Loe raamatut: «Geisterfahrten», lehekülg 2

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Maria, meine Schwägerin, ist nicht mitgekommen, sie hat es vorgezogen, daheimzubleiben. Auch mal schön, ein paar Tage allein zu sein, hat sie gesagt und uns gute Fahrt gewünscht. Ich bin mit Stern durch die Urschweiz und dann über den Pass gefahren, meist hat er stumm aus dem Fenster geschaut, manchmal ist er ein wenig eingenickt, auf der Passhöhe hat er gesagt: War schon ewig nicht mehr hier.

Es gab noch immer Schneewände zu besichtigen, wir sind ausgestiegen, ich habe ein paar Fotos gemacht und schließlich habe ich meinen Bruder entlang dem Lago Maggiore über Luino ins Malcantone chauffiert. Hier zeigte sich bereits ein prächtiger Sommer, warm, aber noch nicht heiß. Gestern Abend haben wir bis nach zweiundzwanzig Uhr draußen gesessen im Garten des Albergo, bevor wir in Ruths Ferienhaus, das sie mir überlassen hat, zurückkehrten. Bleib, so lange du willst, hat sie gesagt.

Stern und ich haben im Hotelgarten der Dämmerung zugeschaut, die sich wie ein leichter Mantel über die Tische, die Stühle und die zum Restaurant gehörenden Nebengebäude gelegt hat und aus ihr langsam Dunkelheit geworden ist und schließlich Nacht, in der nur noch die Augen der Menschen aufblitzten, wenn sie ins Licht der diskret angebrachten Lampen schauten. Mit der aufkommenden Dunkelheit ist es stiller geworden, stiller an den Tischen bei den wenigen Gästen, die noch da waren und allmählich verstummten, als hätten sie alle beschlossen, sich gemeinsam auf den kommenden Schlaf vorzubereiten. Unter ihnen ist mir ein Mann aufgefallen, weil er der Einzige war, der nach dem Essen in einem Buch las und ab und zu etwas in ein kleines Notizbuch schrieb. Er saß allein an einem Tisch, einmal haben sich unsere Blicke kurz getroffen, freundliche Augen, dann habe ich mich sofort wieder meinem Bruder zugewandt.

Stern und ich haben geschwiegen, auf dem Heimweg hat sich mein Bruder leicht auf mich gestützt. Eigentlich sollte er keinen Alkohol trinken, er verträgt sich nicht mit seinen Medikamenten, aber ab und zu muss man bewusst Fehler machen, um zu einem Resultat zu kommen. Bislang haben Stern und ich, selten zwar, aber immer mal wieder, alle möglichen Katastrophen besprochen, nur um die eigenen haben wir einen Bogen gemacht, was sich nun ändern soll. Gestern Abend allerdings ist dazu nicht der richtige Zeitpunkt gewesen, entweder war es zu früh oder zu spät dafür. Ich habe nicht gewusst, dass Stern üblicherweise bereits gegen einundzwanzig Uhr zu Bett geht. Als ich ihm vorgeschlagen habe, noch ein wenig vor dem Haus im Portico zu sitzen, hat er erstaunt gefragt: Um diese Uhrzeit?, hat sich dann aber schwer atmend neben mich auf die Holzbank gesetzt.

Was quält dich am meisten, habe ich gefragt. Die Mücken, hat er gesagt und wild um sich gefuchtelt, denn tatsächlich hat das Licht der Außenlampe, die automatisch angeht, wenn man sich dem Haus nähert, einen Schwarm Insekten angezogen. Und er sei müde, hat Stern gesagt und immer wieder mit dem Kopf genickt, müde sei er nun, hat er wiederholt, und weil ich nicht riskieren wollte, dass er auf der Bank einschliefe, habe ich ihn in sein Zimmer im Parterre begleitet, zu dem ein eigenes Bad gehört. Schnell habe ich noch die Läufer in seinem Zimmer und dem Bad aufgesammelt und sie in einem Abstellraum verstaut, sie wiesen keine rutschfeste Unterlage auf. Dass Stern hier stolpern oder stürzen könnte, ist meine größte Angst.

