Loe raamatut: «Veyron Swift und das Juwel des Feuers», lehekülg 4

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Tom bekam es ein wenig mit der Angst zu tun. Der Gedanke, dass da irgendwo in London ein Unhold unterwegs war, der ein Zauberschwert bei sich trug, behagte ihm gar nicht.

Veyron untersuchte den Schreibtisch, öffnete die Schubladen und blätterte den Terminkalender und die Korrespondenz des Professors durch. Gregson sah ihm dabei nur neugierig zu, während Willkins ungehalten die Arme verschränkte. Tom machte es sich derweil auf einem nahen Plüschsofa gemütlich. Ihn hatten die Erwachsenen fürs Erste vergessen. Zum Glück! So konnte er nun in Ruhe alles beobachten.

»Sarah Burrows, unsere Geköpfte von letzter Nacht, war Darings Sekretärin. Dass alle beide durch außernatürliche Kräfte ums Leben kamen, ist besorgniserregend. Es muss eine Verbindung geben. Die kann nur Folgende sein: Der Professor war im Besitz von Informationen, die für den Mörder eine Gefahr bedeuteten. Informationen, die der Professor an jemanden weitergeben wollte. Darum musste Miss Burrows sterben. Sie war für die Korrespondenz des Professors zuständig, vereinbarte Termine und erledigte allen geschäftlichen Schreibkram. Für unseren Täter war es nur logisch, anzunehmen, dass sie diese brisanten Nachrichten auch nach Darings Tod an Darings Kontakte weitergeben würde. Daring besitzt keinen Computer, nirgendwo im ganzen Haus. Und wenn man sich hier so umsieht, wusste er mit moderner Elektronik wohl auch nichts anzufangen. Er tippte noch immer – vollkommen anachronistisch – auf einer Schreibmaschine. Also war er auch bei der Übermittlung von Nachrichten auf die althergebrachten Methoden angewiesen.

Unser Täter wusste das. Deshalb tötete er Miss Burrows in der Hoffnung, die brisante Nachricht abzufangen. Das arme Mädchen war jedoch gar nicht in ihrem Besitz. Also war als Nächstes Daring an der Reihe. Offenbar war er für den Mörder die größere Gefahr, weswegen er nicht wieder seine Riesenbestie einsetzte, sondern diesmal selbst Hand anlegte. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wen der Professor eigentlich warnen wollte – und weswegen. Eventuell können wir das nächste potenzielle Opfer unseres Freundes mit dem Flammenschwert – ich nenne ihn jetzt mal Joe – identifizieren und warnen«, schlussfolgerte Veyron blitzschnell. Er schloss die Schubladen wieder und sah sich weiter um.

Gregson und Jane schenkten sich ratlose Blicke. Tom schaute neugierig zu, wie Veyron mit nervös herumzuckenden Händen den Schreibtisch durchsuchte, als wären seine Finger Fühler, die – Sensoren gleich – in der Lage waren, von allein das Gesuchte aufzuspüren.

»Woher wissen Sie, dass er jemanden warnen wollte? Vielleicht hat Flammenschwert-Joe die Quelle der Gefahr mit dem Mord an Daring bereits zum Schweigen gebracht«, meinte Gregson.

Veyron schüttelte nur den Kopf. Nacheinander deutete er auf das Arbeitszimmer, die Wände, die Vitrinen, die Plüschmöbel und zuletzt auf den toten Professor. »Schauen Sie sich um: Nichts ist zerstört, nichts aufgebrochen und durchwühlt. Alles wurde feinsäuberlich so belassen wie vor dem Mord. Ich stelle mir das Ganze so vor: Joe verschafft sich Zugang zum Haus. Wahrscheinlich weiß der Professor bereits, dass er kommen wird, hat es aus dem grausamen Tod seiner Sekretärin geschlossen. Joe fürchtet die Stärke des Professors, darum muss er diese Tat selbst ausführen. Niemand sonst hätte Aussicht auf Erfolg und in engen Räumen kann er seine Bestie ja schlecht einsetzen. Doch der Professor ist gewarnt und erwartet seinen Feind im Arbeitszimmer. Er sitzt hinter dem Schreibtisch, begrüßt Joe, als dieser hereinkommt, und informiert ihn, dass es zu spät ist. Die brisante Information wurde bereits weitergegeben. Joe packt die Wut, denn seine Machenschaften drohen zu scheitern. Er ist ein böswilliger Kerl, der – wie seine Kreatur – zu schrecklicher Gewalt neigt. Die arme Miss Burrows könnte das sicher bestätigen, säße ihr der Kopf noch auf den Schultern. Joe zieht sein Schwert, sticht es dem Professor durchs Herz. Daring hat den Tod jedoch erwartet; er leistet keine Gegenwehr. Wahrscheinlich weiß er, dass er Joe nicht gewachsen ist. Er ist allerdings zuversichtlich, dass jemand anderes Joe zur Strecke bringen wird – mit der Information, die er rechtzeitig weiterleiten konnte.

