Loe raamatut: «Die Einmischer», lehekülg 3

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Der Konservative dagegen ist verbindlich, pünktlich und was es sonst noch alles für einen Scheiß gibt. Der hat diese komischen Regeln, und wenn du ihn dabei erwischst, dass er sie bricht, gibt es einen Skandal. Die Kirche kriegt Skandale für Dinge, über die eine SPD nur lachen würde. Wenn man nachweisen könnte, dass der SPD-Vorsitzende säuft, hurt und überhaupt keine Prinzipien hat, würde es heißen: Ja, aber er ist charismatisch, und die Leute verbinden den Aufbruch mit ihm. Ein Papst kann sich so etwas nicht erlauben.

Die von der FAZ sagen: Wir sind kosmopolitisch und liberal – man kann hier eigentlich alles schreiben, vorausgesetzt, man erfüllt die und die Standards. Fakt ist: Viele linke Autoren, mit denen ich zu tun hatte, erfüllen diese Standards nicht. Sie müssen unter Existenzbedingungen vor sich hin krebsen, in denen man bestimmte Professionalitäten nicht entwickeln kann. Wann denn? Wie denn?

Als ich zur FAZ kam, war es von Vorteil, dass ich einigermaßen manisch bin. Also, wenn es hieß: Bis 15 Uhr müssen die und die Formalitäten erledigt sein, waren sie es. Ich kann schnell sein und gründlich im Sinne von relativ fehlerfrei. Solche formalen Requirements kann ich ganz gut erfüllen.

Ihre Texte sind in den Jahren bei der FAZ verständlicher geworden, die Sätze kürzer, die Argumente klarer.

In formalen Geschichten verbirgt sich auch inhaltliche Zensur. Wenn gesagt wird: Schreibe klar, kann das heißen: Äußere keinen neuen Gedanken. Klar ist immer, was alle schon kennen. Die Herausforderung ist dann: Wie klar kann ich den neuen Gedanken machen?

Es gibt den klassischen Vorwurf, dass die Linken unverständlich sind. Das kommt aus der Natur ihrer Position. Was sich total verständlich sagen lässt, ist: Alles in Ordnung, weitergehen, es gibt nichts zu sehen. Aber es klingt kompliziert, wenn man sagen muss: Das Vokabular ist noch nicht entwickelt, aber hier … – Kritisiere mal ein System mit der Sprache, die dieses System erfunden hat! Eine andere ist nicht da. Du wirst komisch klingen, stammeln und das Bedürfnis haben, durchs Zitieren akademischer Autoritäten überzukompensieren. Linke Sprache hat diese Laster, weil sie nach etwas tastet, das kein gebrüllter Befehl ist.

So ist das zumindest bei mir. Ich möchte nicht mein ganzes Leben damit verbringen, für Dinge zu agitieren, die ich von meiner Herkunft her selbstverständlich finde. Ständig nur: Kommunismus viel gutt mit zwei t – davon würde ich gaga werden.

Sie haben in der Öffentlichkeit sehr an Bedeutung gewonnen. Bei der FAZ waren Sie noch ein Geheimtipp aus der Subkultur. Heute gelten Sie als engagierter Intellektueller, dessen Stimme Gewicht hat. Wie reflektieren Sie diese Rolle?

Diese Planstelle hat sich sehr verändert. Das schmutzige kleine Geheimnis aller kritischen Intellektuellen, die ich aus den Achtzigern kenne, ist: Sie machten alle möglichen Unterschriftenlisten, waren aber auf jeden Fall gegen den Ostblock. Dieses Kontingent von nachdenklichen Menschen war damals wichtig. Sie mussten irgendwie links sein, also das Gute im Menschen wollen, etwas gegen Franz Josef Strauß und bestimmte Unternehmer sagen, aber auf jeden Fall nicht für die bösen Russen sein. Dafür gab es eine Menge Geld, Aufmerksamkeit und Mikrofone, die man nicht den ganzen Tag vollbrüllen konnte mit: Fresst! Kauft! Arbeitet! Die Streitigkeiten, die heute noch übrig sind, sind weniger große Ideenstreitigkeiten. Es ist nicht mehr so, dass der militärische Gegner des Westens gleichzeitig sein Ideengegner ist. Die Auseinandersetzung mit dem Islam ist ein erkennbar dürftiger Ersatz für all die Debatten um einen Dritten Weg. Niemand sagt heute, es müsse zwischen westlichem Hedonismus und mittelalterlichem Islam einen Dritten Weg geben. Aber von nichts anderem wurde damals geredet als von einem Dritten Weg zwischen dem bösen Ostblock und dem liberalen, aber kalten und unmenschlichen Westen. Diese kritischen Intellektuellen, das war die Abteilung Dritter Weg.