Kommst du klar, habe ich gefragt. Wieder hat er genickt, und als ich ihm bereits eine gute Nacht gewünscht hatte, hat er plötzlich gesagt: Das Zittern und mein dicker Bauch plagen mich am meisten. Man geniert sich.

Ich sitze mit Vater am Tisch. Beim Frühstück. Wir reden. Vater ist seit vielen Jahren tot. Am Tisch sitzt Stern. Wir reden nicht. Mein Bruder sieht unserem Vater zum Verwechseln ähnlich. Seine großen, abstehenden Ohren sind Vaters Ohren. Stern ist nun bereits älter, als es Vater je war. Er setzt Tag für Tag dort ein, wo unser Vater aufgehört hat, lebt eine Art doppeltes Leben. Mal mit sich selbst, hieß es im Kopfrechnen.

So geht die Zeit, sagt er nun. Dann versinkt er wieder in anhaltendem Schweigen, schaut auf etwas, das ich nicht sehen kann, und wieder verschmelzen Vater und Bruder vor meinen Augen. Die gleiche schwache Stimme, die immer wieder bricht, auch jetzt, da Stern erneut zum Reden ansetzt und wieder das Gleiche sagt: So geht die Zeit.

Sein Schweigen ist Vaters Schweigen. Tief. Hartnäckig. Schwer zu knacken. Auch wenn ich nicht zurück möchte in unser früheres schweigsames Familienleben, schaue ich gerne noch einmal in Vaters grüne, rotgeäderte Augen mit den geschwollenen Augenlidern, wenn ich Stern betrachte. Vaters Bindehaut war stets entzündet. Auch Stern und ich leiden an diesem Übel, unsere Bindehäute sind zu dünn. Sterns Haar aber ist noch immer dicht und blond, buschig seine Augenbrauen, was ungewöhnlich ist für einen Blonden, aus Nase und Ohrmuscheln sprießen borstige Haare, sie ragen heraus und niemand stutzt sie mehr. Mein Bruder ist stets schlecht rasiert, das war er schon immer, auch, als er noch viel jünger und ausnehmend gutaussehend war. Und er hätte mehrere Male in seinem Leben Grund gehabt, vor Schmerz zu sterben. Er ist nicht gestorben, musste aber phasenweise Medikamente schlucken, in heiklen Momenten, um zu überleben, verordnete Pufferzonen gegen Schmerz und Angst, oder es wurden ihm Depotspritzen verabreicht gegen Unruhe und Diazepame, die alle Ängste auflösen und ihn ruhigstellten. Einmal nahmen wir im Unterricht in der Psychologie die Ängste durch und ich habe Stern in einem Brief gefragt: Kannst du mir sagen, welcher Angst-Typ du bist?

Das Gehör ist seit Längerem das eigentliche Thema bei Stern, nicht die Augen. Sein Sehvermögen ist intakt, aber das Gehör ist der Schwachpunkt, genauso, wie es auch bei Vater war. Lange Zeit hat sich Stern aus Eitelkeit der Anschaffung von Hörgeräten verweigert. Er war schon immer eitel, und dass er die Eigenschaft behalten hat über alle Unbill seines Lebens hinweg, gefällt mir. Zum Glück ließ er sich aber von Maria überzeugen, die mit gutem Beispiel voranging und sich ihrerseits Hörhilfen anpassen ließ, obwohl es bei ihr längst nicht so dringlich gewesen war wie bei ihrem Mann. Jetzt trägt auch Stern meistens seine Verstärker, wie er die Hörgeräte nennt, verweigert sich aber jeder Form von Instruktion, und heute Morgen, stelle ich fest, hat er vergessen, sie einzusetzen.

Schade, sage ich zu ihm und deute auf meine Ohren, dann hast du in der Frühe den ganzen Betrieb in der Natur nicht gehört. Die Vögel haben gepfiffen, und ein Kuckuck hat sein Morgenlied förmlich in den Tag geschrien. Ja, ja, antwortet er, das sagt er meistens, wenn er nichts verstanden hat. Ich tippe nun auf meine Ohren und sage überdeutlich: Hol bitte deine Verstärker. Umständlich steht er auf, es dauert, bis er zurück ist, noch ist er barfuß, aber die Hörhilfen hat er sich eingesetzt.