Joe dagegen erkennt, dass er einen Fehler begangen hat, einen entscheidenden Fehler. Die Zeit läuft ihm davon. Er ahnt, wen der Professor benachrichtigt hat. Es kann nur ein ausgesprochen kleiner Zirkel von Leuten sein, von Joe längst ausgespäht und beobachtet. Er bricht auf, verlässt unverzüglich das Haus des Professors, ohne die Akten zu durchwühlen oder weitere Zerstörung anzurichten. Er muss schnell handeln, seine Pläne sind in Gefahr.«

Alle waren still, als Veyron seine Ausführungen beendete. Gregson rieb sich gestresst die Augen. »Selbst wenn Sie mit Ihren Annahmen recht haben, fehlt uns noch immer jegliche Spur zum Täter. Darings Mörder hat nirgendwo Finger- oder Fußabdrücke hinterlassen. Wir können nicht einmal seine nächsten potenziellen Opfer warnen. Wem Daring diese brisanten Informationen gegeben haben könnte, wissen wir nicht«, meinte er ein wenig vorwurfsvoll.

Veyron ließ sich davon jedoch kaum in seiner Begeisterung für den Fall bremsen. Er nahm einfach eines der Notizbücher des Professors zur Hand und schlug es auf.

Gregson stöhnte aufgebracht. »Sie sollen doch am Tatort nichts verändern! Und schon gar nichts anfassen!«

Veyron zuckte in gleichgültiger Geste mit den Schultern. »Ein unwichtiger Einwand, mein lieber Gregson. Viel wichtiger ist dagegen ein Blick in den Terminkalender. Der verrät uns nämlich einiges. Professor Daring traf sich in den letzten zwei Wochen nur mit sehr wenigen Leuten, zumeist ehemaligen Professorenkollegen oder Vertretern von Universitäten. Allerdings taucht in diesem Terminkalender immer wieder ein Name auf, der mir regelrecht ins Auge sticht: Nagamoto Tatsuya. Daring rief ihn in den letzten zwei Wochen öfter an. Das ist zweifellos unser Mann«, meinte er lapidar und klappte den Terminkalender des Professors wieder zu.

»Sie wissen jetzt, wer oder was der Mörder ist. Er ist nicht von dieser Welt, also werden Sie ihn kaum in London ausfindig machen. Geschweige denn, dass Ihre lächerlichen Schusswaffen für ihn eine Gefahr sein würden. Der Kerl rennt mit einem Flammenschwert herum, und er besitzt die Kontrolle über ein Monster, das einem den Kopf abbeißt. Wenn ich mich nicht irre, befindet sich Flammenschwert-Joe in diesem Moment auf dem Weg in die Vereinigten Staaten von Amerika. Dort ist nämlich der Sitz der Energreen Corporation.«

»Einen Moment!«, protestierte Jane. »Was hat die Energreen Corporation damit zu tun? Woher wollen Sie überhaupt wissen, dass Nagamoto Darings Kontakt ist? Es könnte auch jeder andere aus dem Kalender sein.«

