige, die mich verstand. Die Einzige, die mich beschützte. Sie war es, die sich vor mich stellte, als die Soldaten unser Heim angriffen. Sie schenkte mir das Leben und starb für mich und alles, was ich ihr gab, waren meine Tränen. Ich weinte um sie, um mein Volk und um mich.

Die Drachen hatten bei ihrem Angriff das Dach weg gerissen und während ich meine Mutter hielt, sah ich den schwarzen Himmel, vernahm aus weiter Ferne die kräftigen Flügelschläge und die schweren klirrenden Schritte der Soldaten.

Die Drachen zerstörten unser Heim – sie zerstörten alles in nur einem einzigen Augenblick. Wie konnte uns das nur geschehen? Wir waren vorbereitet gewesen, unser Volk war kampferprobt. Aber auf eine Naturgewalt wie diese konnten sich die Lebenden nie vorbereiten, denn das waren die Drachen. Eine Naturgewalt, die es immer gab und immer geben wird. Geboren aus Feuer – nur sich selbst gehörend.

Ich schloss die Augen, wartete ich auf die Soldaten und auf meinen Tod.

Hitze durchflutete meinen Körper und schwemmte die Wärme von meinen nackten Füßen bis hinauf zu meinem Kopf. In meinen Vorstellungen war der Tod stets kalt und betäubend gewesen. Grabeskälte, so erinnerte ich mich an die Worte meines Vaters. Ich blinzelte in das Licht, konnte meine Augen nicht öffnen. Tränen rannen über meine blutigen Wangen. Meine Augen schmerzten von dem grellen Licht. War das die Sonne? Meine Haut brannte, und die Hitze drückte meinen Atem tief in meine Brust.

Kein guter Tag zu sterben. Die Worte flimmerten in meinem Kopf. Kein guter Tag zu leben. Was nun? Ich musste mich für eines entscheiden.

Ich wog das Für und Wieder ab, bis ich einfach müde die Augen schloss und das Feuer einen Weg über meinen Körper fand.

„Dummes Kind!“

Das waren die ersten Worte, die ich vernahm, als ich das Bewusstsein wieder erlangte. Kaum öffnete ich die Augen, da traf mich rechts und links ein kräftiger Faustschlag. Ein Grinsen huschte über mein Gesicht. So fest konnte nur eine zuschlagen.

„Amüsiere ich dich? Glaubst du, ich habe mich zu meinem Vergnügen ins Feuer geworfen, um deinen verkrüppelten Körper aus dem Schutt zu ziehen?“

Mit Leichtigkeit wurde ich an den Schultern hoch gezogen und auf die Füße gesetzt. In meinem Kopf flimmerte es. Ich hustete Staub und Asche und Baktas ungeduldige Tritte gingen mir gehörig auf die Nerven. Blinzelnd öffnete ich die Augen, mein Herz schlug so schnell, das es in meiner Brust schmerzte. Die Erinnerung traf mich wie ein weiterer Faustschlag. Mein Heim stand in Flammen, über ihm kreiste in großen Bahnen ein schwarzer Drache. Auf ihm saß eine Gestalt, die ich von hier unten nicht erkennen konnte, aber es konnte sich nur um ihn handeln.

Der finstere König.

Die Angst schnürte meine Kehle zu und das Wissen, dass meine Mutter tot in der Hütte lag, zerriss mein Innerstes. Sie gewährte mir keine Sekunde der Trauer, als ihre Stimme über mich hinweg grollte: „Leg´ dich nie wieder zum Sterben hin!“

Zum ersten Mal schaute ich ihr direkt ins Gesicht. Die markanten Züge und die klaren, wachen Augen waren die meines Vaters so ähnlich. Meine Tante war groß und stämmig wie ein Bär. Ihre tiefe Stimme ähnelte der eines Mannes, so wie ihre körperliche Statur. Ihr Haar leuchtete in einem Rot, dass bekannt für unsere Familie war. Sie war grob, zäh und hatte überlebt.

