Loe raamatut: «Geschichten aus dem Alltag», lehekülg 3

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Harald

Verzaubert fotografiert Harald seit einer halben Stunde. Die kleine, nahezu original erhaltene, perfekt restaurierte Krypta, fordert sein ganzes Können als Hobbyfotograf. Nachdem er gestern Abend das Kapitel über den Dom San Pietro im Kunstreiseführer über Venetien überflogen hat, weiß er, dass er in einem einheitlich romanischen Sakralbau steht und die Steinmetz-Arbeiten für diese Region ganz außergewöhnliche Motive zeigen. Wie im Rausch lichtet er eine Bilderserie der Säulenkapitelle ab, die in wilder Reihenfolge Pflanzen, Obst, Dämonen und Tiere mit symbolischer Bedeutung zeigen. Danach setzt er sich für einen Moment auf einen kleinen, wackligen Holzstuhl und genießt die Stille und die Atmosphäre der dämmrigen Unterkirche.

Doch sofort stutzt er, gleichzeitig ärgert er sich auch schon, denn in einer Ecke hat er eine große Kunststoff-Madonna entdeckt, die ein grelles, himmelblaues Gewand trägt und auf einer halbhohen Säule steht. Den Heiligenschein bildet eine Neonröhre, die gelblich, aber viel zu intensiv für die Umgebung leuchtet. Zu Füßen der Madonna brennen auf einem Ständer in mehreren Ebenen viele, kleine Wachslichter. Haralds ästhetisches Empfinden rebelliert bei diesem Anblick und er kommt auf die Idee, in das Münzfach für die Wachslichter einen Notizzettel mit der Aufschrift „Geschmacklosigkeit!“, einzuwerfen. Doch die kitschige Plastikfigur, die einen drastischen Kontrast zur Krypta bildet, scheint bei der Gemeinde ausgesprochen beliebt zu sein. Ganz frische, üppige Blumensträuße schmücken die Figur in lockerem Halbkreis. Ein Heiligenschein aus Blumen, denkt Harald zynisch. Dann beruhigt er sich. Eine alberne Idee, sogar verletzend, einen so abwertenden Zettel einzuwerfen. Jetzt fühlt er sich wirklich urlaubsreif. Ruckartig dreht Harald den Stuhl so, dass er die Madonna aus seinem Blickfeld verbannt. Noch einmal schaut er flüchtig in den schmalen Kunstreiseführer.

Oben im Kirchenschiff liest seine Frau Sigrid eifrig in der großen, detaillierten Ausgabe.

Sigrid sagt immer wieder, dass er die Kirche doch sowieso nur durch den Sucher seiner Spiegelreflexkamera sieht. Gemeinsame Besichtigungen lehnt sie deshalb seit Jahren kategorisch ab, weil Harald sich zu viel Zeit für Einzelheiten nimmt und das verschlimmert nur ihre Nervosität. Der knappe Reiseführer, den er benutzt, beschreibt lediglich einen typisch romanischen Sakralbau, warnt vor dem sehr steilen Anstieg zur Kirche, verliert jedoch kein einziges Wort darüber, dass es sich bei der Krypta um ein wahres kunstgeschichtliches Kleinod handelt, in ganz Italien berühmt, das Highlight ihrer Venetien-Rundreise.

In diesem sakralen Raum fühlt er das erste Mal seit langem so etwas wie ein Glücksgefühl aufblitzen. Es verflüchtigt sich jedoch sofort wieder, als Sigrid im Altarraum hektisch hin und her zu laufen beginnt. Die Absätze ihrer Schuhe klappern hart und nervenaufreibend auf dem antiken Marmor-Fußboden. Geduldig wartet er ab, bis die Geräusche verklingen.

Harald bedauert, dass sich die gemeinsamen Ferientage durch hohe Erwartungen und maßlose Enttäuschungen auszeichnen. Heimlich hat er von einem romantischen Urlaub zur Feier ihrer Silberhochzeit geträumt, zweite Flitterwochen sollten es seiner Meinung nach werden. Eine liebevoll und detailliert geplante Rundreise im Frühling hatte er sich gewünscht, im Mittelpunkt Besichtigungen ausgewählter Kunstdenkmäler, Kirchen und Museen, mit Übernachtungen in romantischen Luxushotels und der Besuch bekannter Edel-Restaurants am Abend, einfach alles perfekt. Naiv hatte er gehofft, mit diesen Mitteln ihre Ehe positiv zu beeinflussen. Doch aus seinem schönen Plan hat sich ein unvorbereiteter, liebloser Kurztrip mit nüchternen, billigen Nachtquartieren und einigen wenigen, eher zufälligen, Besichtigungen entwickelt.

