Café Größenwahn

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Café Größenwahn
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa


Sybil Volks

Café Größenwahn

Kappes zweiter Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Sybil Volks wurde 1965 in Rheine geboren und lebt als freie Lektorin und Autorin in Berlin. Sie veröffentlichte bereits zahlreiche Kurzgeschichten sowie Lyrik in Zeitschriften und Anthologien und erhielt mehrere Preise und Stipendien.

Originalausgabe

2. Auflage 2009

© 2009 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520014

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelseite

Impressum

Widmung

IM STROM

UNTER WASSER

AUFS EIS

NACHWORT

Es geschah in Berlin …

«Café Größenwahn» ist Paul und Elisabeth Trümper gewidmet, Jahrgang 1906 und 1911 - in der Hoffnung, dass es auch im Himmel eine gut ausgestattete Krimibibliothek gibt.

Mit herzlichstem Dank für Unterstützung und Inspiration an Anne und Lisa.

Warum es einen so ins Café zieht! Eine Leiche wird jeden Abend dort in die oberen Räume geführt; sie kann nicht ruhen.

Else Lasker-Schüler, Mein Herz, 1912

IM STROM

«BERLIN!»

Im ersten Moment steht Eugen Hofmann da wie geblendet. Er hält die Hand über die Augen und blickt durch die geöffnete Zugtür in die Bahnhofshalle. Dann tastet er über den Mantel: Eingenäht ins Futter knistern die blauen Hunderter, und obenauf, mehrmals gefaltet, liegt die erste Seite von seinem Theaterstück. Gestern ist er 21 geworden, volljährig. Jahrelang hat er auf den Tag gewartet, an dem man ihm sein Erbe auszahlt, und heute Morgen gleich den ersten Zug nach Berlin genommen. Durch das Bündel Papier und den Stoff des Wintermantels hindurch fühlt er sein Herz schlagen. Er kennt niemanden unter den hastenden Menschen auf dem Bahnsteig, niemanden in der Hauptstadt. Doch er weiß, dass irgendwo in der Menge jemand auf ihn wartet. Jemand oder etwas. Er atmet einen tiefen Zug der neuen Luft ein. Etwas Großes liegt vor ihm in dieser Stadt!

Da fühlt er einen Stoß im Rücken, andere Reisende drängen an ihm vorbei auf den Bahnsteig. Er stolpert die Stufen des Waggons hinab, der Hut fällt ihm vom Kopf und kullert in den Staub. Noch bevor er selbst ihn erreichen kann, hat ein fremder Herr den Hut aufgehoben, wischt mit dem Taschentuch darüber und überreicht ihn mit angedeuteter Verbeugung. In der Hand des Fremden kommt Eugen sein schlesischer Hut noch schäbiger vor. «Danke», sagt er, greift danach und will sich zum Gehen wenden. Doch der Fremde hält den Hut einen Augenblick fest, sodass Eugen ihm ins Gesicht sehen muss.

«Entschuldigen Sie», sagt der Unbekannte mit leiser Stimme, «können Sie mir sagen, wo ich in der Nähe ein solides Logis finde?»

Er trägt einen einfachen Anzug, genau wie Eugen, und einen gelbledernen Koffer, der womöglich noch provinzieller ist als sein eigener. Die leichte Färbung seines Dialekts ist nicht das freche Berlinerisch, das Eugen hier von allen Seiten um die Ohren saust.

Schaffner in Uniform fordern die Passagiere auf, von der Bahnsteigkante zurückzutreten, Obst- und Zeitungsverkäufer preisen ihre Waren an, Reisende werden von Verwandten und Bekannten mit großem Hallo in Empfang genommen. Nur das Stampfen der Maschinen, wenn eine Dampflok anfährt, übertönt hin und wieder das Stimmengewirr. Tauben schwirren durch die Bahnhofshalle.

Eugen umklammert den Griff seines Koffers. «Ich bin fremd hier», sagt er zu dem Fremden.

Der Bahnsteig beginnt sich zu leeren, als eine korpulente Frau auf die beiden zukommt. Dicht vor den Neuankömmlingen bleibt sie stehen und hält ihnen ein Pappschild unter die Nase. «Die Herren suchen een schönet Loschie? Da hab ick was für Sie, solide Jejend, jünstje Preise.»

Der neue Bekannte senkt den Kopf, um das Angebot näher in Augenschein zu nehmen. Eugen zieht ihn am Ärmel zurück.

«Besten Dank», sagt er mit fester Stimme zur Zimmerwirtin, «wir sind versorgt.»