„Bakta.“

Dieses Mal schlug sie mit der flachen Hand zu.

„Hast du mich verstanden, Udy?“, in ihrer Stimme lag ein drohendes Zittern. „Leg dich nie wieder zum Sterben hin.“

Mit ihren großen Händen packte sie meinen Oberarm und zog mich hinter die nächste Hütte. An uns zog eine Gruppe von Soldaten vorbei. Ihre Rüstung war ebenso schwarz wie das elende Land, welches die Ungeheuer ausspuckte. Aus unserem Versteck erblickten wir Gefangene, mehr tot als lebendig, und an schweren Ketten gefesselt, die einen Riesen bändigen sollten. Ich kannte jeden Einzelnen von ihnen und vor Hilflosigkeit wünschte ich mir zu schreien, aber meine Tante warf mir sogleich einen drohenden Blick zu. Meine Kehle schmerzte und klickte bei jedem Atemzug unangenehm. Ich spürte wie heiße Tränen meine Wangen hinab rollten. Das Kreischen des Drachen ließ meinen ganzen Körper erzittern. Meine Gedanken kreisten, die Umgebung verschwamm langsam vor meinen Augen und ich wusste, dass ich ohne meine Tante endlos verloren war.

„Ganz ruhig“, flüsterte sie dicht an meinem Ohr und hielt meine Hand. Ihre Schläge waren hart, aber umso weicher waren ihre Berührungen. Bakta holte mich ein Stück zurück in die wahre, grausame Welt, in der ich nicht mehr leben wollte.

Sie klopfte auf die Seite ihrer rechten Hüfte und unter ihrem Mantel entdeckte ich Vaters Schwert, dass er nur selten aus den Händen gab. Es war ein kleiner Trost, das Bakta es nun mit sich führte und eine Waffe bot uns die Gelegenheit zu überleben.

 

„Wir werden uns in die Wälder retten“, ihre Stimme klang seltsam verzerrt. „Du wirst überleben.“

Wir zogen uns ins Innere der Hütte zurück, beobachteten still die abrückenden Soldaten und die wenigen Drachen, die von der Schlacht noch übrig waren. Sie fraßen sich am Fleisch meines Volkes satt und das Schmatzen und Kauen dröhnte in meinen Ohren, dass ich fürchtete den Verstand zu verlieren.

Die Schreie unseres Volkes verebbten. Ich hörte hier und da ein leises Stöhnen, ein Schluchzen und Wimmern. Unser eigener, schwerer Atem zerriss die Stille und ich fürchtete mich so sehr, dass ich Schutz in Baktas Armen suchte. Aber Bakta war nicht meine Mutter. Sie duldete meine Berührungen, aber ich spürte an ihrer Haltung, wie unerwünscht sie waren.

„Du zählst bald 16 Winter. Du bist kein Kind mehr, also reiß dich gefälligst zusammen. In deinem Alter hatte ich bereits drei Kinder zu versorgen“, waren die einzigen Worte, die sie mir bitter zu raunte. Das schlechte Gewissen nagte an mir. Ich war nicht die einzige, die an einem Tag alles verlor.

Erst in der tiefen Nacht wagten Bakta und ich uns aus unserem Versteck. Mein Körper zitterte vor Kälte und die Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander. Im Gegensatz zu Bakta trug ich keinen Mantel zum Schutz gegen den frostigen Wind, sondern nur ein einfaches Kleid aus Tierfellen. Der Winter zählte im Norden viele Monate. Unser Volk war an kalte Tage gewöhnt, aber gegen die Kälte der Angst half kein Mantel und Feuer der Welt.