Restaurants wählen sie erst abends auf die Schnelle aus, nach dem Zufallsprinzip. Ein Grauen für Harald.

Die Gründe für diese drastischen Unterschiede liegen zu Hause in Heidelberg. Dort waren in den letzten Wochen detaillierte, liebevolle Reisevorbereitungen, auf die er so großen Wert legt und in die er immer viel Zeit investiert, völlig unmöglich. Renovierungsarbeiten an ihrem Haus zogen sich durch massive Fehler der Handwerker schier endlos in die Länge. Harald war fest davon überzeugt, dass Sigrid die Renovierung nicht in den Winter verschieben wollte. Deshalb fragte er sie gar nicht erst. Und so reisen die beiden während der Hauptsaison. Harald leidet unter hohen Temperaturen und großer Schwüle, nahezu unerträglichem Lärm und überfüllten Hotels, während Sigrid Hitze und Lautstärke völlig gleichgültig gegenüber steht. Für sie zählt nur, dass zu Hause die Arbeiten am Haus zu ihrer vollen Zufriedenheit abgeschlossen sind. Im Spätsommer soll dann nachträglich ihre Silberhochzeit mit einer glänzenden Gartenparty gefeiert werden, mit vielen Gästen, Prosecco in Strömen und angesagtem Fingerfood. Harald empfindet jetzt schon Abscheu, wenn er an diese Feier denkt.

In solchen Augenblicken versteht er das erste Mal in seinem Leben Aussteiger. In Gedanken spielt er verschiedene Möglichkeiten durch, in Venetien zu bleiben. Hin und wieder schaut er sehnsüchtig in die Schaufenster der Immobilienmakler, doch auf Anhieb gefällt ihm kein Angebot. Schade.

Einen Augenblick genießt er noch bewusst die angenehme Kühle der Krypta, dann steigt er langsam die schmale, ausgetretene Wendeltreppe hinauf in die helle Oberkirche.

Hastig betritt Sigrid gerade das Baptisterium, das in einem Seitenschiff liegt. Wie so oft bewundert er, dass seine Frau im Gehen lesen kann, ohne mit Gegenständen zu kollidieren.

Auf dem Weg zur Hauptapsis bemerkt Harald rechts einen goldenen Schimmer. Neugierig schlendert er darauf zu und bleibt vor einem Bildnis stehen, das einen männlichen Heiligen darstellt. Das Gemälde im Hochformat zeigt kein vollständiges Rechteck, denn die obere Seite bildet ein sanftes Oval. Der goldene Heiligenschein der Figur wird dadurch zusätzlich betont. Warme Rot- und Goldtöne dominieren das Bildnis. Der Heilige trägt ein rotes Gewand, in den Händen hält er einen Palmzweig. Angestrengt überlegt Harald. Bedeutet das nicht, den Tod besiegen oder den Eintritt ins Paradies? Mehr fällt ihm dazu spontan nicht ein. Harald spürt eine gewisse Faszination die von dem Heiligen ausgeht, der den Betrachter sanft, milde und doch so beharrlich anblickt. Das erste Mal in seinem Leben fühlt Harald Ergriffenheit vor einem religiösen Bildnis. Erstaunt über sich selbst, denn er hat sich in den letzten Jahren zunehmend von Religion und allen Glaubensfragen distanziert, bis hin zum vollständigen Atheismus. In Betrachtung und Gedanken versunken, vergisst er, das Bildnis zu fotografieren und plötzlich bemerkt er, dass er nicht mehr alleine vor dem Heiligenbild steht.

Ein Priester steht neben ihm, lächelt ihn an und grüßt leise. Lebhaft deutet der Priester auf den kleinen Kunstreiseführer und fragt in gutem Deutsch, ob Harald sich für das Heiligenbild interessiert.

Verwundert nickt er stumm.

Einen Moment stehen die beiden Männer einträchtig schweigend vor dem Bildnis.

Der Priester tippt Harald sanft mit dem Ellenbogen an, deutet mit dem Kinn auf einen Mann, der hektisch versucht, den berühmtesten Kunstschatz der Kirche, eine Pieta aus Sandstein, die wahrscheinlich im 15. Jahrhundert gefertigt wurde, zu fotografieren. Der Mann trägt einen einfachen Strohhut unter den Arm geklemmt, sein Gesicht ist stark gerötet, vermutlich vom steilen Aufstieg zum Dom. Er bewegt sich immer ungeduldiger, doch die Lichtverhältnisse in der Kirche erfordern technisches Geschick und Erfahrung, um die Pieta in ihrer ganzen Schönheit abzulichten. Sein Geduldsfaden reißt, er stülpt den hinderlichen Hut kurzerhand über eine auffallende, große antike Vase, die gerade neben ihm steht.