Veyron seufzte enttäuscht und drückte sich für einen Moment mit Daumen und Zeigefinger die Augenlider zu. »Willkins, Willkins, Willkins … Da fällt mir spontan Tolkien ein: Am besten, Sie gehen wieder ins Bett, Ihr Verstand schläft nämlich noch! Nagamoto Tatsuya, oder Tatsuya Nagamoto – wenn Ihnen die europäische Schreibung seines Namens geläufiger sein sollte – ist der stellvertretende Vorsitzende eines Energiekonzerns, der Energreen Corporation. Die verkaufen Strom aus Solar-, Wind- und Wasserkraft. Ich habe davon in der Zeitung gelesen, weil Energreen eine feindliche Übernahme durch einen Hedge Fonds droht, Borgin & Bronx, wenn ich mich recht erinnere. Nagamoto ist also nicht gerade der typische Gesprächspartner für einen alten Bücherwurm wie Daring, der sich vornehmlich für Kunst, germanische und keltische Mythen und gutes Essen interessiert. Haben Sie etwa noch keinen Blick auf die Bücher geworfen, die hier überall in den Vitrinen stehen? Mit Energiewirtschaft hatte Daring wirklich nichts am Hut. Warum also taucht in seinen Aufzeichnungen ständig ein Energiemanager auf? Ganz klar: Weil Nagamoto Darings Vertrauter ist. Damit ist er unser Mann! Vergessen Sie außerdem diese Blitzerscheinungen am Himmel nicht.«

Jane und Gregson schauten sich verblüfft an, und dann zu Tom, der jedoch in ratloser Geste mit den Schultern zuckte. Veyron atmete tief durch und verdrehte entnervt die Augen. Vermutlich konnte er nicht fassen, wie sechs Augen und drei Gehirne gleichzeitig so wenig begriffen. Er zückte sein Smartphone und tippte wie verrückt darauf herum, während er in ungeduldigem Tonfall und mit rasender Geschwindigkeit sprach. »Diese seltsamen, gewitterfreien Blitze, die seit vierzehn Tagen unregelmäßig von verschiedenen Piloten beobachtet wurden. Seit ihrem ersten Auftauchen über dem Atlantik telefonierte Daring ständig mit Nagamoto. Sie konferierten darüber. Im Terminkalender steht es eindeutig. Nagamoto. Wegen Blitzerscheinungen. Steht da überall. Haben Sie das übersehen? Ist Nagamoto Meteorologe? Nein, er verkauft Solarstrom und hat Betriebswirtschaft studiert. Das verrät mir seine Vita auf der Energreen-Homepage. Vielleicht sollten Sie besser alle wieder ins Bett gehen.«

Gregson hob beruhigend die Hände. Er ging zu Veyron und klopfte ihm anerkennend auf den Rücken. »Schon gut, schon gut. Sie haben gewonnen. Gute Arbeit, wirklich. Also, Nagamoto ist unser Mann. Was haben Sie jetzt vor?«

Als Antwort darauf eilte Veyron nach draußen, packte im Vorbeigehen Tom und zog ihn hinter sich her. »Ich fliege nach New York – und zwar auf der Stelle. Tom kommt mit mir. Sie können derweil nach einem riesigen, insektenähnlichen Wesen Ausschau halten. Fragen Sie die Bauern in Londons Norden. Da haben einige gewiss was Ungewöhnliches gesehen oder gehört. Wahrscheinlich haben die gedacht, sie seien verrückt. Lassen Sie Ihre Leute mit schweren Waffen ausrüsten, das Ding ist riesig und sehr gefährlich. Damit meine ich nicht einen dummen Troll. Widerstehen Sie außerdem der Versuchung, vorschnell mit Nagamoto Kontakt aufzunehmen. Wir wissen nicht, ob seine Leitung abgehört wird. Jedes Wort von Ihnen könnte unserem Gegner einen Vorteil verschaffen und Nagamoto gefährden. Ich werde ihn selbst aufsuchen und Sie dann auf dem Laufenden halten. Derweil können Sie die anderen Kontakte aus seinem Terminkalender abklappern – auch wenn das wahrscheinlich nichts bringen wird. Aber Vorschriften sind Vorschriften. Also dann, weiter geht’s mit Schwung!«

Kurz darauf saßen Tom und Veyron wieder in einem Black Cab und fuhren in Richtung Flughafen. Tom beklagte, dass er keinerlei Gepäck dabeihatte, noch nicht einmal was zum Anziehen. Für Veyron war dies das geringste Problem. Sie würden sich am Flughafen das Nötigste für den Überflug besorgen und sich Ersatzkleidung in New York kaufen. Tom war einverstanden, bis ihm in den Sinn kam, dass er überhaupt kein Geld besaß.