Auf dem Bahnhofsvorplatz wird Eugen zum ersten Mal klar, dass er keinen Schimmer hat, wo in Berlin er sich befindet und vor allem: wohin er will. Merkwürdig, dass er daran so gar nicht gedacht hat. Wenn ich erst 21 bin, frei. .. Weiter hat er nicht denken können. Doch er ist ganz sicher gewesen, all die Jahre, dass ihm zur gegebenen Zeit das Richtige einfallen würde. Und so war es dann auch.

Während er am Schreibtisch der Amtsstube saß und das Testament seiner verstorbenen Eltern überflog, hörte er genau in der Sekunde, als er zu der ihm auszuzahlenden Summe kam, ein Flüstern:

«Berlin». Berlin, so hell und fein klang das, so klar und deutlich, dass er sich umwandte, um zu sehen, ob tatsächlich jemand gesprochen hatte. Ob Sophie es sich anders überlegt hatte und doch gekommen war zu seinem besonderen Geburtstag? Aber in seinem Rücken kauerte nur der Onkel auf einer Bank, der ihn missgünstig musterte, vor ihm saß der Amtsmann, der mit dem Finger auf die Stelle pochte, an die er seine Unterschrift setzen sollte. Auch dieser Mann hatte - wie vor ihm der Onkel, der Internatsleiter, der Pfarrer - keinen freundlichen Blick, kein menschliches Wort für ihn. Er kannte das Gefühl: nicht vor und nicht zurück. Doch nun gab es für ihn zum ersten Mal einen Ausweg. Zur Annahme des Testaments schrieb er mit Schwung seinen Namen.

«Schmied, Berthold Schmied», hört er neben sich eine Stimme. Die Bahnhofsbekanntschaft streckt ihm die rechte Hand entgegen. Eugen besinnt sich. «Eugen Hofmann», sagt er und schüttelt dem Kameraden aus der Provinz die Hand. Auf dem Bahnhofsvorplatz warten Pferde- und Autodroschken auf Passagiere, doch welches Ziel soll man ihnen nennen? Ohne ein weiteres Wort schlagen Eugen und sein Begleiter die gleiche Richtung ein. Auf der Straße braust der Verkehr um sie herum, Kutschen, Fahrräder, die Elektrische, die sich mit Gebimmel Platz verschafft, hier und da sogar ein Automobil. Berthold Schmied ist immer einen halben Schritt voraus, doch kennt er sich ebenso wenig aus wie Eugen. Alle paar Meter bleibt er stehen und fragt Passanten nach dem Weg, nach einem Platz, den ihm ein Vetter genannt hat, wo man gut unterkommen soll. Man müsse sich in der Hauptstadt in Acht nehmen, habe ihm der Vetter geraten, dürfe nicht blindlings jedem vertrauen.

Eugen denkt an die Wirtin mit ihrem Pappschild und schmunzelt. Auch mich kennt er ja nicht, geht es ihm durch den Sinn. Nein, er kennt mich nicht, klingt es mehrmals wie ein Echo in seinem Kopf, und er schüttelt den Gedanken ab. Ebenso wenig, denkt Eugen, kennt Berthold Schmied all die braven und weniger braven Bürger, die er mit treuherzigem Blick nach dem Weg fragt und denen er sich so unvermeidlich als Provinzler zu erkennen gibt. Nur den Schutzmann, der mit Uniform und Helm an einer Straßenecke steht, fragt er nicht. Auf diesen will Eugen zusteuern, als sein Weggefährte ihn am Arm um die Ecke zieht und ruft: «Wir sind da!»

Das Gasthaus scheint nur von mäßiger Qualität, doch die mit Kreide an die Tafel geschriebenen Speisen klingen vertraut: Bratkartoffeln, eingelegter Hering, Sülze. Die Füße schmerzen, und Eugen ist froh, die Beine unter dem Tisch ausstrecken zu können. Sein Bekannter sieht sich suchend im Lokal um, lässt sich von der Wirtin den Weg zur Toilette weisen und salutiert ihr mit zwei Fingern, als er an der Theke vorübergeht. Die Wirtsfrau wischt weiter mit dem Lappen über die Theke, wahrscheinlich ist sie an allerlei Dummköpfe aus der Provinz gewöhnt. Sie kommt an Eugens Tisch und nimmt die Bestellung auf, dann geht sie zu den beiden Gästen am Nebentisch und stellt vor jeden von ihnen einen Krug Bier.