Du hast schöne Augen, sage ich zu ihm, als er sich wieder an den Tisch setzt, aber mit deinen Füßen müssen wir etwas machen. Stern blinzelt und schweigt. Ich mache mir jeden Tag die Augen schön, erzähle ich ihm, ich bin eine Frau. Als Stern wieder nicht reagiert, schweige auch ich und überlege mir, welche Frau ihm wohl zum ersten Mal in seinem Leben schöne Augen gemacht hat. Heute machen wir deine Füße schön, sage ich, denn mit einem Blick habe ich gesehen, dass Sterns Zehennägel dringend geschnitten werden müssen und seine Füße wohl seit Jahren keinen Bimsstein oder etwas Ähnliches gesehen haben, so verhornt, wie seine Fersen sind.

Meinen Bruder behändigen. Ihn bändigen und zähmen. Obwohl, längst ist er nicht mehr wild, sondern eher handzahm, viel zahmer jedenfalls, als ich es je für möglich hielt. Die Psychiater sagen antriebslos. Der Hausarzt nennt seine periodisch wiederkehrenden schlechten Phasen Episoden. Petra, seine Tochter, bezeichnet ihn als altersdepressiv und oft schlecht gelaunt. Es stimmt, Stern ist alt. Und er ist vielleicht wieder depressiv oder, wie es Mutter genannt hat, schwermütig oder gemütskrank, das war er immer mal wieder und aus guten Gründen. Aber dazwischen war er voller Kraft, voll erfolgreicher Ideen und voll wilder Wut, wenn seine Unternehmungen mal nicht glückten. Ich nehme meinen Bruder, drehe und wende ihn und betrachte ihn von allen Seiten. Als würde er mir Modell sitzen. Ich weiß wenig über alte Männer, weiß wenig über meinen Bruder, auch wenig über seine Zeit als junger Mann, möchte aber diesem jetzt oft galligen Menschen ein wenig näherkommen, bevor er für immer verschwindet und mit ihm seine ganze Geschichte, die in Teilen auch die meine ist. Dass er als viel älterer Bruder in gewisser Weise mein Gedächtnis ist und dass ich es jetzt endlich würde anzapfen können, darauf hoffe ich, nur, ob das noch möglich ist, nun, da er schon ein wenig tattrig geworden ist, sein Körper schon etwas morsch, ich weiß es nicht. Manchmal jedenfalls, wenn wir uns im Gespräch gegenübersitzen, sackt er plötzlich weg. Sein Kopf fällt nach vorn, sein Kinn sinkt auf die Brust.

Ich betrachte seine Hände. Es sind Pranken. Gewohnt an schwere Arbeit. Aber nicht gewohnt, zum Beispiel schön hergerichtete Teller zu balancieren. Hände jedenfalls, die nicht gerne ohne Beschäftigung sind, seit einiger Zeit aber nichts mehr zu tun bekommen. So zittern sie halt. Ich aber möchte meinen Bruder ertasten. Sein Hintergrund ist dunkel. Um Stern ist es oft finster, meine Augen haben sich im Laufe der Jahre an diese Art von Finsternis gewöhnt, langsam vermag ich zwar, seine Umrisse zu sehen, aber nun möchte ich den Hintergrund ausleuchten. Stern ist dreiundachtzig Jahre alt. Ob er überhaupt noch schreiben kann, zitterhändig, wie er ist? Liest er zu Hause noch Zeitung oder schaut er nur noch fern den ganzen Tag? Noch lenkt er ein Auto, fährt aber nur noch in seiner nächsten Umgebung. Ich würde mich nicht mehr zu ihm ins Auto setzen, um keinen Preis, säße er am Steuer. In letzter Zeit habe ich zu oft an ihn gedacht, an seine Herkunft, an seine Mutter, Vaters erste Liebe. Was er noch von ihr weiß? Ob er sich an Dinge aus der Übergangszeit erinnert, bis Vater eine zweite Ehefrau und er wieder eine Mutter hatte?