Sowohl Harald als auch der Priester versuchen, ihr Lachen zu unterdrücken. Der Priester konzentriert sich fest auf das Heiligenbild. Harald sieht nach unten, er zählt erst schwarze, danach weiße Marmorsteine im Fußbodenmosaik. Vergebens, beide glucksen mal lauter, mal leiser vor sich hin. Deshalb verspricht der Priester Harald kichernd einen guten Espresso und einen Blick in einen wertvollen, antiquarischen Kunstband. Dieses wertvolle Buch stammt noch von seinem kunstbegeisterten Vorgänger und zeigt ganz ähnliche Heiligenbilder.

Der Priester bemerkt, dass Harald unsicher zu Sigrid hinüberblickt. Sofort versichert der Geistliche, dass er ihn nur wenige Minuten aufhalten wird.

Sigrid steht mittlerweile interessiert vor einem Kunstschmiedegitter, das die linke Seitenapsis verschließt. Aus den dürftigen Informationen des Reiseführers weiß Harald, dass dieses Gitter kunstgeschichtlich interessant ist. Außerdem befindet sich in der Seitenapsis der Domschatz. Harald ist sich sicher, dass Sigrid hier einige Zeit andächtig vor repräsentativen Prunkgegenständen verbringen wird. Diese übertriebene Pracht lehnt er selbst strikt ab. Ihm fallen TV-Sendungen ein, die er bevorzugt, besonders Talk-Shows, in denen Fragen der Doppelmoral, die die Institution der Kirche betreffen, kontrovers beleuchtet und diskutiert werden. Bei solchen Gelegenheiten sitzt Sigrid kerzengerade auf dem Sofa, ihr Mund nur noch zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Mindestens dreimal pro Sendung bemerkt sie, dass parallel ein Krimi läuft, begleitet von gequälten Seufzern an kritischen Stellen.

Vielleicht bietet sich hier und jetzt eine Gelegenheit für Harald, einmal selbst, sozusagen vor Ort, seine Meinung zu äußern. Entschlossen nickt er dem Priester zu.

In stillschweigendem Einverständnis huschen die beiden Männer durch eine schwere Holztür in die Sakristei. Als die uralte, mit Schnitzereien verzierte Tür leise hinter ihnen zuläuft, lachen sie erleichtert. Einige Minuten später sitzen sie bei einem vorzüglichen Espresso und betrachten in aller Ruhe mittelalterliche Heiligenbilder in dem antiquarischen Kunstband. Nach und nach kommen sie ins Gespräch, dabei fühlen sie sich spontan vertraut, als ob sie sich schon jahrelang gut kennen.

Beim zweiten Espresso fragt der Priester Harald nach seinem Vornamen und Harald erfährt, dass der Priester Ettore heißt.

Obwohl sich Harald als Atheist betrachtet, kostet es ihn Überwindung, den Priester zu duzen. Energisch schiebt er seine Skrupel beiseite und konzentriert sich auf sein sympathisches, lebhaftes Gegenüber. Schon vergisst er Weihe und Amt seines Gesprächpartners. Beide Männer spüren, dass eine besondere Freundschaft entsteht, genießen die Freude darüber, ohne große Worte zu verlieren.

Laut und temperamentvoll, von Gesten lebhaft untermalt, erzählt Ettore, dass er seit vielen Jahren mit einem Pfarrer, Georg, in Deutschland befreundet ist. Georg führt eine Pfarrei bei Freiburg und Ettore besucht ihn dort ein bis zweimal im Jahr.

Fasziniert hört Harald seinem neuen Freund zu. Beeindruckend, dass Ettore bei seinen Besuchen in Freiburg die deutsche Sprache fast nebenbei gelernt hat.

Danach beschreibt Harald seine Heimatstadt Heidelberg, die historische Altstadt mit dem berühmten Schloss.

Andächtig hört Ettore zu.