„Sei mutig“, sprach ich zu mir selbst, denn die Hölle die sich uns bot, zerschlug alle Gedanken an Kälte, Hunger und Angst. Vor uns öffnete sich ein Trümmerfeld, das wir selbst in der Dunkelheit erkennen konnten. Blutende, abgetrennte Körperteile, zur Asche gefallenes Holz – verbrannte Erde, geschlachtetes Vieh und Zerstörung, wo auch immer man blickte. Der Geruch von Asche, Tod und Blut war unerträglich. Ich hielt die Hände vor Mund und Nase, um nicht Blut und Galle zu würgen. Mit jedem Schritt hörte ich ein schauriges, saugendes Geräusch. Wasser drang durch meine dünnen Lederschuhe und als ich mich ängstlich nach unten beugte und nach meinem Schuh tastete, war es kein Wasser, das an meinen Händen haftete. Es war schmieriges schwarzes Blut, das an meinem Finger klebte.

„Gehen wir.“ Bakta warf mir einen bösen Blick zu. Er sagte mir deutlich: Kein Geheul mehr. „Sieh dich nicht um, Kind. Lauf – lauf in den Wald.“

An Baktas Seite rannte ich über verkohlte Erde, vorbei an den Aasfressern, die sich über die Reste meines Volkes her machten. Ich stolperte mehr, als dass ich auf zwei Beinen lief.

Im Lauf warf ich einen Blick zurück auf unser Dorf, dass 16 Jahre meine Heimat war. Hier wurde ich geboren. Ich erlebte hier die schönsten und schlimmsten Tage meines Lebens. Die Drachen hatten mir alles genommen. Nein, er hatte mir alles genommen! Er tötete meinen Vater, meine liebe Mutter. Er stahl mir mein Heim und das an einem einzigen Tag! Ich kannte doch nichts anderes. Hier war mein zu Hause. Hier war mein Leben.

Oh Göttin, was soll nur aus uns werden? Hast du dein Volk verlassen?

Bakta verpasste mir einen leichten Schlag auf die Schulter und ich kehrte meiner Heimat den Rücken. Es dauerte nicht lange und wir erreichten das schützende Geäst der Bäume, kühlen Erdboden und entflohen dem beißenden Geruch nach Feuer und Tod. Zum ersten Mal erlaubte ich mir aufzuatmen und sah meiner Tante an, dass auch sie sich eine winzige Pause gönnte. Der Wald roch erdig, würzig und nach frischem Holz. Noch vor einem Tag jagte unser Volk in diesem Wald, erlegte Böcke, Wölfe und hin und wieder sogar einen Bären. Heute Nacht wusste ich, dass wir auf den Schutz des Waldes angewiesen waren.

Bakta zog mich unermüdlich weiter, obwohl ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ich lief blind durch die Dunkelheit, klammerte mich unentwegt am Mantel meiner Tante fest. Meine Kräfte schwanden. Die Müdigkeit zerrte an meinem Körper. Seltsame Gedanken drangen durch meinen Kopf.

Ich will sterben. Nein, ich will leben. Ach, gib es doch zu, du hast Angst zu leben und zu sterben. Du bist ein Feigling, Udy Häuptlingstochter.

Plötzlich stoppte Bakta. Schnaufend beäugte sie unsere Umgebung, empfand sie scheinbar für sicher. Wir rasteten unter einem großen Baum, umgeben von Sträuchern und dem Schutze der Nacht. Liebevoll breitete sie ihren Mantel auf der Erde aus, auf dem ich mich keuchend fallen ließ. Ich war so müde und leer und dennoch erlaubten mir die wirren Gedanken keine Ruhe. Trotzdem drehte ich mich von Bakta fort und tat, als ob ich schliefe.

„Ich erlaube dir nicht zu sterben“, sprach Bakta in die Nacht und mit einer rauen Stimme, die zur Dunkelheit passte. Als ich keine Reaktion zeigte, schlug sie mir gegen die Schulter.