Hedonismus oder Islam – so wird ja gerne auch der Nahostkonflikt diskutiert. Haben Sie zu dem eine Position?

Das musste ja kommen. Palästina, hurra! ist natürlich das große Erbe des Ostblocks. Nirgendwo sitze ich gelangweilter als zwischen allen Stühlen, aber ich sage: Es muss einen Staat geben, der dem Argument entgegensteht, die Juden seien ein staatenloses Volk von Nationenzersetzern. Ich bin also etwas radikaler als Leute, die sagen: Jetzt gibt es das, lasst sie doch leben. In den sogenannten Nullerjahren war ich mehrfach in Israel, habe dort relativ wenige Palästinenser kennengelernt, aber linke Zionisten, linke Postzionisten, whatever. Gelernt habe ich: Gerade, wenn man meint, dass der Staat wichtige Errungenschaften in die Region gebracht hat, sollte man die aufeinanderfolgenden israelischen Regierungen nicht bedingungslos unterstützen. Diese extreme Position ist ein Erbe der Blockkonkurrenz. Da war egal, was ein Deutscher sagte, Ost oder West. Das war nur ein Annex. Heute geht es schnell darum, ob UN-Truppen geschickt werden, mit Bundeswehrkontingent. Positionen wie: Israel bedingungslos unterstützen versus was immer es auf der anderen Seite für einen Wahnsinn gibt, sind da extrem unangemessen.

Das Hinfahren hat die Sache kompliziert gemacht.

Da erzählt eine Frau, die man sehr mag und die bei ihrem Militärdienst in der israelischen Armee ein Peace-Zeichen um den Hals hatte, was sie da so erlebt hat. Und man sagt sich: Okay, die ganzen Debatten, die in Deutschland so stattfinden, bilden nicht ab, was die da gerade erzählt. Es klingt quietistisch, aber die Schnelligkeit, mit der Antideutsche und andere Deutsche zu einer Position kommen, die sie dann relativ faktendicht halten können, ist mir verdächtig.

Geht es am Ende nicht darum, dass Juden überall auf der Welt so wenig was Besonderes sind wie heute in New York?

Die pragmatische Frage ist damit nicht geklärt. Ich spreche mal in einem Gleichnis: Eine schnelle Kritik an der DDR ist die Kritik an der Stasi. Die teile ich. Warum? Die einzige Rechtfertigung für die Stasi ist: Die brauchen wir, sonst bricht das Ding zusammen. Es ist trotzdem zusammengebrochen, also entfällt leider die Rechtfertigung. Wenn mir jemand dartun kann: Die Leute müssen beschnüffelt werden, sonst bricht der Sozialismus zusammen, leuchtet mir das in gewissen Grenzen ein. Warum sollen immer nur die anderen eine Werkspolizei haben? Ich habe kein Problem mit Repression, die ihren Zweck erfüllt. Wenn sie den nicht erfüllt, müssen wir anders nachdenken. Für Maßnahmen der DDR gilt ähnlich wie für Maßnahmen einer israelischen Regierung: Wenn sie das Land schützen, bin ich dafür; wenn nicht, dagegen. Daraus folgt auch: nicht um jeden Preis. Wenn jemand sagt: Einer geht jetzt im Auftrag von Ulbricht nach Washington und zündet dort eine Atombombe, damit die DDR erst mal eine Atempause hat, bin ich nicht dafür. Es geht eben auch um angemessene Mittel. Ich meine: Stasi-Kritik bitte politisch und nicht moralisch und genauso Israel-Kritik bitte politisch und nicht moralisch. Politisch heißt immer: konkrete Situation, Alternativen. Und nicht: Weltanschauung, Foto und dann Scharping, also Bombardierungen.

Noch einmal zurück zu Ihrem erweiterten Wirkungskreis. Sie sind seit kurzem nicht mehr nur in popkulturellen und politischen Kreisen bekannt, sondern auch beim gewöhnlichen Gymnasiallehrer mit Zeit-Abo. Welche Konsequenzen hat das für Sie?