Die fast kindliche Neugier und Reiselust seines neuen Freundes berührt Harald und spontan lädt er Ettore nach Heidelberg ein. Während der Renovierung haben Sigrid und er ein hübsches Gästezimmer eingerichtet, denn mittlerweile sind ihre Kinder ausgezogen und freuen sich über ein komfortables Gästezimmer. Ettores Besuch stellt Haralds Meinung nach eine schöne Gelegenheit dar, das Gästezimmer einzuweihen. Was spricht also gegen eine Einladung?

Ettores Gesicht strahlt vor aufrichtiger Freude, als Harald ihn einlädt. Ein selten emotionaler Tag in Haralds Leben und schnell tauschen die beiden Postadressen, Telefon-Nummern und E-Mailadressen aus.

Während des Gesprächs ist Harald ein antikes, mit kleinen Goldblechen beschlagenes, Kästchen aufgefallen. Immer wieder wandert sein Blick zu dem auffälligen Stück. Schließlich fragt er nach der Funktion des kleinen Kastens und Ettore erklärt, dass das Kästchen als „Reliquien-Schwein“ bezeichnet wird.

Für einen Sekundenbruchteil stutzt Ettore und schon dröhnt befreiendes Gelächter durch die Sakristei.

Bei diesem Versprecher erinnert sich Harald an einen wissenschaftlichen Artikel, den er vor einiger Zeit über Sigmund Freuds Werk gelesen hat. Ein Absatz widmet sich ausführlich den Thesen zu Versprechern. Sofort legt er Ettore in groben Zügen Freuds Thesen zu auffälligen Versprechern dar, die sich hauptsächlich auf unterdrückte Konflikte des Sprechers konzentrieren. Beim Lesen kamen ihm Freuds Thesen haarsträubend vor. Er glaubt sich zu erinnern, dass sie im Text als Freudsche Fehler oder Fehlleistungen bezeichnet werden. Schlagartig wechselt die Stimmung seines Gastgebers.

Lange schweigt Ettore betroffen, tiefe Stille herrscht in der Sakristei.

Harald weiß absolut nicht, wie er sich verhalten soll. Hat er einen Fehler begangen? Darf er den Namen Sigmund Freud einem Priester gegenüber nicht nennen, vielleicht wegen der starken Betonung der Sexualität in der Psychoanalyse? Das kann doch heutzutage nicht mehr wahr sein, oder? Bisher zählt kein Geistlicher zu seinem Freundeskreis, also fehlen ihm Erfahrungen und Vergleichsmöglichkeiten und er fühlt sich verunsichert. Soll er die Situation möglichst geschickt überspielen und das Verhalten des neuen Freundes ignorieren? Oder einfach nachfragen? Da fällt ihm ein, dass am Ende des Artikels die Theorie der Freudschen Fehlleistungen in Frage gestellt wird. Sprachwissenschaftler deuten sie mittlerweile als Montagefehler beim Satzbau. Gerade will er Ettore von den neueren Forschungsergebnissen erzählen, als der Priester sein Schweigen bricht.

Mit leiser Stimme vertraut Ettore ihm an, dass er seinen Glauben komplett verloren hat. Daraus entstehen für ihn eine tiefe Sinnkrise und schreckliche Zukunftsängste.

Schockiert über diese Offenheit sehen sich die beiden über das zufällig aufgeschlagene Bild des Heiligen an, der sie sanft und gleichmütig aus dem Mittelalter anlächelt.

Verlegen räuspert sich Harald, gleichzeitig rutscht ihm auch schon die Frage heraus, ob Ettore sich überhaupt noch in der Lage sieht, sein Amt auszuüben.

Ettore zögert und zuckt dann traurig die Schultern. Schließlich schüttelt er den Kopf, langsam steigen ihm Tränen in die Augen. Er winkt ab, als Harald tröstend die Hand nach ihm ausstrecken will.

Um die Situation irgendwie noch zu retten, wiederholt Harald seine Einladung nach Heidelberg und erwähnt, dass auch Sigrid sich über den Besuch freuen wird. Bei diesen Worten beschleicht Harald ein flaues Gefühl. Irgendetwas stimmt nicht, doch er stellt sein Empfinden erst einmal zurück.

Ernst klopft Ettore mit dem Zeigefinger auf den Notizzettel mit der Adresse, nickt nachdrücklich, sprechen kann er im Moment nicht.

Hilflos fühlt Harald sich, unendlich hilflos und gleichzeitig empfindet er tiefes Mitleid mit Ettore. Beide Männer stehen auf und schütteln sich die Hände.

Ettore begleitet Harald zur Tür, schweigend umarmen sie sich. Durch die schwere Holztür schlüpft Harald verstört wieder zurück ins Kirchenschiff.