„Halte mich nicht zum Narren, Udy Häuptlingstochter! Ich weiß, dass du nicht schläfst.“

„Lass mich in Ruhe“, zischte ich herausfordernd und ihrer Schläge müde. „Wir werden alle sterben! Ob ich jetzt zu meinen Ahnen gehe oder morgen. Was macht es für einen Unterschied? Ich wünschte, du hättest mich in der Hütte verbrennen lassen. Unser Volk ist tot – alles ist zerstört! Wo wollen wir hin? Wo können wir hin, Bakta? Die Soldaten werden uns erkennen, ganz egal wo wir uns aufhalten werden. Ein Leben auf der Flucht? Ist dies das Schicksal, das unsere Göttin für uns erwählt hat? Lieber sterbe ich hier und jetzt, als ein solches Leben zu führen.“

Trotzig reckte ich mein Kinn nach vorn. Wenn meine Tante mich verprügeln wollte, sollte sie es ruhig tun. Ich war nicht mehr in der Lage, etwas zu empfinden. Körperliche Schmerzen erinnerten mich zumindest daran, dass ich noch am Leben war.

„Bist du von Sinnen, Kind? Du redest, als wärst du bereits tot!“

„Das bin ich.“ Die Wut verrauchte und entblößte die Trauer, die sich dahinter versteckte. „Mutter... Vater... Ich bin so müde Bakta, so müde...“

Die Tränen rollten über mein Gesicht. In diesem Moment legte meine Tante, ganz im Gegensatz zu ihrer Natur, den Arm um mich, und ich weinte und schrie laut in ihre Umarmung gehüllt. Sie strich geduldig und tröstend über meinen bebenden Körper, bis ich keine Tränen mehr weinen konnte.

„Es tut mir leid, dass du solche Grausamkeiten erleben musst“, sprach sie leise, und ich hörte an ihrer gebrochenen Stimme, dass sie denselben Verlust erlitten hatte. Ihre Kinder lagen unter einem Berg von Asche und ich schämte mich für meinen Ausbruch. „Du wirst überleben. Du musst überleben.“

„Du redest blöd daher.“ Mit dem Handrücken wischte ich die Tränen fort. „Und in Rätseln. Wie immer.“

Leise lachend löste Bakta die Umarmung.

„Du bist meine Familie, Udy. Und nun, da deine Eltern von uns gegangen sind, übernehme ich die Verantwortung. Außerdem…“, senkte sie ihre Stimme. „…habe ich dich im Traum gesehen, Kind. Das Leben hat für dich ein besonderes Schicksal erwählt.“

„Ach Bakta“, stöhnte ich und verdrehte merklich die Augen.

Meine Tante erzählte meiner Familie und mir oft von ihren Träumen, und nichts von dem, was sie uns vorhergesagt hatte, war jemals eingetreten. Es waren, wie sie selbst sagte, nur Träume.

„Hör mir zu!“, forderte sie mit eisiger Stimme.

Abwinkend legte ich mich auf das Lager, hüllte mich in ihren Mantel und zog den Stoff hoch bis zu meinem Gesicht.

„Davon will ich nichts hören“, murmelte ich, noch bevor ich die Augen schloss. „Die Hoffnung, die in deinen Träumen liegt, kannst du für dich behalten.“

Sie sagte kein Wort mehr, bis ich einschlief.

Mit einem heftigen Stoß in die Rippen weckte Bakta mich aus meinen Träumen. Auf der einen Seite dankte ich ihr, denn meine Träume bestanden aus Blut, kreischenden Drachen und Soldaten in klirrenden Rüstungen, aber auf der anderen Seite wollte ich nur bis zu meinem Lebensende schlafen.

„Wir gehen weiter“, erklärte sie kurz angebunden.