Ich frage mich natürlich schon ein bisschen, ob es mein Job oder Fluch ist, als ein extrem billiger, extrem trashiger, extrem unzulänglicher Gesamt-West-Hacks ab und zu mal auf Umfragen antworten zu dürfen wie: War die DDR vielleicht doch ganz gut? Solche Umfragen erreichen mich schon. Das Schöne ist: »Du bist ja hier der Trash-Hacks!«, das kommt immer nur vom Trash-Heiner-Müller. Ich bekomme diesen Vorwurf nur aus einer sich selbst als links verstehenden Ecke. Die heute Rechten oder die in der Nähe der Zeitung Die Zeit sagen eher so Sachen wie: Ich hab mal kurz auch Marx gelesen … und dann hab ich die Bände alle verkauft, und das war, glaub ich, ein Fehler, die verkauft zu haben und so weiter.

Ich besetze momentan die Stelle von dem Menschen, den man zu den und den Themen anruft. Wenn meine liebe FAZ eine Serie zum Krisenkram macht, werde ich angerufen, wenn das Wort Verstaatlichung vorkommt. So wie ich angerufen werde, weil ein englischer Science-Fiction-Autor gestorben ist. Diese ganze Pressescheiße funktioniert über Zuständigkeiten, die in irgendwelchen Köpfen imaginiert werden. Da bleibt hängen: Der redet in dem Alexander-Kluge-Film Nachrichten aus der ideologischen Antike eine Stunde lang über Marx. Wenn dann eine Glosse zu einem neu aufgetauchten Marx-Foto gebraucht wird, rufen die eher mich an als einen anderen.

Die interessante Frage wäre: Wird man zuständig für das skurrile Wissen des Sozialismus oder darüber hinaus zu so etwas wie Sachfragen vernommen? Der kritische Intellektuelle hat keinen Wert mehr, der über den Exotenwert des scientologischen Schauspielers oder vegetarischen Handballstars hinausgeht. Aber die Rolle des Experten der Rote-Mützen-Sekte im ökumenischen Konzert der komischen Sekten ist okay. Denn selbst da könnte einmal jemand sagen: Dieser Zeuge Jehovas da ist eigentlich ganz vernünftig – das hätte ich gar nicht gedacht von den Zeugen Jehovas.

Haben Sie den Eindruck, dass Ihre politische Resonanz mit dem Bekanntheitsgrad gestiegen ist?

Auf ein Spiegel-Interview hin haben sich Leute bei mir gemeldet, die reale politische Arbeit machen. Das war eine Sternstunde für mich. Wir standen erst einmal relativ hilflos voreinander, weil ich nur sagen konnte: Wenn euch was einfällt, gerne. Sie sagten Sachen wie: Wir haben die Intellektuellen und die Kulturleute nicht auf unserer Seite. Da habe ich geantwortet: Fragt halt.

Es war unglaublich schön, mit diesen Leuten aus politischen Organisationen, die tatsächlich existieren, eine Stunde aneinander vorbeireden zu können und plötzlich zu merken: Die interessiert das. Ich könnte es absolut verstehen, wenn es nicht so wäre. Wenn du zwanzig Jahre lang in der Gewerkschaft bist, bei Lafontaine, irgendwelchen Trotzkisten, der DKP oder in irgendeinem Wahlbündnis gegen eine lokale Schweinerei, dann hast du gewisse Erfahrungen mit den Intellektuellen: Wenn die Fernsehkamera da ist, steht der Intellektuelle dabei, rufst du ihn zwei Wochen später an und die Kamera ist weg, wird es schwierig.

Umgekehrt machen wir Intellektuellen auch so unsere Erfahrungen. Du kommst mit guten Ideen, die zum Teil naiv sein mögen, zu einer Organisation und hörst: Moment, auf unserer Rednerliste stehst du auf Platz 17, aber vorher müssen wir klären, ob hier geraucht werden darf – dann rennst du schreiend davon, weil du denkst: Mein Gott, sind das phantasielose Figuren.

Momentan ist alles sehr zersprengt. Gewerkschaftliche Arbeit, politische Publizistik – das müssen wir alles neu lernen, unter nicht mehr sozialpartnerschaftlichen Bedingungen, sondern wieder antagonistischen. Lange gab es für alles Kanäle, Dialog mit der Jugend und so. Jetzt ist nicht mehr Dialog mit der Jugend, sondern Banlieue. Das muss man alles erst wieder lernen. Ich glaube, der Weg ist relativ weit.