Veyron winkte jedoch ab. »Keine Sorge, ich bezahle alles. Hauptsache, wir kommen baldmöglichst nach New York. Wir könnten jetzt wirklich ein sehr schnelles Flugzeug gebrauchen. Zu dumm, dass es davon kaum welche gibt. Flammenschwert-Joe hat mindestens fünf Stunden Vorsprung. Garantiert hat er die erste Maschine genommen und den Atlantik inzwischen zur Hälfte überquert. Wir werden ihn nicht mehr einholen. Mit etwas Glück ist Nagamoto vorgewarnt und wird Vorsichtsmaßnahmen treffen«, sagte er, lehnte sich zurück und verfiel wieder in sein stilles Grübeln.

Wer konnte erahnen, welche Gedanken durch sein Gehirn schossen, wie viele Theorien und Möglichkeitsvarianten er gleichzeitig ersann, überprüfte und wieder verwarf? Zumindest ist es in seinem Kopf nicht langweilig, dachte Tom mit einer Mischung aus Respekt und Ehrfurcht. Er hatte England noch nie in seinem Leben verlassen, und morgen wäre er mit einem Mal in New York. Das kam alles ein bisschen plötzlich und erschien ihm sehr abenteuerlich.

Veyron erriet seine Gedanken (vermutlich las er sie einfach Toms besorgtem Gesichtsausdruck ab). Er lächelte beruhigend. »Wir sind rechtzeitig bis Schulanfang wieder zurück, das versichere ich dir. Falls es dennoch Verspätungen gibt, werde ich Willkins benachrichtigen.«

Tom grinste vor Begeisterung von einem Ohr zum anderen. »Eigentlich sind Sie gar nicht so übel, wenn man Sie mal ein bisschen näher kennt«, meinte er.

Veyron seufzte. »Lass das nicht Willkins wissen. Du könntest dich da bei ihr glatt unbeliebt machen. Ich versuche lediglich, effizient zu sein, Tom. Effizienz bedeutet in vielen Fällen Geschwindigkeit. Und deshalb kann ich es mir nicht leisten, auf die Gefühle anderer Menschen großartig Rücksicht zu nehmen. Darauf zu achten, wer durch welches Wort wann und wie beleidigt wird, ist Zeitverschwendung und bringt uns alle in der Sache nicht voran. Wie du siehst, drängt die Zeit, wenn Leben in Gefahr sind. Ich hoffe, Willkins wird das eines Tages verstehen, und du ebenfalls. Deshalb nehme ich dich auf dieses Abenteuer mit. Ich bin davon überzeugt, dass ich mich auf dich verlassen kann, wenn’s darauf ankommt.«

Tom glühte vor Verlegenheit und wusste gar nicht, was er jetzt sagen sollte.

Veyron gestattete sich ein kleines, spitzbübisches Lächeln, griff in seine Manteltasche und kramte darin herum. »Hier, ein kleines Geschenk«, sagte er und hielt Tom einen weißen Briefumschlag hin. Das Kuvert zierten lediglich ein paar Worte am unteren rechten Eck. Mit kunstvollen, geschwungenen Buchstaben, per Hand geschrieben, stand dort eine Adresse.

»Was ist das?«

»Korrespondenz von Professor Daring.«

»An die Weiße Königin«, las Tom vor und blickte verdutzt zu Veyron. »Haben Sie das etwa vom Tatort mitgehen lassen?«, fragte er erschrocken.

Veyron blieb ihm die Antwort schuldig, aber die Wahrheit war ja offensichtlich. »Mach ihn auf, er ist nicht verschlossen.«

Tom öffnete den Umschlag und holte einen sauber zusammengelegten Briefbogen heraus. Er faltete ihn auseinander und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Das Papier war vollkommen leer. »Ist ja komisch. Warum steckt Daring ein leeres Blatt ins Kuvert?«, fragte er und reichte das Papier an Veyron.