Sie streckte müde ihre Arme in die Höhe, enthüllte ihre wahre Größe. Immer wieder erstaunte mich ihre Gestalt, und ich fragte mich, ob ich jemals zu solcher Größe heranwachsen würde. Meine Statur war für das Volk der Ahm Fen eher untypisch. Mein Körper war klein und zierlich – zu dünn und zu schwach für das raue Land. Meine Tante erzählte mir immer wieder, wie enttäuscht mein Vater war, als er den kleinen Säugling in den Armen hielt, der gerade auf seine Handfläche passte.

In unserem Blut fließt das Geschlecht der Riesen. Von Natur aus ist das Volk der Ahm Fen grob, grimmig und Fremden feindlich gesinnt. Ahm Fen ist unsere Göttin und stolz trägt jeder Riese ihr Geburtsmal auf der Stirn: Eine mit drei roten Strahlen durchzogene Sonne.

Zur Enttäuschung meines Vaters war mein Geburtsmal nur schwer zu erkennen. Ein verkrüppeltes Bild auf meiner Stirn, von dem niemand sagen konnte, was es war. Die weisen Alten sprachen von Unheil, aber meine Mutter wollte von alledem nichts wissen und drohte jedem, der gegen mich etwas sagte, mit Folter und Tod. Die wispernden Stimmen starben schnell, niemand wünschte den Groll meiner Mutter.

Mein Vater gab mir daraufhin den Namen Udelka. Übersetzt bedeutet mein Name in unserem Dorf "die Unvollständige". Meine Mutter aber nannte mich von Geburt an nur Udy. Ich war ihr einziges Kind - ihr Sonnenschein. Aus diesem Grund erwählte sie auch diesen Namen für mich, denn Udy bedeutet Sonne.

Ich unterdrückte ein leises Schluchzen, als ich mich an die Umarmungen meiner Mutter erinnerte. Und daran, dass ich sie nie wieder spüren würde.

„Vorwärts, vorwärts“, drängte Bakta mit ernstem Blick.

Zügig räumten wir unseren Lagerplatz zusammen und vernichteten alle Spuren, die unsere Anwesenheit verraten konnten. Wie gehetzte Tiere flüchteten wir durch den Wald, folgten einem Weg, der ins Ungewisse führte und fürchteten uns vor dem kleinsten Schatten.

Nein, sollte die Flucht unser Leben bestimmen? Auch wenn ich neben Bakta wie ein Zwerg wirkte, so besaß ich dennoch denselben Stolz wie alle Ahm Fen Krieger.

Ich verlangsamte meine Schritte, bis ich einfach stehen blieb. Irritiert davon, meine Schritte nicht mehr neben ihren zu hören, blickte Bakta über ihre breite Schulter zurück, und hielt sogleich in ihrem Tempo inne.

„Weiter!“, befahl sie so streng, wie mein Vater es immer gewesen war. Es war, als blickten seine eisigen Augen auf mich herab.

Mit verschränkten Armen schüttelte ich den Kopf.

„Nein, ich gehe keinen weiteren Schritt.“

Bakta trat schnaubend auf mich zu. Sie erhob drohend ihre Hand, schlug aber nicht zu. Stattdessen blitzte es in ihren Augen auf, und ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht.

„Am Tag deiner Geburt, als ich dich eigenhändig aus deiner Mutter zog, wusste ich: Dieses Kind wächst zu einer starken Frau heran. Auch wenn du ein Zwerg bist.“

Meine Tante lachte, und ich konnte ihrem krächzenden Lachen nicht widerstehen. Das war das erste Mal, dass sie meine Größe liebevoll und nicht vorwurfsvoll verspottete.

„Wo laufen wir hin, Bakta?“

„Kannst du dich an die Geschichte der Bergriesen erinnern, die ich dir in Kindertagen erzählte?“

Meine Tante erzählte mir als Kind so manche Geschichten, doch die der Bergriesen blieb mir besonders in Erinnerung. Nicht nur, weil sie brutal und blutrünstig waren, sondern auch unvorstellbar weit ab von der wirklichen Welt. Jedes Mal wenn es donnerte und blitzte, sagte Bakta zu mir, die Bergriesen beginnen ihre Wanderung zu den ewigen Gefilden.