Bücher von Dietmar Dath

Deutschland macht dicht. Roman, 2010

Rosa Luxemburg. Biographie, 2010 (BasisBiographie)

Sämmtliche Gedichte. Roman, 2009

Die Abschaffung der Arten. Roman, 2008

Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift, 2008

Das versteckte Sternbild. Roman, 2007 (unter dem Pseudonym David Dalek)

Waffenwetter. Roman, 2007

Heute keine Konferenz. Texte für die Zeitung, 2007

Dirac. Roman, 2006

Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit. Essays, 2005

Für immer in Honig. Roman, 2005 (Neuauflage 2008)

Höhenrausch. Die Mathematik des XX. Jahrhunderts in zwanzig Gehirnen. Sachbuch, 2003

Nichts legitimiert, dass der Staat zu terroristischen Mitteln greift

Raul Zelik1


Raul Zelik (geb. 1968) lebt nach mehreren Lateinamerika-Aufenthalten seit 1989 als Autor von Romanen, Essays und Reportagen in Berlin. Als Politologe erfüllte er Lehraufträge zur politischen Entwicklung in Bolivien und Venezuela an der FU Berlin und als Gastprofessor an der Nationaluniversität Bogotá in Kolumbien. Zelik verfasste eine Reihe von Beiträgen zur politischen Theorie. Im Baskenland und in Lateinamerika liegen seine publizistischen Arbeitsschwerpunkte. Das Venezuela-Tagebuch »Made in Venezuela« (2004) und der Roman »Berliner Verhältnisse« (2005) sind seine bisher größten Erfolge. Sein Roman »Der bewaffnete Freund« spielt vor dem Hintergrund des baskischen Konflikts auf der Iberischen Halbinsel.

Ein Gespräch über den baskischen Konflikt, politische Gewalt, die Linkspartei in Deutschland und die Entwicklung der Demokratie in Venezuela.

In Ihrem neuen Roman Der bewaffnete Freund ist eine Figur abwesend und zugleich immer präsent: der baskische Autor Joseba Sarrionandia. Was fasziniert Sie an diesem Mann?

Sarrionandia ist ein Schriftsteller, der als Person eine große Ausstrahlung besitzt. Er hatte immer den Drang, politischer Aktivist zu sein. Vor 27 Jahren ist er als ETA-Mitglied ins Gefängnis gekommen, dann geflohen und war eine ganze Weile verschollen. Heute ist er sicher kein aktives Mitglied mehr, er hat sich aber auch nie distanziert, seine politische Haltung nicht aufgegeben. Mit all den Kosten, die das für ihn bedeutet: Er kann deshalb bis heute nicht zurückkehren. Auf der anderen Seite wollte er auch als Aktivist immer schreiben. Das ist eine doppelte Sehnsucht. Petra Elser und ich haben seinen in diesen Tagen im Verlag Blumenbar erscheinenden Roman Der gefrorene Mann übersetzt und dabei gemerkt, auf welch unprätentiöse Weise der Autor ganze Assoziationsuniversen eröffnet. Mich begeistert darüber hinaus, wie er das Baskische als Literatursprache in den sechziger und siebziger Jahren praktisch miterfunden hat. Das literarische Experiment ging einher mit dem politischen. Im Baskenland ist er so etwas wie eine Legende. Er hat als nicht mal Zwanzigjähriger und ETA-Mitglied eine wichtige Literaturzeitung mitbegründet, aus der viele große zeitgenössische Autoren baskischer Sprache hervorgegangen sind.

Was interessiert Sie am baskischen Konflikt?

Man kann im Baskenland sehen, wie in Europa Ausnahmezustände etabliert sind. Man spricht dort davon, dass in den dreißig Jahren seit dem Beginn der Demokratisierung etwa 7000 Menschen gefoltert worden sind. Bei drei Millionen Einwohnern ist das eine wahnsinnig hohe Zahl. Das kann in Europa passieren, ohne dass darüber gesprochen wird. Es darf regelrecht nicht darüber gesprochen werden. Es gibt zwar keine offizielle Zensur, dafür aber andere Ausschlussverfahren. Wenn man versucht, auf diese Dinge hinzuweisen, fällt man aus dem medialen Mainstream raus und hat Veröffentlichungsschwierigkeiten. Diese »Unsagbarkeit« ist auch der Grund, warum das Baskenland im Roman nicht ein einziges Mal beim Namen genannt wird.