Während Eugen und Berthold Schmied ihre Bratkartoffeln verspeisen, packt einer der Tischnachbarn ein Kartenspiel aus. Schon bald geht es nebenan lebhaft zu. Die Karten werden auf den Tisch geknallt, Münzen und Scheine von einer Seite auf die andere geschoben. Die Unterhaltung mit dem neuen Bekannten kommt nicht recht in Gang, da Berthold ständig nach dem Nachbartisch schielt. Auf Eugens Fragen antwortet er einsilbig. Schließlich geht er, eine Entschuldigung murmelnd, an den Tisch der Spieler herüber, die ihm gleich einen Stuhl anbieten. Eugen ist enttäuscht, ganz froh hat ihn die Aussicht gestimmt, gleich am ersten Tag einen Weggefährten für die Großstadt zu gewinnen. Doch er will kein Spielverderber sein. Als auf ein Zeichen der Spieler ein frischer Krug Bier vor ihn hingestellt wird, prostet er der Runde zu.

 

Sein Bekannter, obwohl gewiss kein routinierter Spieler, scheint eine glückliche Hand für die Karten zu haben. Beinahe nach jedem Spiel streicht er Münzen und Scheine ein, während sein Gegenüber immer finsterer schaut. Plötzlich steht Berthold auf und winkt Eugen an seinen Platz zu den Karten. Eugen zögert. Da glaubt er ein abschätziges Lächeln über die Lippen des fremden Spielers huschen zu sehen, als würde dieser denken: «Ach was, mit dem Milchbart werden wir fertig.» Dem werd ich’s zeigen, denkt Eugen, während er mit kalter Miene nach den Karten greift. Er hat früher im Internat schon gespielt und gar nicht schlecht, auch damals auf dem Ausflug nach Breslau. Glauben die vielleicht, Spielkarten gäbe es nur in der Reichshauptstadt Berlin?

Eine Stunde später sitzt Eugen allein am Tisch. Er stützt den Kopf mit beiden Händen, in seinem Schädel pocht es. Anfangs ist es gut gelaufen, beinahe so gut wie bei Berthold. Doch dann hat sich das Blatt gewendet. Er weiß nicht mehr, wann und warum. Berthold hat ihn angefeuert, ihm ein Glas nach dem anderen auf den Tisch gestellt. Er hat zu viel getrunken, er verträgt es doch nicht. Mit zittrigen Fingern holt er seine Börse hervor, in der er so viel Geld aufbewahrt hat, dass es für die ersten Tage und Nächte reichen sollte. Sie ist leer. Mit einem Schlag ist er nüchtern. Er ruft die Wirtin, die schläfrig in einer Ecke des Lokals hockt, und fährt sie an: «Wer waren die beiden Herren? Wo sind sie hingegangen?» Sie hält ihm die Rechnung unter die Nase. «Woher soll ick det wissen? Soll ick mir die Jeburtsurkunde jeben lassen, bevor ick n Bier ausschenke?»

«Und der Herr Schmied, der mit mir gekommen ist?»

«Na jedenfalls isser ohne Ihnen jejangen.»

Eugen bittet die Wirtin um ein scharfes Messer. Sie mustert ihn erst misstrauisch, reicht ihm dann aber eines herüber. Er geht zur Toilette und trennt dort das Futter seines Mantels auf, an der Stelle, wo er die Geldbündel aufbewahrt. Das Geld, das noch lange nicht angegriffen werden sollte. Er zieht einen Schein heraus, um damit die Rechnung zu begleichen. Er hat kein Vermögen geerbt, denn von dem, was seine Eltern bei ihrem Tod hinterlassen haben, ging das meiste an Onkel und Tante für die Jahre, in denen er bei ihnen gelebt hat. Das, was für ihn übrigblieb, reicht für ein gutes Jahr, wenn er sparsam ist. Es ist sein Schlüssel zur Freiheit.

Eugen steht vor dem Spiegel. Das Zimmer ist hell erleuchtet. Allein deshalb hat es sich gelohnt, nach Berlin zu kommen. Berlin ist von Kopf bis Fuß elektrifiziert. Und so fühlt auch er sich heute Abend - überströmend von Energie und blendend, von Kopf bis Fuß in neue Kleider gehüllt. Er tritt einen Schritt zurück, hebt das Kinn, sieht der Person im Spiegel in die Augen. Ja, es sind immer noch seine blauen Augen im schmalen Gesicht, das blonde Haar und der Schnurrbart. Und doch: Er kann es kaum fassen, dass der elegante Herr im Jackettanzug, mit modischem Hut, im Hemd mit hohem Kragen, dass dieser Mensch, der sich jetzt eine Zigarre ansteckt und pafft, als hätte er nie etwas anderes getan, derselbe Eugen aus der schlesischen Kleinstadt sein soll, der vor acht Tagen nach Berlin gekommen ist. Der sich gleich am ersten Tag hat übers Ohr hauen lassen, abschleppen und ausnehmen von einem «Bauernfänger» und seinen Komplizen.