In einer Kirchenbank sitzt Sigrid. Nach den vielen Ehejahren erkennt Harald ihre Wut allein an ihrer kerzengeraden Körperhaltung. Als er zu ihr tritt, sieht ihr Gesicht versteinert aus. Mit einer knappen Handbewegung fordert sie ihn auf, die Kirche sofort zu verlassen. Aus einem Impuls heraus, will Harald widersprechen, er möchte unbedingt in Ruhe die Apsis besichtigen und fotografieren. Doch dann nickt er kurz und verlässt nach seiner Frau die Kirche. Leise seufzt er, das gibt Ärger. War er doch länger in der Sakristei als er gedacht hat?

Sigrid schreit schon los, bevor sich die Kirchentür hinter ihm geschlossen hat. Auf der Stelle will sie wissen, was er sich dabei gedacht hat, so lange zu verschwinden. Wo, zum Teufel, hat er sich wieder rumgetrieben? Und ihr reicht es jetzt endgültig mit ihm, immer dieses Theater. Das wollte sie ihm übrigens schon zur Silberhochzeit sagen, das wäre der richtige Zeitpunkt gewesen.

Spontan fallen Harald Sigrids unzählige Shopping-Touren ein, bei denen er immer wie ein vergessenes Paket herumsitzt. Er bemüht sich, bei dieser Assoziation nicht zu lachen.

Wortlos dreht Harald um und schlägt den Weg zum Hotel ein. Er will sein Gepäck holen.

Hinter ihm kreischt Sigrid, doch er fühlt völlige Gleichgültigkeit. Kann man Gleichgültigkeit fühlen? Er weiß es nicht. Unterwegs beschäftigt ihn nicht der Bruch mit Sigrid, den erwartet er schon seit einiger Zeit. Harald weiß mit Bestimmtheit, er wird sich von Sigrid trennen. In aller Ruhe lässt er sich noch einmal das Gespräch mit Ettore durch den Kopf gehen. Besonders berührt ihn, dass der Priester keine Perspektive für die eigene Zukunft sieht, weil er seinen Glauben verloren hat. Wie kann er Ettore helfen?

Einen Augenblick bleibt Harald direkt vor seinem Hotel in der prallen Sonne stehen.

Schlagartig versteht er die unvermittelte Vertrautheit zwischen zwei Männern, die sich gerade erst kennenlernen. Gut gelaunt pfeifend betritt er das Hotel.

Haralds ungewisse Zukunft beginnt.

Jasper

Mai 2000

Die Schulklingel läutet zum Ende der zweiten Pause, der Schultag scheint wie jeder andere zu verlaufen.

Jaspers Leiche liegt zerschmettert im Treppenhaus der großen Eingangshalle. Schnell breitet sich eine Blutlache neben seinem Kopf aus und bildet einen starken Kontrast zu dem schwarz-weißen Karomuster der Fliesen.

Flüsternde Mädchen und Jungen drängen sich um den toten Mitschüler, um seine Leiche möglichst genau sehen zu können. Endlich eine richtige Sensation! Eine blutige, sogar eine tödliche Sensation! Genau wie im Film! Sie zeigen keine spontane Trauer, kein Mitleid, überhaupt keine Gefühle, nur ein kleiner Junge beginnt zu weinen. Blitzschnell werden Handys gezückt, um zu fotografieren.

Frau Rieck, eine junge Lehrerin, kommt aus der Pausenaufsicht. Da sie nicht schwindelfrei ist, benutzt sie das zum Hinterausgang gelegene, geschlossene Treppenhaus und braucht immer etwas länger in die Halle.

Als Frau Rieck den toten Jasper entdeckt, schreit sie fassungslos: „Mein Gott! Was ist ihm denn passiert?“ Vor Schreck kann sie sich nur mühsam auf den Beinen halten, ihre Stimme zittert: „Hat schon jemand den Notarzt gerufen? Nein?“ Hektisch blickt sie von einem zum anderen, doch sie bekommt keine Antwort. „Sofort in die Klassenzimmer mit euch! Ich übernehme das und bleibe bei ihm! Los jetzt! Los!“

Murrend und betont langsam zerstreuen sich die Schulkinder.

Nach dem Notruf bricht Frau Rieck schluchzend neben Jaspers Leiche zusammen.

Drei Monate früher

Anne und Thore leben mit ihren drei Kindern in einer alten, verwohnten Reihenhaus-Siedlung. Damit haben sie sich einen langjährigen Traum erfüllt, denn beide Ehepartner sind in vernachlässigten, elenden Komplexen des sozialen Wohnungsbaus am Stadtrand aufgewachsen, in völlig zerrütteten Familienverhältnissen.