Wo nehmen Sie die erschreckenden Zahlen her?

Die Zahlen stammen von Menschenrechtsorganisationen wie der »Torturaren Aurkako Taldea«, der Anti-Folter-Gruppe, aus dem Baskenland. Man kann schon davon ausgehen, dass das realistische Zahlen sind. Auch aus meinem Freundeskreis ist eine ganze Reihe von Leuten gefoltert worden. Die spanischen Kontaktsperregesetze sehen vor, dass man fünf Tage kommunikationslos ist. In dieser Zeit können verschiedene Arten von Misshandlungen systematisch vorgenommen werden.

Sie sagen, dass stabile Staatlichkeit nicht selten selbst der Grund dafür ist, dass Gewalt freigegeben wird. Können Sie das erläutern?

Man kann in den letzten Jahren eine Wiederkehr von Carl Schmitts Thesen zum Ausnahmezustand beobachten. Der autoritäre Staatstheoretiker und NS-Kronjurist gehörte in der BRD zu den wenigen Akademikern, die nach 1945 Lehrverbot hatten. Schmitt behauptete – im Übrigen ähnlich wie Walter Benjamin –, dass staatliche Souveränität, Machtausübung und Rechtsordnung eng mit der Figur des Ausnahmezustands verknüpft sind. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat diese Debatte vor einigen Jahren wieder aufgegriffen und untersucht, wie die »Enthegung der Staatsgewalt«, also der Ausnahmezustand, vor allem nach dem 11. September 2001 zum Paradigma des modernen Regierens wurde. Wenn bei uns die Ermittlungsbehörden immer stärker autonom entscheiden können, wenn der Innenminister einfach so fordern kann, dass die Todesstrafe bei Terrorverdacht und dann noch von Ermittlungsbehörden angewandt werden darf, dann verweist das schon auf eine extreme »Enthegung von Gewalt«. Das Baskenland hat so etwas in den letzten dreißig Jahren schon erlebt.

Erschreckend ist, dass es dort gekoppelt war an den Demokratisierungsprozess, der Spanien in die Europäische Union führte. Es ist permanent und straflos gefoltert worden, und es wurden sogar Todesschwadronen aufgebaut wie in Lateinamerika – unter der Führung der sozialistischen Regierung Felipe González. Offensichtlich mit Wissen und Zustimmung der obersten Staatsorgane legten Terrorkommandos in den 1980er Jahren in Frankreich Bomben und brachten ziemlich wahllos Leute um. Das verweist darauf: Es gibt eine staatliche Seite des Terrorismus. Dadurch werden die ETA-Anschläge nicht besser. Ich finde, an Autobomben gibt es nichts zu verteidigen; selbst wenn nachvollziehbare Gründe vorgebracht werden, um diese Gewalt zu legitimieren. Aber andersherum gilt auch: Nichts legitimiert, dass der Staat zu terroristischen Mitteln greift.

Sie sagen, die Ablehnung von Gewalt ist nicht das Gleiche wie die Befürwortung eines Gewaltmonopols. Wie meinen Sie das?

Walter Benjamins »Kritik der Gewalt« definiert Recht als erfolgreich etablierte, in letzter Instanz aber willkürliche Gewalt. Dem staatlichen Gewaltmonopol muss daher mit großer Skepsis begegnet werden. Es gibt ja viele Leute, die das staatliche Gewaltmonopol für eine zivilisatorische Errungenschaft halten. Ich finde, das ist in dieser Schlichtheit eine falsche These. Damit will ich nicht sagen, dass ein Zustand anstrebenswert wäre, in dem sich diverse Gewalten selber regulieren. Man kennt ja solche Situationen in Slums, zum Beispiel in Lateinamerika. Da gibt es verschiedene bewaffnete Gruppen. Wer sich durchsetzt, hat dann vorübergehend, für ein paar Wochen, ein paar Monate, so etwas wie ein begrenztes Gewaltmonopol.