„Erzähl mir bitte nicht, wir folgen den Spuren der Bergriesen...“

Ich schlug mir ungläubig gegen die Stirn, als Bakta meinem Blick auswich.

„Himmel, Bakta!“ Meine Schreie hallten hohl durch den Wald. „Du klammerst dich an Träume und Geschichten, während das wahre Grauen unser Land heimsucht! Wir sind auf der Suche nach Mythen und Legenden, die du dir in deinen eigenen Träumen zusammen gesponnen hast. Du bist verrückt!“

„Nein, hör mir zu...“

Ein Pfeil schoss an meinem Ohr vorbei.

Die Federn am Ende des Holzes streiften meine Wange, und einen Augenblick später steckte der Pfeil im Baum. Im Augenwinkel beobachtete ich, wie Bakta zu dem Schwert griff, das sie unter ihrem Mantel trug, es entschlossen und ohne Furcht hielt. Das Schwert meines Vaters. Mein Atem stockte. Ich bereute meine Worte, meinen Wutausbruch. Mit tränenverhangenem Blick suchte ich nach einer entschuldigenden Geste. Mein Mund öffnete sich, doch meine Tante schüttelte nur ihren Kopf.

 

„Sagte ich nicht, dass sich die restlichen Bastarde im Wald verstecken werden?“

Der Mann lachte, und als er einen Schritt nach vorne trat, vernahm ich wie in meinem Albtraum das Klirren seiner schwarzen Rüstung.

„Es sind nur eine Frau und ein Mädchen. Mach schnell. Ich bin müde, und will zurück zum Lager. Die Nacht war lang, ich habe genug von diesen Barbaren gesehen. Mehr, als ich in diesem Leben vertrage.“

Langsam und zitternd drehte ich mich um. Es waren drei Soldaten, die vor uns standen und uns beobachteten. Ein Soldat mehr, als ich vermutete.

„Egal was passiert, Udy“, sprach meine Tante in unserer Stammessprache, denn diese Worte waren nur für mich bestimmt. „Überlebe und gehe deinen Weg. Auf dich wartet eine ganz neue Welt.“

Eine Träne rollte über meine Wange. Die Soldaten lachten schallend über uns.

„Seht euch die Bastarde nur an! Ihre Sprache klingt wie das Schnaufen meines alten Gauls und sie bewegen sich wie fette Schweine“, jaulte einer von ihnen.

„Die Tiere nehmen wohl Abschied voneinander“, grölte ein anderer.

Nein, schrie ich in Gedanken, und als ob meine Tante meine Gedanken lesen könnte, antwortete sie mit warmer Stimme: „Folge deinen Träumen, Udy Häuptlingstochter, und lebe weiter.“

Wie eine schwere Glocke tönte Baktas Kriegsschrei in den Wald hinein. Mit dem ersten gezielten Schlag ihres Schwertes zerteilte sie den Soldaten, der Pfeil und Bogen trug. Überrascht über ihre Kraft zogen die beiden Soldaten ihre Waffen und griffen meine Tante von zwei Seiten an. Mühelos wehrte Bakta die ersten drei Angriffe ab, schwang ihr Schwert wie unsere Göttin Ahm Fen selbst und tötete einen zweiten Mann. Mit dem nächsten Schlag entwaffnete sie den letzten Soldaten, der blitzschnell einen Dolch aus seinem Stiefel zog und mit festen Tritt Bakta ihre Kniekehle traf. Mit einem Grunzen strauchelte Bakta vorwärts, fand aber ihre Gleichgewicht, und gerade als ich es wagte, aufzuatmen, packte der Soldat in Baktas lange rote Haarpracht, zog kräftige ihren Kopf nach hinten und schnitt ihr die Kehle durch.