Ständig bemühen sie sich, ihren Nachbarn alles recht zu machen und das strengt sie mehr an, als ihnen selbst bewusst wird. Anne und Thore sind unendlich stolz auf ihre Berufsausbildungen und ihre Jobs, denn ihre Eltern hatten keine Ausbildungen und waren häufig, auch für längere Zeit, arbeitslos.

Thore ist als Kfz-Mechatroniker in einer großen Vertragswerkstatt angestellt, Anne arbeitet halbtags als Fachverkäuferin in der Filiale einer großen Bäckerei. Finanziell reicht das gerade aus für eine Familie mit drei Kindern. An oberster Stelle in der Haushaltsführung steht strenge Sparsamkeit, um jedem Kind ein Hobby oder eine Sportart zu ermöglichen.

Die zarte Ina, die jüngste Tochter, weiß ganz genau, dass Thore sie als seine kleine Prinzessin vergöttert. Mit sechs Jahren bezaubert sie alle mit ihrer natürlichen Fröhlichkeit. Ina fällt es unendlich schwer, Entscheidungen zu treffen.

Ihr Bruder Markus schwärmt für den Boxsport und als Achtjähriger ist er schon fest entschlossen, in eine erfolgreiche Karriere als Profiboxer zu starten.

Jasper, der Älteste, benimmt sich ganz anders als seine Geschwister. Er fühlt sich unglücklich und bleibt am liebsten ganz für sich allein in seinem Zimmer und liest traurige Gedichte.

Seine Eltern sind der Meinung, dass er sich für einen Dreizehnjährigen irgendwie komisch verhält.

„Jasper! Frühstück! Wo bleibst du denn? Du kommst wieder zu spät zur Schule!“

Annes Stimme klingt immer schärfer. „Was macht er nur so lange da oben?“

Ungeduldig blickt sie zur Küchentür.

Geübt schiebt Ina Brotstückchen auf ihrem Frühstücksbrett hin und her und tatsächlich wirkt es so, als ob das Brot weniger wird. „Er liest was und weint.“

Anne lacht auf. „Das gibt's doch nicht! Wahrscheinlich liest er jetzt schon vor dem Frühstück todtraurige Gedichte. Er steigert sich da richtig rein. Mensch, Thore! Sag' doch auch mal was.“

Thore blickt überrascht auf. „Ich? Er wird bestimmt gleich runter kommen. Ich denke, wir sollten ihm etwas mehr Zeit geben. Wie sagt man? Das wächst sich raus.“ Thore lächelt seine Frau unsicher an und trinkt einen Schluck Kaffee, um Zeit zu gewinnen.

Ungeduldig, fast schon abwehrend schüttelt Anne den Kopf. Beim Familienfrühstück fühlt sie sich ganz alleine dafür verantwortlich, dass alle pünktlich das Haus verlassen und das stresst sie total.

Mit voll gestopftem Mund grinst Markus breit: „Er weint aber richtig doll, Mama.“

Anne sieht ihn irritiert an. „Du sollst doch nicht schwindeln, Markus.“

Markus hält sich an seinem Kakaobecher fest und bleibt dabei: „Das tu' ich nicht, Mama. Ich hab's gesehen, als ich runter gekommen bin. Und seine Schultasche hat er auch noch nicht gepackt.“

Gequält seufzt Anne und steht so abrupt von ihrem Küchenstuhl auf, dass der fast umfällt. Sie stürmt die Treppe hoch, nimmt zwei Stufen auf einmal.

Oben spricht sie laut, kurz und böse.

Plötzlich hören sie Jasper schreien: „Ich bring' mich um! Ich bring' mich um!“

Einen Moment herrscht absolute Stille in der Küche, nur Ina schiebt ungerührt kleine Brotstückchen über das Brettchen.

Anne lacht und schreit zurück: „Red' doch keinen Quatsch. Hast du das aus deinen Gedichten? Komm' jetzt runter frühstücken. Sofort!“

Unten lächelt Thore Anne liebevoll an, als sie sich wieder hinsetzt.

Mittlerweile schwärmt Markus von einem neuen Ausdauertraining, das für seine Fortschritte im Boxen angeblich megawichtig ist.