Das ist natürlich kein erstrebenswerter Zustand. Aber andererseits gibt es genug Hinweise, dass das auch für das staatliche Gewaltmonopol selbst gilt. In lateinamerikanischen Ländern, wo autoritäre Regierungen in den letzten dreißig Jahren versucht haben, sich durchzusetzen – egal ob das nun erfolgreich war oder nicht –, hat das auch zu brutaler, widerlicher Gewalt geführt. Und zum Teil ist diese Gewalt für die Menschen noch unerträglicher als die Herrschaft von Drogen-Gangs. Ich finde, man müsste eine andere Sache diskutieren. Man müsste fragen, wie Gewalt insgesamt gehegt werden kann. Das ist für die Linke eine wichtige Frage, denn es geht ja letztlich darum, wie Gewaltverhältnisse verschwinden. Das ist eines unserer wesentlichen Anliegen. Deswegen ist die Hegung der Gewalt das Ziel. Da gibt es unterschiedliche Dinge, die diskutiert werden müssten. Die Stärkung des Gewaltmonopols ist in der Regel nicht das adäquate Mittel dazu. Heute gibt es ja sogar wieder Leute, die sich von der Befriedungskraft imperialer Gewalt viel versprechen. In Deutschland steht der Politikwissenschaftler Herfried Münkler dafür. Münkler ist insofern eine bemerkenswerte Figur im deutschen Wissenschaftsbetrieb, als er immer noch von vielen Leuten Mitte-Links verortet wird. Dabei ist er jemand, der sich dafür ausspricht, dass Deutschland neoimperiale Politik macht, und sich dazu bekennt, weil jemand ja Ordnungspolitik machen muss. Münkler steht für eine anbiedernde akademische Haltung, die hofft, durch ihre Einflüsterungen bei den Mächtigen Einfluss zu erlangen. Es geht darum, globale Verteilungsordnungen und Machtordnungen zu begründen, die einen großen Teil der Menschheit von der Mitgestaltung, von der Mitbestimmung über die Ressourcen fernhält. Münkler versucht das in seinem Buch Imperien ausführlich damit zu kaschieren, dass er sagt: »Na ja, in den Imperien hat ja auch die Peripherie profitiert. Das Imperium hat versucht, die Peripherie mit hereinzuholen.« Im Grunde macht Münkler so etwas Ähnliches wie Samuel Huntington, nur unbedeutender: Er dient sich den Eliten als Theoretiker der Herrschaft an.

Der bürgerliche Staat birgt eine extreme Form organisierter Gewalt. Was bedeutet das für eine linke, eine emanzipatorische Politik, die sich für die Abschaffung von Herrschaft einsetzt, wenn sie im Rahmen von Staatlichkeit agiert?

Das ist eine große, strategische Frage. Ich würde, wenn es um die Frage der Gewalt geht, zunächst sagen, dass es gut ist, sich nicht auf ein Terrain zu begeben, eine Auseinandersetzung zu suchen, in der der Widerspruch so stark eskaliert. Die Linke hat historisch ja sehr stark in den Kategorien des Gegensatzes und des Widerspruchs, der Zuspitzung der Widersprüche gedacht. Wenn man sich die Geschichte der siebziger Jahre in Westeuropa anschaut, glaube ich, dass sich das zumindest teilweise als Irrtum herausgestellt hat. In Italien etwa gab es eine massenhafte Desertion von Menschen aus Ordnungen heraus, auch eine breit verankerte Massenmilitanz, die sich zum Beispiel in fröhlichen Plünderungen ausdrückte, wie man sie bei Dario Fo nachlesen kann.