So groß und massig ihre Gestalt auch war, so sanft und geräuschlos fiel ihr Körper auf den weichen Erdboden. Ihre funkelnden Augen verloren sich in der Ferne, kein Atem hob ihre Brust, kein Laut floss über ihre Lippen.

Bakta war tot.

Wie betäubt starrte ich auf ihren regungslosen Körper.

Ahm Fen, steh mir bei.

„Genau aus diesem Grund töten wir euch!“, schrie der letzte Mann triumphierend, und reinigte seinen Dolch an ihrem Mantel, auf dem ich letzte Nacht noch geschlafen hatte. „Bei allen Göttern, ihr seid die Pest!“

Seine Sprache war mir geläufig. Mein Vater lehrte mich, den Feind besser zu kennen als sich selbst, aber er redete sehr schnell und abgehakt. Ich verstand nur einzelne Worte, aber das Schwert in seiner Hand konnte man in allen Sprachen verstehen. Er benutzte es zum Töten.

„Bleib ganz ruhig Mädchen, dann ist es auch schnell vorbei.“

Mit dem Dolch vor seinem Körper schritt er gelassen auf mich zu. Er war sich siegessicher und warum auch nicht? Wer war ich denn? Udelka, die Unvollständige. Der Krüppel, der Zwerg, der nie ein Schwert in den Händen hielt und stattdessen die Tiere versorgen musste, kochen, putzen, sich unauffällig verhalten. Udy, die unter der Decke ihre Geheimnisse der Dunkelheit anvertraute die Zerrissenheit in die Wiege gelegt bekam.

Sieh dich um.

Wie?

Sieh dich um, Kind.

Die Stimme in meinen Kopf lenkte meine Bewegung. Sie klang wie meine eigene und doch ganz anders. Ich drehte mich um und entdeckte den im Baum steckenden Pfeil. Der Soldat erkannte meine Absicht und stürmte auf mich zu, aber da zog ich den Pfeil bereits aus dem Baum, holte weit aus und stach dem Mann das rechte Auge aus. Kreischend ließ er den Dolch fallen, hielt sich die Hand vor sein Gesicht. Keuchend holte ich ein zweites Mal aus, stach erneut zu. Erblindet wälzte er sich auf dem Boden, heulte in seiner dreckigen Sprache.

„Miststück. Du verdammtes, elendes Miststück!“

Auf der Erde lag sein Dolch, mit dem er meine Tante getötet hatte. Ihr Blut haftete an der Klinge und glänzte in der Wintersonne. Obwohl die Kälte durch meine Kleidung pfiff, brannte mein Gesicht von all den geweinten Tränen. Das musste enden. Hier und jetzt. Was sagte Bakta zu mir? Ich sollte leben? Gut, dann musste er sterben.

Einen Moment später lag die Waffe in meiner Hand, und der Stahl fühlte sich großartig an.

Mit meinem Fuß drehte ich den Mann auf den Rücken, kniete mich zu ihm hinunter. Seine Miene verzerrte sich und er grunzte hektisch, als ich den Dolch an seinen Hals presste.

„So stark bist du gar nicht“, flüsterte ich und bemerkte, wie er bei meinen Worten zusammen zuckte. „Du. Bist. Tot.“

Ich wunderte mich, wie leicht sich seine Haut durchtrennen ließ. Meine Mutter hatte mich von den Kämpfen zwischen unseren Stämmen ferngehalten, und mein Vater nie in Erwägung gezogen, mich mit zu nehmen. Daher hatte ich noch keine Kampferfahrung. Noch nie hatte ich ein Lebewesen getötet. Ich sah, wie es Stück für Stück aus seinen Augen wich. Wie ein Stern in der Nacht, der erlosch.

Der Soldat, der sich seines Siegs so sicher war, starb durch meine Hand. Ich hatte ihn getötet. Die Erkenntnis traf mich wie eine Faust in den Magen. Überwältigt von Trauer und Entsetzen warf ich den Dolch von mir. Meine Gefühle zerrissen mich, wie eine offene Wunde, in die der Feind immer wieder seinen Finger legte und auf einmal war sie wieder da. Die Stimme, die mich lenkte, meinen Verstand vernebelte, mir Kraft schenkte.