Anne und Thore gehen heute Abend zu ihrem monatlichen Kegelabend, ihr gemeinsames, gesellschaftliches Highlight. Voller Vorfreude hat Thore schon gute Laune und übersieht großzügig Inas Versuche, ihr Frühstücksbrot jetzt im Kakao zu versenken und er hat auch keine Lust, sich den ganzen Tag und vor allem den Abend von seinem ältesten, ständig traurigen und deprimierten Sohn verderben zu lassen. Er steht auf und schaut zufrieden aus dem Küchenfenster. Gestern hat er nach der Arbeit den kleinen Vorgarten mit bunten Frühlingsblumen bepflanzt. Es ist ihm sehr wichtig, diese Arbeiten genau zur gleichen Zeit wie seine Nachbarn zu erledigen. Es sieht recht annehmbar aus, langweilig, haargenau wie in Gärten der Nachbarn. Auf keinen Fall möchte Thore Anlass zur Kritik geben, dass wäre schrecklich für ihn. Immer noch lächelnd setzt er sich wieder an den Tisch, um weiter zu frühstücken. Es gelingt ihm, Anne mit ein paar Bemerkungen über den Kegelabend abzulenken. Was wird sie anziehen? Den neuen Rock? Bald lachen die beiden zusammen und blenden alles um sich herum aus.

Unbemerkt erscheint Jasper ein paar Minuten später mit verweinten Augen am Frühstückstisch. Er trinkt nur ein paar Schlucke von seinem fast kalten Kakao.

Mittags kommt Anne gerade aus der Bäckerei nach Hause, als das Telefon klingelt.

„Hallo? Frau Schmidt? Hier ist Frau Rieck, Jaspers Klassenlehrerin. Haben Sie einen Moment Zeit für mich?“

„Oh nein!“, flüstert Anne. In der Bäckerei war heute der Teufel los. Das sagt sie immer, wenn die Kunden sich vier Stunden lang die Tür in die Hand geben. Jetzt möchte sie nur noch die Spülmaschine ausräumen, den Eintopf in die Mikrowelle stellen, ihre Kleidung für heute Abend herauslegen und sich dann einen Moment hinlegen. Diesen Luxus gönnt sie sich nur an den Tagen, an denen der Kegelabend stattfindet. Das Telefonat stört sie einfach. „Wenn es nicht zu lange dauert, Frau Rieck.“ Anne bemerkt das kurze Zögern auf der anderen Seite. Hat die Lehrerin ihr spontan geflüstertes Nein gehört? Unmöglich!

„Frau Schmidt, es ist wirklich wichtig. Jaspers Schulleistungen haben rapide nachgelassen, in allen Fächern und er beteiligt sich überhaupt nicht mehr am Unterricht. Es ist auch ganz untypisch für ihn, dass er seine Hausaufgaben nicht mehr erledigt.“

Anne versucht, die Lehrerin zu unterbrechen. „Frau Rieck!“

„Einen Moment bitte, Frau Schmidt, das ist ja noch nicht das Wichtigste. Jasper ist ständig so deprimiert, er macht einen richtig unglücklichen Eindruck auf mich. Ich habe schon mehrere Male vergeblich versucht, ein vertrauensvolles Gespräch mit Jasper zu führen. Er kann oder er will mir keinen Grund für seine Traurigkeit nennen, aber in seinen Aufsätzen gibt es so schrecklich düstere Andeutungen. Das macht mir richtig Angst.“

Anne stöhnt. „Ich weiß, ich weiß, er ist auch zu Hause deprimiert, sitzt nur noch in seinem Zimmer und liest … Er schwafelt sogar von Selbstmord, wenn ihm was nicht passt, so ein Quatsch!“

Frau Rieck ist fassungslos. „Wie furchtbar, Frau Schmidt! Was unternehmen Sie denn dagegen? Ich hoffe, Jasper ist in Behandlung, oder kann ich Ihnen mit einer guten Adresse für eine Therapie helfen?“

Anne schmunzelt. „Wieso denn? Das ist doch nur Gerede, vielleicht eine harmlose Phase, mehr nicht. Aber Jasper braucht bestimmt keine Behandlung.“

So schnell gibt Frau Rieck nicht auf, sie ist ernsthaft beunruhigt. „Frau Schmidt, was sagt denn Ihr Mann zu Jaspers Verhalten?“

Langsam verliert Anne die Geduld. „Er sieht es selbstverständlich haargenau so wie ich, Frau Rieck. Und jetzt muss ich wirklich Schluss machen. Ich bin in Eile.“ Am anderen Ende der Leitung hört Anne hastiges Blättern.