Stern kennt die Schweiz wie kein Zweiter, insbesondere ihr gesamtes Autobahnnetz. Aber nicht von Ausflügen her, sondern durch seine Arbeit. Er hat die Mittelstreifen und die Böschungen der Autobahnen begrünt und bepflanzt und sie lange Zeit auch gepflegt und unterhalten, auch Skipisten im Gebirge hat er begrünt, später kamen noch Kreisel dazu. Sonst ist er nicht viel herumgekommen in der Welt. Zweimal war er mit Maria auf einer Kreuzfahrt in der Karibik. Guadeloupe vor allem hatte es ihm angetan, aber Maria musste sich zu Kreuzfahrten überwinden, sie kann nicht schwimmen, und das sei ihr während der ganzen Reisezeit stets bewusst gewesen. Überhaupt sei alles anstrengend gewesen, vor allem die Landgänge und die ganze Zeit Ausflüge und Vorträge. Beim zweiten Mal sei sie jedenfalls nur noch auf dem Schiff geblieben.

Ich sitze mit Stern am Tisch. Brüderchen und Schwesterchen. Längst sind wir fertig mit Frühstücken. Wir reden nicht. Ich nehme seine rechte Hand. Sie ist warm, wärmer als meine. Komm, sage ich. Langsam erhebt er sich. Er ist wirklich schwer geworden. Und er zittert sowohl im Sitzen als auch im Gehen. Das macht das Lithium. Wann bei ihm das Zittern eingesetzt hat, weiß ich nicht und fragen möchte ich lieber nicht. Geschrumpft ist er auch, um einige Zentimeter. Vater blieb bis zu seinem Tod hager und aufrecht und stets größer als ich.

Ich kann Stern tatsächlich dazu bewegen, mit mir zusammen vor die Tür zu treten. Draußen legt er wie so oft den Kopf in den Nacken und schaut lange Zeit hinauf, unbeweglich verharrt er in der Position und schaut und schaut, als wäre der Blauhimmel nun sein Alterswerk. Dabei hat doch das Grün über lange Zeit sein Leben dominiert. Als er sich wieder löst von diesem Anblick in der Höhe und sich langsam wieder mir zuwendet, liegt überirdische Ruhe auf seinem Gesicht. Wir setzen uns auf die Bank im Portico und betrachten den bescheidenen Garten, der zum Haus gehört.

Überall Kamille, stelle ich fest und schicke mich an, ein paar der Blüten zu pflücken, eine Pflanze reiße ich aus. Vielleicht kann man damit Tee aufbrühen, meine ich.

Ist nicht Kamille, sagt nun Stern, ist Berufskraut. Erigeron annuus.

Heißt das Zeug wirklich Berufskraut oder nimmst du mich auf den Arm? Stern schüttelt den Kopf. Die Pflanze, die aussehe wie Gänseblümchen oder eben wie Kamille, heiße tatsächlich Berufskraut, und sie sei ein Neophyt.

Stern weiß noch immer vieles über Pflanzen, insbesondere über Pionierpflanzen, die an Böschungen oder auf großer Höhe gedeihen. Ich habe einen Bruder, der noch nie auch nur ein einziges Wort auf einem Computer geschrieben hat, sich aber bestens auskennt mit Pflanzen und vermutlich kaum mehr seine Unterschrift auf ein Blatt Papier setzen kann. Stern ist analog. Stern ist monolog. Und ein Solitär ist er, obwohl er Familie hat. Zusammen mit diesem Bruder bin ich nun in Ruths Ferienhaus im Süden der Schweiz. In einem Gebiet, wo es kaum Touristen gibt, machen er und ich zum ersten Mal im Leben gemeinsam eine Art Urlaub.

Woher denn wurde dieses Berufskraut eingeschleppt?, wende ich mich wieder an ihn.

Aus Nordamerika, habe ich doch schon gesagt.

Nein, hast du nicht.

Dann halt nicht. Hab es bloß gedacht.