«Bauernfänger», eine der ersten neuen Vokabeln, die er hier gelernt hat und gewiss nicht vergessen wird. Bei dem Gedanken verdüstert sich das Gesicht im Spiegel, mit der Spitze eines seiner neuen, blank gewichsten Schuhe tritt er so fest gegen die Kommode, das ein Stück Holz abspringt. Asche fällt von der Zigarrenspitze auf den Holzfußboden, als Eugen im Zimmer auf und ab marschiert. Viel Platz hat er nicht, um auszuschreiten, es ist ein kleines Zimmer in einem einfachen, aber sauberen Gasthof. Er liegt im nördlichen, also im verkehrten Teil der Stadt. Doch man muss Prioritäten setzen, auch das hat er schnell gelernt. Kleider machen Leute, das ist die erste Lektion. Von da aus können die nächsten Schritte geplant werden. Und es plant sich leichter, bedeutend leichter in einem tadellosen Anzug.

Es klopft an der Tür. «Herr Hartwig?»

Eugen zögert, bevor er zur Tür geht. An den neuen Namen - Georg Hartwig - muss er sich erst noch gewöhnen. Das ist vielleicht der berauschendste Zug der neuen Freiheit, dass ihn niemand hier kennt. Man lässt sich unter einem Namen ins Gästebuch eintragen, den man selbst gewählt hat. Auch dazu will niemand die «Jeburtsurkunde» oder Legitimationspapiere sehen. Niemand stellt Nachforschungen an, solange man nichts verbrochen hat. Oder besser gesagt: solange man nicht so dumm ist, Spuren zu hinterlassen.

Es klopft noch einmal, und Eugen öffnet mit einem Ruck die Tür. Die Tochter der Zimmerwirtin steht im Rahmen, eine freche Göre, in deren Augen es spöttisch glitzert. Das Mädchen mustert seinen Aufzug von oben bis unten. «Erwarten Se Besuch?» Sie kichert. «Oder hat Se der Kronprinz jeladen?»

«Ich erwarte. .. Ach was, was wollen Sie überhaupt?»

Sie senkt den Kopf, dann sieht sie ihm wieder frech in die Augen. «Die Mutter schickt mir. Ick soll Ihnen sagen, det Se nich so viel Licht machen. Sonst kostet det extra, soll ick vermelden.»

Eugen hat die Tür hinter dem Mädchen geschlossen und die dunklen Vorhänge vor die Fenster zum Innenhof gezogen. Er steht wieder vor dem Spiegel, streckt den rechten Arm aus, schüttelt die Hand. «Hartwig, Georg Hartwig.» Nein, das war noch nicht kaltblütig genug. Der Händedruck muss fest sein, die Bewegungen energisch, aber lässig. Kein unnötiger Kraftaufwand. Kein Grund mehr zu springen. Er ist jetzt sein eigener Herr.

Vorbei die Zeit, als er Onkel und Tante gehorchen musste. Spießbürger alle beide, deren Horizont nicht über ihre Türschwelle und den Ladentisch reicht. Hinter dem sollte auch er noch immer stehen, wenn es nach ihnen gegangen wäre, und Bücklinge vor den Honoratioren des Städtchens machen. Nur weil ihr eigener Sohn gestorben war, kurz bevor er selbst zum Waisen wurde, hatten sie ihn bei sich aufgenommen, und er war als Nachfolger des Onkels vorgesehen - dabei hasste der ihn. Elf Jahre alt war er gewesen, als er in das fremde Haus kam. Man konnte sich in den engen Räumen nicht umwenden, ohne Nippes umzustoßen, Vasen mit künstlichen Zierblumen, Porzellanfigürchen. Abends saß die Tante in ihrem Lehnstuhl, bestickte Kissen und Deckchen, immer noch mehr Kissen und Deckchen. Sie alle wurden darunter begraben. Seine Mutter hatte Klavier gespielt. Debussy, Rubinstein - diese Namen hätte man für Seifenfabrikanten und Herrenschneider gehalten im Hause von Onkel und Tante. Dort hat es auch mit seinem Husten begonnen, der Atemnot. Dieses Asthma, das hat ihn gerettet. Nur weil er so krank wurde, haben sie eingewilligt, dass er in das Internat kam. Herr Binder, der Lehrer, hat ihn empfohlen, sich für ihn eingesetzt, aber sie wollten nicht. Wozu eine höhere Bildung, wenn er doch später im Laden stand? Erst als er sich die Seele aus dem Leib hustete, als der Lehrer es geschafft hatte, ihm wegen besonderer Leistungen zu einem Stipendium zu verhelfen, ließen sie ihn gehen. Schon in der Schule hatte er erste Theaterstücke geschrieben, kindliche Fingerübungen, aber Herr Binder hatte eine Begabung darin gesehen. Der Einzige, der seinen Wert erkannt hat.