„Frau Schmidt, können wir das nicht in den nächsten Tagen noch einmal persönlich besprechen, vielleicht sogar gemeinsam mit Jasper? Ich kann Ihnen auch verschiedene Termine anbieten. Bitte, Frau Schmidt, ich halte das für ein ernstes Problem.“

Anne sieht nervös zur Uhr. Gleich kommen schon Ina und Markus aus der Schule, dann hat sie keine Chance mehr, sich ein paar Minuten auf dem Sofa auszuruhen.

„Nein, Frau Rieck, danke, wirklich nicht nötig. Wiederhören.“

„Aber, Frau Schmidt!„

Das Klicken in der Leitung unterbricht den zaghaften Versuch der Lehrerin, Jasper zu helfen.

Zwei Monate früher

Jasper sitzt in seinem Zimmer und weint. In allen wichtigen Klassenarbeiten hat er mangelhaft abgeschnitten und weil er sich schämt, die Noten seinen Eltern verschwiegen. Seine ständig deprimierte Stimmung hat ihn in der Schule völlig isoliert.

Seine Mitschüler lassen keine einzige Gelegenheit aus, Jaspers Vorliebe für Lyrik als Zielscheibe für Hohn und Spott zu nutzen. Vom traditionellen Tafelbild bis zu Facebook und Twitter sind ihnen alle Mittel recht, um ihn zu verletzen. Wenn er sich mit Horrorgeschichten oder Mystery-Romanen gut auskennen würde, das wär' immerhin cool… Die Mädchen zeigen da etwas mehr Toleranz. Im Sportunterricht kann er auch nicht glänzen, ganz im Gegenteil. Die anderen hänseln ihn grausam wegen seiner Unsportlichkeit und hier mischen auch die Mädchen völlig unbekümmert mit.

Zu Hause tratschen Anne und Thore alleine über Nachbarn und Arbeitskollegen, als Eltern hören sie Ina und Markus aufmerksam zu, wenn sie umständlich versuchen, kleine Anekdoten aus der Schule zu erzählen und gemeinsam lachen sie ausgelassen.

Ausgiebig prahlt Markus mit kleinen Trainingsfortschritten und Ina wünscht sich sehnlich Musikunterricht. Nur fällt es ihr schwer, sich für ein Instrument zu entscheiden. Bisher weigert sie sich beharrlich, dem Rat der Musikschule zu folgen und mit einer Blockflöte zu beginnen.

Demnächst wird Thore befördert und er kann sein Glück kaum fassen, nur Anne hat Sorgen.

Ihr Arbeitsplatz fällt eventuell einer Rationalisierungsmaßnahme zum Opfer. Doch sie zwingt sich zum Optimismus und sagt sich immer wieder: „Du bist eine Bäckereifachverkäuferin und du hast schon viele Jahre Berufserfahrung, ganz klar, du findest sofort wieder eine neue Stelle.“

Jeden Abend macht Thore ihr Mut, so gut er eben kann.

Jasper muss richtig leiden, er ist der Blitzableiter für alle. Es ist ganz einfach, sich über Jaspers Liebe zu Gedichten lustig zu machen und so reißt auch die Familie bösartige Witze. Doch immer häufiger ignorieren die Familienmitglieder ihn einfach in seiner Traurigkeit und Jasper fühlt sich so unsichtbar als trüge er eine Tarnkappe.

Viel Zeit verbringt er allein in seinem Zimmer und weint.

An einem Dienstag geht Jasper in der ersten, großen Pause von der Schule einfach nach Hause, ohne dass es jemand bemerkt.

Jasper schwänzt jetzt oft den Unterricht.

Auf dem Heimweg trödelt Jasper, in der Hand hält er einen Info-Brief an die Eltern, der detailliert Auskunft über eine mehrtägige Klassenreise gibt. Ernsthaft überlegt er, den Brief einfach verschwinden zu lassen. Das geht aber nicht, der Brief soll in drei Tagen von einem Elternteil unterschrieben, an Frau Rieck zurückgegeben werden. Diese Klassenreise empfindet Jasper als eine Katastrophe, er will unbedingt zu Hause bleiben und weiß nur nicht, wie er das anstellen soll. Er läuft immer langsamer.

„Na, du heulender Dichter? Freust du dich auch schon auf die Klassenfahrt?“ Tim, der beste Fußballspieler der Klasse, überholt ihn lachend auf dem Fahrrad. Ein kräftiger, schmerzhafter Tritt befördert Jasper vom Fußweg auf die Straße.

Tasuta katkend on lõppenud.