Denken und sprechen, vermute ich, gehen meinem Bruder in letzter Zeit häufig durcheinander, aber es ist ihm wohl egal. Er schweigt wieder und zerrupft ein paar Blüten jener Pflanze, die ich ausgerissen habe, was Kraft gebraucht hat, das Unkraut wurzelt erstaunlich tief. Ich möchte zu Stern vordringen, möchte in seine Wirklichkeit gelangen. Das ist schwer. Das Wenige, das ich von ihm weiß, stammt nicht direkt aus seinem Mund, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir beide jemals länger als ein paar Stunden nur zu zweit waren. Jetzt ist es so und fast bedauere ich diese Unternehmung schon, mal ängstigt sie mich ein wenig, mal kommt sie mir sinnlos vor, denn er und ich haben uns verpasst, und ob wir etwas nachholen können, ich weiß es nicht. Manchmal denke ich, wir sind gar nicht miteinander verwandt. Bestimmt habe ich es auf Platz zwei leichter gehabt als er, jedenfalls konnte ich mich früh freistrampeln. Nur, was können wir voneinander wissen? Was für ein Kind Stern war, keine Ahnung, und umgekehrt ist es wohl ebenso. Stern war in der Unteroffiziersschule, als ich die ersten Schrittchen machte. Allerdings haben wir uns auch später nicht sonderlich darum bemüht, uns gegenseitig ein wenig Einlass in unsere Leben zu geben, und genau dieser Eindruck verstärkt sich nun, als er wieder zum Reden ansetzt, und wieder verebbt auch dieser Ansatz nach der zweiten Bemerkung, die ungefähr lautet wie: Weißt du noch, der Alois … der Alois also … bin gar nicht mehr sicher, ob der Alois … ob er noch lebt … gar nicht mehr sicher bin ich … so ist das … gar nicht mehr sicher … und dann spricht er nicht mehr weiter, sondern starrt vor sich hin. Adrin, mein Sohn, würde sagen, lass den alten Stern doch einfach in Ruhe. Merkst du denn nicht, dass er nicht reden will? Adrin hat keine Ahnung. Oder vielleicht doch. Bei uns ist ja alles nach hinten verschoben. Für Adrin ist Stern so etwas wie ein Großvater, Petra, Sterns Tochter, seine einzige Kusine, ist für ihn wohl eher wie eine Tante, sie ist einundzwanzig Jahre älter als er. Richtige Tanten hat er keine und seine wirklichen Großväter hat er nie gekannt. Mein Vater war schon vor seiner Geburt gestorben und den andern Großvater hat Adrin nie kennengelernt, wie sollte er auch, kennt er doch nicht einmal seinen Vater. Adrins Vater ist eine Adresse in Stavanger. Mein Sohn kennt die Adresse, nur weiß weder er noch ich, ob sie noch gültig ist. Menschen ziehen um, ändern ihr Leben und wohnen fortan auf einem anderen Kontinent. Menschen erkranken, altern, verstummen oder verlieren den Verstand. Ich weiß nicht, wie der Stand der Dinge ist bei Loen, aber ein alter Mann ist er nun, das steht fest, sechzehn Jahre älter als ich. Er war zweiundfünfzig, als wir uns kennenlernten, er wähnte sich in seinen besten Jahren und benahm sich auch so, mit vierundfünfzig ist er absolut ungewollt und zum ersten Mal Vater geworden, er hat Adrin, seinen Sohn, nie gesehen, er wollte das dezidiert nicht und so habe ich den Kontakt zu ihm endgültig abgebrochen, als Adrin ein paar Monate alt war. Ein paar Fotos von Loen habe ich aufgehoben, und die beiden Dokumente, für Adrin, die Bilder hat er schon ein paarmal gesehen, hat sich aber bislang noch nie aufgemacht auf Vatersuche, obwohl er viel reist, in Skandinavien allerdings war er noch kein einziges Mal. Ob er Loen gegoogelt hat, weiß ich nicht, ich denke, dass ja, ich habe es auch getan, aber diese Suche ergibt sozusagen nichts, jedenfalls nichts, das Adrin nicht bereits weiß. Am Tag seiner Volljährigkeit habe ich ihm auch die Dokumente gezeigt. Im ersten Dokument anerkennt Loen die Vaterschaft, das zweite Dokument bestätigt die einmalige Abfindung, die er mir überwiesen hat nach Adrins Geburt, ein sehr hoher Betrag, der es mir ermöglichte, mein Leben als Alleinerziehende nach meinen Vorstellungen zu gestalten, Adrin ein paar Wünsche außer der Reihe zu erfüllen und ihm bei seiner Ausbildung, die wohl längst noch nicht zu Ende ist, freie Hand zu lassen. Er ist mit neunzehn ausgezogen, hat Sozialpädagogik studiert und dann für kurze Zeit als Streetworker gearbeitet. Jetzt ist er fünfundzwanzig und jobbt ein wenig als Bühnenarbeiter bei freien Theatergruppen und hat eine Freundin, Milva, über die ich mir so meine Gedanken mache. Sie eckt dauernd und bewusst überall an, und die Provokation gefällt ihr. Bereits bei unserem allerersten Treffen hat es eine Diskussion, nein, eigentlich eine Auseinandersetzung gegeben zwischen ihr und mir, und natürlich haben wir Adrin damit in die Zwickmühle gebracht. Er hat sich kurzerhand aus dem Spiel genommen und ist für eine Weile weggegangen, worauf mich Milva voller Zorn und aus funkelnden Augen anstarrte und hervorgestoßen hat: Siehst du, das hast du nun davon. Dann ist sie für längere Zeit im Badezimmer verschwunden. Am Abend, die beiden waren schon weg, habe ich festgestellt, dass zwei meiner Parfums fehlten.