Das Asthma ist schnell verschwunden im Internat. Dafür hat es dort mit den Magenschmerzen begonnen, der Übelkeit, die ihn immer wieder überfiel. Nein, es tut ihm nicht leid, dass er ohne ein Wort gegangen ist. Er hat das Testament unterzeichnet, sein Erbe bekommen, noch in derselben Nacht seine Sachen gepackt. Wozu einen Abschiedsbrief schreiben? Verlorene Liebesmüh bei diesen Leuten. Und sie sollten nicht wissen, wohin er gehen würde. Gar nicht auf den Gedanken kommen, ihn ausfindig zu machen. Niemals. Sophie ist die Einzige, der er einen Brief geschrieben hat. Er hat nicht verraten, dass er für immer fortwollte. Nur dass er sie dringlich zu kommen bitte, wenn sie den weiteren Weg mit ihm teilen wolle. Er hat einen Ring beigelegt, das Erste, was er von seinem eigenen Geld gekauft hat. Aber vielleicht war er nicht gut genug für Sophie - der Ring nicht und auch er selbst nicht. Besser so. Nun ist er hier, in Berlin. Allein und frei.

Eugen geht zu seiner Nachtkommode, holt den Schlüssel aus der Jackentasche und schließt die Lade auf. Er zieht einen Stapel beschriebenen Papiers heraus, sein Theaterstück, an dem er seit anderthalb Jahren gearbeitet hat, nachts, wenn Onkel und Tante schliefen. Jede Seite ist bis an die Ränder bedeckt mit durchgestrichenen und überschriebenen Zeilen. Er hat sie sich andressiert, diese kleine, pedantische Schrift. Papier war immer teuer gewesen.

Er setzt sich an den Tisch und holt den Füllfederhalter aus dem Etui. Jetzt fließen die Buchstaben in hohen Bögen und übermütigen Schlaufen auf die weißen Seiten, während sämtliche Lampen im Zimmer brennen.

Über Nacht ist Schnee gefallen und bedeckt mit einer Schicht den Schmutz in den Straßen und Höfen. Kinder lärmen, der Milchwagen bimmelt, und vom Wagen des Kohlenhändlers kullern ab und zu ein paar schwarze Brocken in den Schnee. Im nächsten Moment bückt sich jemand, streckt die Hand aus, die Kohlenstücke sind in den Taschen verschwunden.

Eugen trägt seinen neuen Anzug und Hut, die noch ein wenig drückenden Schuhe. Er will sich umsehen und die ungewohnten Kleider einlaufen. Niemand braucht zu wissen, dass er sie erst vor kurzem erstanden hat. Erst wenn sie sitzen wie eine zweite Haut, will er darin die Schauplätze der Stadt betreten, deretwegen er hergekommen ist. Doch hier im Wedding fällt er auf in den teuren Sachen. Bei jedem Schritt fühlt er sich von Blicken verfolgt. Er will raus aus dem Gewirr der Straßen, Höfe und Hinterhöfe, doch er hat die Orientierung verloren. Wenn er jetzt stehenbleibt und den Stadtplan hervorholt. .. Kaum hat er den Schritt ein wenig verlangsamt, läuft ein Trupp schmutziger Kinder neben ihm her. Wind pfeift durch ihre Lumpen, Rotz läuft aus den Nasen, während sie ihm die Handflächen entgegenstrecken und betteln. Ein kleines Mädchen spuckt Blut in den Schnee. Hastig steckt er der Kleinen ein paar Groschen zu. Da reißt ein größerer Junge dem Mädchen die Münzen aus der Hand, und im nächsten Moment hat die ganze Bande Eugen umringt. Sie springen johlend um ihn herum, schütteln die kleinen Fäuste oder strecken die Hände aus. Eine Sekunde steht er nur da, dann begegnet sein Blick über die Kinder hinweg dem einer Frau. Sie zieht eine schwerbeladene Karre mit Brennholz, auch ein kleines Kind sitzt darin, während ihr zwei größere an den Rockschößen hängen. Sie hält inne und betrachtet das Schauspiel, ein schadenfrohes Lächeln zieht durch ihr Gesicht. Da stößt er zwei Knaben beiseite und bahnt sich einen Weg aus der Umzingelung. Während Eugen davoneilt, spürt er einen Hagel kleiner Kiesel im Rücken. Er springt auf eine eben abfahrende Elektrische, die ihn ins Zentrum bringt.