Die Militarisierung des Konflikts u. a. durch die Roten Brigaden hat dazu geführt, dass es für die staatliche Macht sehr einfach war, ihre Ordnung wieder zu etablieren. So hat der Krisenstab in Italien sogar versucht, diese dichotomische Zuspitzung zu fördern. Ihnen war es viel angenehmer, einen klaren Gegner wie die Roten Brigaden zu haben, als die diffuse Desertionsbewegung, wie sie Ende der siebziger Jahre für Italien kennzeichnend war. Wenn die Staatsmacht so geschickt darin ist, Gewaltverhältnisse auszubauen, ist es nicht klug, sich auf so ein Feld zu begeben. Mal abgesehen von den furchtbaren menschlichen Kosten, die das ja auch immer nach sich zieht. Die andere Sache, die ich vertreten würde, ist: Ich würde mich nicht so sehr auf die Frage einlassen, ob man sich innerhalb der Staatlichkeit oder gegen sie bewegt. Die Linke sitzt einerseits oft dem Irrtum auf, der Staat sei neutral, man könne ihn einfach reformieren. Sie verkennt dann, dass Staatlichkeit die Institutionalisierung von Herrschaftsverhältnissen ist. Andererseits ist es natürlich auch falsch zu glauben, man würde permanent gegen den Staat stehen. Man kann den Staat durchaus als ein Terrain sehen, auf dem man sich auseinandersetzt. Ich meine damit gar nicht so sehr Politik, sondern Mikroebenen: Wenn man in einer emanzipatorischen Weise städtische Sozialarbeit macht, die ja Teil von Staatlichkeit ist, kann das Gesellschaft verändern. Man steht also nicht konsequent außerhalb. Der Staat ist ein facettenreiches und widersprüchliches Feld, auf dem man sich illusionslos bewegen muss. Er integriert eine Fülle von Meinungen und Optionen. Zum Beispiel bildet sich Widerstand gegen autoritäre Bewegungen im Staat oft auch im Staatsapparat selbst heraus. Um so etwas zu begreifen, braucht es eine komplexe Staatstheorie.

Wie schätzen Sie die Rolle der Partei Die Linke im Hinblick auf emanzipatorische Veränderungsprozesse ein?

Ich bin einerseits skeptisch wegen der Zusammensetzung der Partei aus sozialdemokratischen Gewerkschaftseliten und einer staatssozialistischen DDR-Linken. Das sind aus meiner Perspektive nicht unbedingt Träger eines antiautoritären Emanzipationsprozesses. Auf der anderen Seite aber muss man sehen: Wenn Dinge zusammenkommen, sind Umformierungen möglich. Was neu entsteht, kann mehr sein als die Summe der beiden Teile. Ich finde einige Sachen, die in letzter Zeit vertreten worden sind, auch durchaus positiv. Zum Beispiel haben Oskar Lafontaine und Katja Kipping in der Diskussion um die Gewalt während der Proteste gegen den G8-Gipfel in Rostock einen klaren Kopf bewahrt und nicht eingestimmt in den Chor, der meinte, sich distanzieren zu müssen. Sie haben gesagt, wir wollen nicht nur über ein abgebranntes Auto reden, sondern darüber, welche Gewalt von den Leuten hinter dem Zaun ausgeht. Das haben selbst viele Leute der Interventionistischen Linken nicht so deutlich gesagt. Positiv finde ich zudem, dass die Linkspartei heute die Gewerkschaften unter Druck setzt, sich aus ihrer Umklammerung durch die Sozialdemokratie zu lösen. Solange man nicht glaubt, dass es sich um Träger eines anderen Politikmodells handelt, kann man sicherlich mit einigen Leuten in dieser Partei sehr sinnvoll zusammenarbeiten. Einige Leute machen sehr gute Arbeit. Um einen Bereich zu nennen, in dem ich mich auskenne: Wenn heute im Rahmen der Lateinamerika-Arbeit versucht wird, die Kolumbien-Initiativen zusammenzubringen, wird auch die außerparlamentarische Politik gestärkt.

Sie beschäftigen sich intensiv mit Venezuela. Welche Rolle spielt dort der Staat im Hinblick auf die Entwicklung einer partizipativen Demokratie?

Die Veränderungen waren nicht erst das Ergebnis der Regierungsübernahme durch Hugo Chávez. Bereits in den 1970er Jahren bildeten sich Stadtteilprojekte und vielfältige Netzwerke, die allerdings nicht sehr groß waren. Alternative Medien und Piratensender haben aber sehr interessante Impulse in die venezolanische Gesellschaft gesendet. Polizei, Militär und aufständische Plünderer, die sich noch 1989 bei den Unruhen als Feinde gegenüberstanden, bildeten dann in den neunziger Jahren wichtige Allianzen, die Chávez erst hervorgebracht haben. In diesem Prozess sind die Grenzen zwischen radikal und reformistisch weitgehend verwischt. Christlich inspirierte Leute, genossenschaftlich orientierte Leute mit sozialliberalem Hintergrund entwickelten zum Teil sehr radikale Ideen. Andererseits verteidigten klassische Marxisten plötzlich eine ziemlich zweifelhafte Wohlfahrtspolitik.