Ich bin beeindruckt.

Nach dem Ritual der Ahm Fen begrub ich Baktas Leichnam und sang in unserer Stammessprache ein Grablied, welches ihren Geist auf den langen Weg zu ihren Ahnen begleitete. Meine Stimme brach unter der Last von Tränen und Schuldgefühlen, die ich nicht verbergen konnte. Eine Schwäche, die ich mir nicht erlauben durfte, jetzt, da ich alleine auf mich gestellt war. Doch die Trauer drückte mich zu Boden.

„Was soll ich nun tun?“, erschöpft brach ich zusammen. „Was ist mein Weg, Bakta? Ich bin schwach und allein. Alleine werde ich es nicht schaffen.“

Ein kühler Windhauch umspielte ihr Grab, tanzte um die Blumen, die um das Grab wuchsen und wehte zart durch meine roten Locken. Ein Strahl der untergehenden Sonne brach sich auf Baktas Schwertklinge, die ich zum Zeichen in die Erde stieß, blendete mich für einen Augenblick. In diesen Moment vernahm ich die überirdische Stimme erneut. Dunkel und bedrohlich, stark und eindringlich.

Geh nach Westen, Udy, Hände aus Eis umklammerten mein Herz. Die Stimme drang in meine Gedanken ein und umspielte meinen Geist mit flüssigem Gold.

Bakta...?

Du kennst bereits deinen Weg. Folge den Spuren des Blutes. Ergreife die Waffe und lösche das Einzige, das dich mit deiner Vergangenheit verbindet. So wirst du dein Ziel erreichen.

Ich suchte den Dolch, den ich von mir geworfen hatte und fand ihm in einer Pfütze aus geschmolzenem Schnee. Mein Gesicht spiegelte sich auf dem blanken Metall, offenbarte das entstellte Geburtsmal des Ahm Fen Stammes auf meiner Stirn. Wie ich es hasste, es war so klein und verkrüppelt. So wie ich.

Sieh nur, wie erbärmlich es ist, flüsterte sie heiser. Es muss getan werden, um zu überleben. Nimm den Dolch. Lösche die Vergangenheit.

„Was ist mein Ziel“, mein Hals tat weh von dem zurück gepressten Schluchzen. Ich dachte an meine Eltern. Meine Mutter, die mich so liebte wie sie mich gebar und mein Vater, der in allem was ich tat, nur Enttäuschungen sehen konnte. Bakta, meine gute Bakta, die mich verspottete und „Menschenkind“ schimpfte. Ihre Geister würden mich ohne Geburtsmal nicht erkennen, ganz egal wie klein und unkenntlich es auch war. Sie werden mich verachten – ich werde meinen eigenen Blick nicht standhalten können.

Dein Ziel ist Blut, Macht und Stärke. Er ist dein Ziel. Der finstere König. Er, der dir alles stahl und noch mehr nehmen wird, wenn wir uns nicht erheben. Ich habe deinen Ruf gehört, mein Kind und hier bin ich. Mit mir kannst du überleben. Meine Macht wird dich leiten, dich stärken. Öffne dein Herz für mich und lass mich ein. War es nicht ihr letzter Wunsch? Überlebe, so sagte deine Tante. Ich kann dir alles ermöglichen, Udelka Häuptlingstochter, und mein Preis zahlt sich von ganz allein.

Die Stimme hatte recht. Es waren Baktas Worte, aber woher sollte sie davon wissen? Eine Erinnerung klopfte an meine Stirn: in schwerer Stunde rief ich Ahm Fen um Hilfe. Hatte ich Blut gegen meinen Verstand getauscht? Sprach meine Göttin zu mir?