Zum ersten Mal spaziert Eugen die Friedrichstraße und Unter den Linden entlang. Er hat so viel darüber gehört und gelesen. Sophie, die ein paar Mal zum Verwandtenbesuch in Berlin war, hatte ihm mit leuchtenden Augen davon erzählt. Er war sich immer ganz klein und dumm vorgekommen, weil sie ihm dieses Glanzvolle voraushatte. Alle Welt spazierte in der Reichshauptstadt umher, doch für ihn hätte sie in China liegen können. Eine Fahrkarte zu erwerben war so undenkbar wie einen Brillantring.

Nun ist er hier. Er hat ebenso gut das Recht, auf dem breiten Trottoir zu spazieren, wie jeder andere. Mit dem Strom der Passanten lässt er sich treiben, vorbei an eleganten Hotels und Cafés, den Auslagen in den Schaufenstern der Geschäfte. In den Zweigen der Bäume flattern vom Wind zerfetzte Papiergirlanden, die in der Neujahrsnacht aus den Fenstern oder vom Oberdeck der Busse herabgeworfen wurden. Wie tropische Schlingpflanzen hängen sie an den Ästen.

Nach der neuesten Mode gekleidete Damen flanieren untergehakt durch die Straßen, manche führen ein Hündchen an der Leine. An jeder Ecke wachen uniformierte Schutzleute über die Bürger, auf Pferden oder zu Fuß, gestiefelt, mit Säbeln und Schnauzbärten. Auf den schweren Pickelhauben steht zu lesen: In Treue fest. Jeder Versuch, den Verkehr zu regeln, ist zum Scheitern verurteilt. Fußgänger und Radfahrer bahnen sich ihren Weg durch die selben Straßenzüge wie Pferde- und Taxameterdroschken, Postwagen, Omnibusse und Automobile, sie alle kreuzen die Schienen der Elektrischen, und über ihre Köpfe donnern die Züge der Stadtbahn hinweg. Die Menschenmassen schieben sich in rasantem Tempo über die Kreuzung Friedrichstraße und Unter den Linden, jeder scheint auf irgendetwas aus zu sein, als warte in einem der Schaufenster, an einem der Caféhaus-Tische das ganz persönliche Glück.

 

Eugen hat kein bestimmtes Ziel, doch auch er wird von Unruhe erfasst und fällt ein in den hastigen Schritt der Passanten. Vor der Tür eines Juweliergeschäfts bleibt er stehen. Im hell erleuchteten Laden lässt er sich eine Kollektion Herrenringe vorlegen und sieht sofort, welcher der richtige für ihn ist. Doch er genießt es, wie die Verkäuferin sich um ihn bemüht. Schließlich zeigt er auf den Ring, der einem Siegelring am nächsten kommt. «Ich möchte ihn mit Gravur. G. H., fein geschwungen.»

Eugen leistet die Anzahlung für den Ring und geht dann ins Restaurant Borchardt in der Französischen Straße. Nach dem Essen lässt er sich vom Zeitungskellner mehrere Zeitungen bringen und blättert darin. Die ersten Ergebnisse der Reichstagswahlen von gestern, vom 12. Januar, liegen bereits vor. Der Berliner Lokalanzeiger gibt eine Extraausgabe heraus: Das Gesamtergebnis der Wahlen - nach Privattelegrammen unserer Spezialkorrespondenten zusammengestellt.