Als ich Adrin an seinem achtzehnten Geburtstag die Dokumente gezeigt habe, studierte er sie eine Weile lang und schob sie mir wieder zu mit den Worten: Großzügig war der Typ, immerhin, aber mit all dem Geld hat er sich freigekauft und mich quittiert. Woher hatte er denn so viel Kohle? Stichwort schwarzes Gold, habe ich geantwortet, denn Loen hatte damals eine hohe Position inne in einer Firma, die mit Erdöl gehandelt hat, vielleicht hat er auch geerbt, was weiß ich. Adrin und ich haben bei dieser Gelegenheit nochmals die Fotos angeschaut, die Loen zeigen, einen blonden Mann mit hellen Augen und sehr heller Haut, der lächelnd in die Kamera blickt. Kopfschüttelnd hat mir Adrin auch die Fotos wieder zugeschoben. Der Typ sollte ja ein Problem für mich sein, hat er gesagt, aber den Gefallen tue ich ihm nicht. Er spielt in meinem Leben ganz einfach keine Rolle, nicht die geringste, und das wird so bleiben. Als ich geschwiegen habe, hat Adrin mich angelächelt und gesagt: Es ist alles in Ordnung, Lisa, mach dir keine Sorgen. Ich bin dir unterlaufen, sozusagen, aber ich bin froh darüber.

Ich bin auch froh darüber, habe ich gesagt. Wir haben uns umarmt und in meiner Erinnerung war dies das letzte Gespräch, das ich mit meinem Sohn über seinen Vater geführt habe. Vielleicht, denke ich ab und zu, unterlässt er bloß aus Rücksicht zu mir ernsthafte Bemühungen, mit ihm Kontakt aufzunehmen, und wird es erst versuchen, wenn es dafür zu spät sein wird. Oder ich habe ihm überdeutlich vermittelt, dass Loen absolut kein Kind haben wollte, was allerdings stimmt. Denn nachdem die Dinge geregelt waren, hat er mir unmissverständlich erklärt, künftig wünsche er weder zu seinem Sohn noch zu mir irgendeinen Kontakt. Dass Loen mit mir nichts mehr zu tun haben wollte, habe ich verstehen können, aber dass er sein eigenes Kind nicht sehen wollte, das geht bis heute über mein Vorstellungsvermögen. Mit einem Menschen von solcher Härte wollte auch ich nichts mehr zu schaffen haben, und so ist es gekommen, dass Loen und ich nie mehr voneinander gehört haben. Erst viel später hat Adrin mir erzählt, als Kind habe er allen, die nach seinem Vater gefragt hätten, der Einfachheit halber erklärt, sein norwegischer Far sei leider kurz nach seiner Geburt verstorben. Auch in der Schule habe er es so gehalten.