Autoren wie Gilles Deleuze oder Michel Foucault haben Begriffe entwickelt, mit denen sich solche Phänomene vielleicht als facettenreiche Prozesse der Verkettung begreifen lassen, die reich sind an unerwarteten Überschlägen und Querverbindungen. Viele Nachbarschaftsprojekte, die wir als anarchisch beschreiben würden, sind daraus entstanden, dass aus dem Maoismus oder Guevarismus hervorgegangene Kader ihre Organisation verließen oder ihre Gruppen sich aufgelöst hatten und sie ihre politische Arbeit in Nachbarschaftsprojekten fortsetzten. Wie sie das erklären, ist oft unglaublich dogmatisch, ihre Praxis aber überhaupt nicht.

Die Regierung Chávez hat diese Öffnung des politischen Raumes zwischen 1999 bis 2001 unterstützt, indem sie die bis dahin vorherrschende staatliche Repression beendete. Als sie 2002/​2003 von der Massenmobilisierung durch die Aktiven in den Basisnetzwerken mehrfach vor dem Kollaps, das heißt: den Umsturzversuchen durch die Opposition, gerettet wurde, begann sie Reformprogramme, um die Basisorganisationen zu stärken und neue zu schaffen. Die Gesundheitskampagne funktionierte zum Beispiel anfangs nicht über staatliche Behörden, sondern über selbstorganisierte Gesundheitskomitees in den Nachbarschaften. Das hat die Partizipation der Bevölkerung gestärkt. Heute wird dieser Impuls von der paternalistischen Politik des Staates teilweise aber wieder unterbrochen. Wichtige Aktivisten der Basisbewegungen arbeiten heute in den Behörden, ihre ehemaligen Basisorganisationen sind schon dadurch geschwächt. Der Staat bindet die sozialen Bewegungen an sich und verhindert damit unabhängige Entwicklungen.

Sie haben mit einer Reihe von Regierungsmitgliedern gesprochen, die jetzt nicht mehr im Amt sind. Was haben Sie von denen erfahren?

Leute wie der 2005 entlassene Wohnungsbauminister Julio Montes oder die 2003 entlassenen Planungsminister Felipe Pérez und Roland Denis haben mit Modellen der Ko-Regierung experimentiert. Sie haben versucht, Stadtteilbauprojekte gemeinsam mit Barrio-Bewohnern zu organisieren. Bei öffentlichen Baumaßnahmen ist die soziale Kontrolle der einzige wirksame Schutz gegen Korruption. Vor diesem Hintergrund hatte zum Beispiel Montes die Großprojekte zunächst einmal gestoppt. Das ist von Chávez öffentlich kritisiert worden, weil anstatt von, ich nenne jetzt mal eine Hausnummer, statt der 180 000 für das Jahr geplanten Wohneinheiten nur 25 000 gebaut wurden. Das quantitative Wachstum wurde in alter staatssozialistischer Manier höher bewertet als das qualitative Wachstum. Das war nicht so erfreulich. Andererseits habe ich aber von fast allen Regierungsmitgliedern, die ich interviewt habe, zum Beispiel Exvizepräsident José Vicente Rangel, eigentlich ein ganz gutes Bild. Auch von Chávez. Er versucht in seiner Fernsehsendung, kritisches linkes Denken von Leuten wie Antonio Gramsci oder Paulo Freire breiter bekannt zu machen. Das Problem liegt nicht so sehr bei den Personen. Ich glaube, dass das eine zentrale Lehre des Realsozialismus ist. Es geht nicht darum, ob einzelne Leute gut oder schlecht sind, sondern um strukturelle Beziehungen.

Die Diskussion in den bürgerlichen Medien, dass Venezuela keine Demokratie sei, weil der private Fernsehsender RCTV die Lizenz nicht mehr bekommen hat, ist natürlich eine Farce. Es gäbe ja nichts Demokratisierenderes, als wenn ein Nachbarschaftsfernsehen eine private Lizenz übernimmt. Bedenklich sind die Bestrebungen, die Gesellschaft in jeder Hinsicht führen zu wollen. Im Gewerkschaftsdachverband UNT wird zum Beispiel gerade versucht, jene Strömungen auf Linie zu bringen, die die UNT als autonome Klassengewerkschaft betrachten. Ich finde das verheerend. Auch unter einer linken Regierung müssen Interessen von Unterdrückten autonom durch Kämpfe durchgesetzt werden, denn auch die sozialen Konfliktlinien zwischen den Klassen sind ja nach wie vor vorhanden.

Tasuta katkend on lõppenud.

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