Der Wahlausgang sorgt überall im Deutschen Reich für Aufregung. Nicht nur oppositionell, geradezu revolutionär ist das Ergebnis in Berlin. In der Hauptstadt des Kaiserreichs haben die Sozialdemokraten 75 Prozent der Stimmen erhalten und sieben von acht Mandaten der Großberliner Reichstagswahlkreise gewonnen. Von der gesamten Bevölkerung, liest Eugen, sind nur etwa zwanzig Prozent wahlberechtigt. Frauen sind ebenso ausgeschlossen wie Behinderte oder Bezieher von Armenunterstützung, und Männer sind erst ab 25 Jahren berechtigt, ihre Stimme abzugeben. Ich habe keine Zeit, denkt Eugen, zu warten, bis ich 25 bin und meine Stimme zählt als eine von Millionen. Keine Zeit, mit gefalteten Händen dazusitzen im Wartesaal dritter Klasse.

Er winkt dem Kellner und bestellt ein Glas Sekt. Erst heute, so fühlt er, ist sein eigentlicher Geburtstag. Er hat die ganze Nacht an seinem Stück gearbeitet, der neuen Fassung, die er gleich am ersten Tag in Berlin begonnen hatte. Das alte Stück, an dem er anderthalb Jahre geschrieben hat, ist im Ofen seines Pensionszimmers in Flammen aufgegangen. Fingerübungen sind es gewesen, die Fingerübungen eines unfreien Geistes. Doch jetzt, als unabhängiger Mensch in der freien Luft dieser Stadt, kann er schreiben. Etwas so Neues und Unerhörtes wird er schaffen wie Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang. Er denkt an seinen Ring mit den Initialen G. H. und lächelt.

Ein paar Tische weiter werden plötzlich Stimmen laut. «Mein Herr, ich bitte Sie ein letztes Mal, unser Restaurant zu verlassen!», gibt der Oberkellner einem Mann Bescheid, der in Hemd und einfacher Jacke, ohne dunklen Anzug, an einem Fenstertisch Platz genommen hat. Der Mann ist nicht schmutzig oder abgerissen gekleidet, doch offensichtlich gehört er nicht zur gutbürgerlichen Gesellschaft. Ein Arbeiter womöglich! Er bleibt sitzen und wiederholt laut seine Bestellung. Die umsitzenden Herrschaften unterbrechen ihre Gespräche und schauen herüber. Der Oberkellner geht durch den Raum zum Pianisten, der daraufhin so laut zu spielen beginnt, dass der weitere Wortwechsel untergeht. Endlich steht der Mann in der einfachen Jacke auf und geht hinaus. Am Ausgang dreht er sich noch einmal um, reckt die Faust und ruft:

«Ich komme wieder!»

Bald nach ihm tritt auch Eugen wieder auf die Friedrichstraße. Ihn hat man im Borchardt, in dem feine Herrschaften speisen und ihren Wein trinken, zuvorkommend und respektvoll bedient. In einem Lederwarengeschäft ersteht er einen prachtvollen Rindslederkoffer für über hundert Mark. Wenn er mit dem aus einem Zug steigt oder ein Zimmer nimmt, wird man ihn nicht mehr für einen armen Schlucker aus der Provinz halten. Er schlendert Unter den Linden entlang bis zum Pariser Platz. Unter den Linden 1, auf einem der teuersten Pflaster Berlins, steht seit fünf Jahren das Hotel Adlon, in dem das Kaiserpaar seine Gäste einquartiert. Vor dem Hotel parken schwarz glänzende Limousinen. Pagen in Livree flankieren den Eingang und drehen beim Eintreten für die Herrschaften die Drehtüre.

Eugen betritt die Eingangshalle des Hotelpalasts und bleibt wie geblendet stehen. Er bestaunt die Gewölbedecke und die Säulen aus dunkelgelbem, wolkigem Marmor. Eine breite, geschwungene Treppe führt in die oberen Etagen. Ein Page kommt auf ihn zu und geleitet ihn zur Rezeption. Eugen fragt nach einem Zimmer.

Der Empfangschef mustert ihn. «Bedaure, mein Herr, wir sind belegt», bedeutet er ihm kühl.

Ohne ein weiteres Wort wendet sich Eugen zum Ausgang.

«Ich werde wiederkommen», denkt er, «ich komme wieder.» Hat er laut gesprochen? Der Hotelpage sieht ihn so seltsam an, während er ihm die Tür aufhält. Sicher hat es sich angehört wie eine Drohung.

Mitten auf der nächsten Kreuzung bleibt Eugen plötzlich stehen. Eine Pferdedroschke weicht ihm in letzter Sekunde aus, der Kutscher beschimpft ihn. Eugen beachtet ihn nicht. Noch einmal sagt er, diesmal laut: «Ich komme wieder.»