Loen und Lisa, das hatte mir vor bald dreißig Jahren gefallen, die Verbindung dieser beider Namen. Lisa, so heiße ich seit meinem zwanzigsten Lebensjahr. Den Namen habe ich selbst gebastelt, abgeleitet aus meinem offiziellen Vornamen, der in den amtlichen Dokumenten steht: Elisabeth. Die Eltern und Stern haben mich zwei Jahrzehnte lang Lisbeth genannt, aber mit zwanzig habe ich Lisa durchgesetzt. Eure Kinder heißen nun Ernst und Lisa, habe ich gesagt. Eure Kinder, hat Mutter gemurmelt, und Lisa, ja, ihretwegen, aber von Stern rücke sie nicht ab. So haben wir alle meinen Bruder weiterhin Stern genannt, nur Vater war der Einzige, der mich nie Lisa genannt hat, er hat es von da weg einfach vermieden, mich mit dem Vornamen anzusprechen, weder mit dem alten noch mit dem neuen, er starb kurz vor meinem dreißigsten Geburtstag.

Vater starb und Stern spülten die Wellen der Depression wieder weit weg von uns. Sein neuer Status als Vollwaise war die Erklärung der Psychiater für das erneute Aufflammen seiner Krankheit, das hat mir Mutter gesagt, mir kam die Erklärung seltsam landläufig vor, aber ich habe nicht nachgefragt, ich war dreißig und hatte nach meiner kaufmännischen Lehre und jahrelanger, ziemlich öder Bürotätigkeit eben begonnen, die Hotelfachschule zu besuchen, das war aufregend und aufreibend zugleich. Dass ich nun Halbwaise war, wurde mir nur bewusst, als meine Mutter die Bezeichnung Vollwaise in den Mund nahm und damit meinen Bruder meinte, das wurde mir erst nach kurzem Nachdenken klar, denn unter einem Vollwaisen stellte ich mir ein Kind vor, aber ich war dreißig und Stern war beinahe fünfzig, und er hatte schließlich eine Frau, Maria, und damals noch zwei Kinder, Petra und Linus, und seine Firma Grün mit Angestellten, und ein Haus hatte er, mehrere Häuser sogar, also, was wollte er mehr, sollte er doch sein gut sortiertes Leben führen und uns nicht mit einem an den Haaren herbeigezogenen Vollwaisen-Syndrom behelligen, denn in der Hotelfachschule funktionierte es gut, alle nannten mich Lisa, und ich trug einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse und schwarze Strümpfe und schwarze elegante Schuhe und lernte alles. Wie man perfekt eindeckt, lernte ich, und wie man mehrere Teller gleichzeitig balanciert, auf denen hübsch angerichtete Kalbsschnitzel in Marsalasauce und Beilagen darauf warten, aufgetragen zu werden, stets von rechts natürlich vom Gast aus gesehen, und der Teller muss so gedreht und auf den Tisch gestellt werden, dass das Fleisch auf sechs Uhr zeigt und den Gast sozusagen anschaut, damit er gleich zur Gabel links vor ihm und zum Messer rechts vor ihm greifen und sich über die Schnitzel hermachen kann. Ich glaube, es gab damals noch praktisch keine Linkshänder, in der Ausbildung jedenfalls kamen sie nie zur Sprache, war ihnen wohl die Linkshändigkeit schon in den frühen Jahren mittels rabiater Methoden für immer ausgetrieben worden. Stern interessierte mich in dieser Zeit null und nichts, Mutters Hilferufe allerdings waren schwieriger zu überhören, aber weil ich auch damit keinen angemessenen Umgang fand, ignorierte ich sie, was mir mit der Zeit immer besser gelang, weil ich mir möglichst weit entfernte Praktika aussuchte, die einen obligatorischen Ausbildungsteil der Hotelfachschule bildeten.