«Erster oder zweiter Rang, Parkett?», fragt die Kartenverkäuferin an der Theaterkasse des Lessingtheaters. Eugen zögert, blickt auf die Preisliste: Fremden-Loge und Orchester-Loge 10 Mk., 1. Rang Loge u. 1. Rang Balkon 6,50 Mk., Parkett Seitenloge 6,50 Mk., Parkett Mittelloge 6 Mk., Stehparkett 3 Mk., 2. Rang Loge 3 Mk, 2. Rang Tribüne 2 Mk., Galerie 1 Mk. ..

Es ist sein erster Theaterabend in Berlin, eine Premiere in vieler Hinsicht. Eugen spürt Ungeduld in seinem Rücken, gleich wird jemand eine Bemerkung machen. «Zweiter Rang», antwortet er. Noch während er das Geld über die Theke schiebt und die Eintrittskarte in Empfang nimmt, ärgert er sich. Warum einen der billigen Plätze wählen zu diesem Ereignis, von dem er seit Jahren geträumt hat? Gut, auch die billigen Plätze hier sind teuer genug, und dennoch - er ist nicht mehr arm.

Kurz darauf ist Eugens Ärger verflogen, er verschwendet keinen Gedanken mehr an die ausgeklügelte Hierarchie der Theatergesellschaft, in der es Stehplätze gibt, abgestufte Ränge, offene und geschlossene Logen, geradeso wie sonst in der Gesellschaft.

Die Hofloge im ersten Rang bleibt auch an diesem Abend leer. Die kaiserliche Familie hat dem Lessingtheater den Rücken gekehrt, seit dort Otto Brahm regiert, Hauptmanns Vor Sonnenaufgang zur Uraufführung kam und Stücke von Strindberg, Holz und Schnitzler folgten - «Rinnsteinsprache», die dem Kaiser die Laune trübt, und Erotisches, das die Kaiserin erröten lässt. Heute steht Hauptmanns Stück Die Ratten auf dem Programm.

Nach vorn gebeugt, mit zusammengepressten Händen und weiß hervortretenden Fingerknöcheln, verfolgt Eugen Hofmann das Schicksal der Kleinbürgerfamilie John, das unabwendbar auf die Katastrophe zusteuert. Doch nicht so sehr Henriette Johns Versuch, sich ein fremdes Kind anzueignen, fesselt ihn, nicht das Unglück des Dienstmädchens Pauline, das dabei getötet wird - der nie gehörte Ton, der von dieser Bühne dringt, ist es, die Stimmen und Gesten der Schauspieler, das Gefühl, endlich dem wirklichen Leben beizuwohnen und zugleich einer großen Kunst. Eine einzige solche Aufführung in seiner Heimat, denkt Eugen, und über Nacht wäre eine Revolution ausgebrochen.

«Nu nimm doch», zischt in der Reihe vor ihm eine Frau und hält ihrem Nachbarn ein Taschentuch unter die Nase. Der schneuzt sich so laut und ausdauernd, dass Eugen den Dialog auf der Bühne verpasst. Wie durch ein Opernglas sieht er auf einmal die Theaterbesucher um sich herum. Eine junge Frau tuschelt mit ihrer Nachbarin. Eine Dame in violetter Seide nimmt die Garderoben der anderen Damen in Augenschein. Ihr Begleiter faltet Schiffchen aus den Seiten des Programmhefts.

«Bin ick denn hier von Jespenster umjebn?», fragt Paul John von der Bühne in den Zuschauerraum. «Ick weeß nich, sehen kann ick et nich! Det kichert, det wispert, det kommt jeschlichen, und wenn ick nach jreife, denn is et nischt!»

Eugen glaubt nicht, was er da hört. Erst leise, dann ein wenig lauter. Doch als er sich umdreht und dem Zuschauer ins Gesicht sieht, gibt es keinen Zweifel: Der Mann schnarcht. Das Kinn auf der Brust, sitzt er zusammengesunken da, ein kräftiger junger Mann. Beim Ausatmen zittert der martialische Bart in seinem runden Kindergesicht. Seine Begleiterin stößt ihn an. «Hermann», flüstert sie, und als er nicht reagiert, rüttelt sie ihn an der Schulter.

«Mensch, Kappe! Stille, man hört dir schon.»

Mitten in der Aufführung steht Eugen auf und drängt sich durch die Reihen. Unwillig machen ihm die Zuschauer Platz. Da presst er ein Taschentuch vor den Mund, als wäre ihm übel, und tatsächlich steigt im nächsten Moment Übelkeit in ihm auf. Eilig verschafft er sich freie Bahn, zum Ausgang, nur schnell zum Ausgang!