Schließlich starb Mutter, als ich im Myhregaarden Hotel in Stavanger arbeitete und bereits mit Loen zusammen war. Denke ich daran, spült das schlechte Gewissen, mich nicht um sie gekümmert, sondern diese Aufgabe an Maria delegiert zu haben, noch immer Wellen von Scham in mir hoch, und das mag einer der Gründe sein, weshalb ich nun mit meinem schon fast etwas hinfälligen Bruder im Malcantone sitze, kaum habe ich meine Berufsarbeit endgültig quittiert.

Sommer 1936 bis Sommer 1938

Filomena brachte eine ebenso bescheidene wie überflüssige Aussteuer mit: Gestickte Leintücher, Tischwäsche, Geschirr, Besteck. Das alles landete in einem Überseekoffer auf dem Dachboden. Direkt über der Gaststube lag die Schlafkammer, wo Franz schon immer geschlafen hatte und wo es Platz gab für ein zweites Bett. Eine Verbindungstür führte zu einem zweiten Zimmerchen. Da standen die noch leere Wiege des Säuglings, ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Bis Filomena einzog, hatte eine ihrer Schwägerinnen in diesem Raum geschlafen, sie war nun in die Kammer zu ihrer Schwester gezogen, die nachts manchmal aufstehen musste, wenn der behinderte Bruder im Zimmer nebenan nach ihr rief. Gekocht und gegessen wurde in der Küche des Restaurants. In der Zwischenetage gab es einen Abort mit einem Waschbecken und gleich beim Eingang ein Pissoir für die Gäste. Von Beginn an oblag es Filomena, in diesen Räumen für Sauberkeit zu sorgen. Die Chefin inspizierte Abort und Pissoir regelmäßig und trug ihrer Schwiegertochter viele weitere Putzarbeiten auf. Gerne hätte Filomena im großen Garten gearbeitet, aber im Reich ihrer beiden Schwägerinnen hatte sie nichts verloren. Obwohl ihr Elternhaus nur zweihundert Meter entfernt war, überfiel sie immer wieder heftiges Heimweh. Sie hatte vier ältere Brüder und fünf jüngere Schwestern, viele der Geschwister lebten nicht mehr daheim, auch die Jüngste nicht, Paula, ihre Lieblingsschwester. Und sie hatte eine kleine und fröhliche Mutter, die den ganzen Tag sang, und einen Vater, der auf den umliegenden Höfen Schweine und Kälber schlachtete, seltener mal ein Schaf oder eine Geiß. Immer wieder wurde er auch zu einer Notschlachtung gerufen. Ein Rind hatte sich schwer verletzt, eine Kuh musste abgetan werden. Filomena hatte der Mutter, die als Wäscherin etwas dazuverdiente, stets überall geholfen: Im Haushalt, mit den jüngeren Geschwistern, auch an den Waschtagen, schwankte doch der Verdienst des Vaters als Kundenmetzger. Am Tisch hatte bisweilen Schmalhans das Regime übernommen. Oft aber wurde der Vater von den Bauern in Naturalien bezahlt, Fleisch, Kartoffeln und Gemüse kamen in rauen Mengen auf den Tisch, an Brot aber mangelte es stets.

In ihrer ersten Schwangerschaft gelüstete es Filomena so stark nach Brot, dass sie nicht widerstehen konnte und immer wieder heimlich in der Vorratskammer, direkt hinter der Wirtshausküche gelegen, ein Stück vom Zweikilolaib abschnitt. Sie nahm stark zu. Als das Kind auf der Welt war, ging sie mit ihm zusammen, wann immer sie im Wirtshaus abkömmlich war, in ihr Elternhaus. Ihre Mutter war ganz vernarrt in den Enkel, der gleich um die Ecke wohnte. Auch deshalb und weil sie Ernst nicht stillen konnte, überließ Filomena ihn immer häufiger ihr. Erst recht, als sie nach fünfzehn Monaten erneut schwanger wurde. Ernst hatte gehen gelernt und war im Wirtshaus überall im Weg. Zudem war der Schwiegervater Josef gestorben und Filomena musste Franz häufig bei den Stallarbeiten zur Hand gehen und beim Schneiden von Winterroggen und Sommergerste.