Der hielt es gegen die Scheibe und untersuchte es genau. »Sehr teures Papier, wie es in keinem normalen Büro verwendet wird. Darauf schreibt man keine Geschäftsbriefe; der Adressat muss also jemand Besonderes sein, jemand, den Daring tief verehrt hat. Allein schon die Qualität des Papiers ist Liebesbeweis genug.« Er drückte das Blatt an die Scheibe und ging mit seinen Augen ganz nah heran, kratzte mit dem Fingernagel über das Dokument. »Es wurde beschrieben. Mit Zaubertinte, würde ich spontan sagen. Ich kann feine Linien ausmachen, die wohl Buchstaben sind. Sehr wahrscheinlich eine geheime Botschaft für die Weiße Königin, wer immer das sein mag. Sicher der Deckname für Darings Geheimkontakt, eventuell Nagamoto oder jemand anderes. Wenn wir wieder zu Hause sind oder sonst irgendwo Zugang zu einem chemischen Labor haben, werden wir sie genau untersuchen und herausfinden, wie man diese Tinte wieder sichtbar macht«, sagte Veyron, faltete das Papier zusammen und reichte es zurück an Tom. »Das ist sehr wichtig, Tom. Bewahre den Brief gut auf, trage ihn immer bei dir. Sehr wahrscheinlich hängen Menschenleben davon ab, eventuell sogar noch weitaus mehr. Ich bin überzeugt, dass wir gerade dabei sind, eine riesige Verschwörung aufzudecken.«

Tom steckte den Brief zurück in den Umschlag und verwahrte ihn sicher in der Innentasche seiner Jacke. Gerade wollte er Veyron versichern, dass niemand außer dem Tod ihm diesen Brief abnehmen könnte, als sein Patenonkel auch schon wieder das Wort ergriff.

»Ich habe es Gregson nicht gesagt, aber ich konnte noch mehr Hinweise in der Korrespondenz des Professors finden. Sagt dir das Juwel des Feuers etwas?«

Tom schüttelte den Kopf. »Noch nie gehört. Klingt wertvoll. Wissen Sie mehr? Natürlich wissen Sie mehr, Sie wissen immer mehr.«

Veyron lachte kurz, lehnte sich zurück und dachte kurz nach. »Ich fürchte, ich kann mich nur auf das berufen, was Rashton dazu in seinen Büchern schrieb. Vor langer Zeit gab es in Elderwelt einmal sieben magische Juwelen. Sie wurden die Nuyenin-Steine genannt. Zwei Juwelen dienten dem Wissen und dem Leben, vier den Elementen, darunter das besagte Juwel des Feuers. Dann gab es noch einen Meisterstein, durch den die Kraft aller gebündelt werden konnte. Ihre Macht war verheerend. Armeen konnte man mit ihnen vernichten, Seen austrocknen und sogar Berge einstürzen lassen. Länder wurden verwüstet und ganze Völker ausgelöscht. Soweit die Überlieferungen vollständig sind, gab es keine schrecklichere Macht in Elderwelt«, erklärte Veyron schließlich.

Tom schnappte nach Luft und krallte sich in den Filz der Sitzbank. »Was ist mit den Juwelen geschehen?«, fragte er aufgeregt.

»Sie galten als verschollen – bis heute. Offenbar sind jetzt Spuren davon aufgetaucht. Zumindest war es dem Professor sehr wichtig, mehr darüber zu erfahren. Ich bin davon überzeugt, dass Flammenschwert-Joe hinter den gleichen Informationen her ist. Nach allem, was wir von diesem Schurken wissen, sollte uns der Gedanke nicht gefallen, dass er das Juwel des Feuers zuerst findet. Nein, das müssen wir auf jeden Fall verhindern.« Veyron tauchte wieder in die undurchschaubare Welt seiner Gedanken ab. Mit starren Augen blickte er aus dem Fenster und nahm seine Umwelt nicht mehr weiter wahr.

Eine Stunde später befanden sich bereits auf dem Weg nach New York.

3. Kapitel: Mr. Nagamoto

New York war dieser Tage kein besonders reizvoller Ort. Die Stadt versank in Regen; überall an den Straßenrändern bildeten sich kleine Bäche, die – mal schneller, mal langsamer – in die Kanalöffnungen flossen, Folgen eines Sturmtiefs, das sich seit Tagen über der Atlantikküste austobte und einfach nicht nachlassen wollte.

Nagamoto Tatsuya blickte nach draußen. Regen trommelte gegen die großen Aussichtsfenster seines Büros im dreizehnten Stock, und seine Stimmung glich dem Bleigrau des Himmels. Das Gewicht der Welt schien derzeit auf seinen Schultern zu lasten. Er musste sich der Versuche erwehren, das Unternehmen, für das er verantwortlich war, an Borgin & Bronx zu verlieren, ein ebenso reicher wie wegen seines Geschäftsgebarens gefürchteter Hedge Fonds. Hinzu kamen noch seine Gedanken, die unentwegt um Professor Lewis Daring kreisten. Die Sache mit dem Juwel des Feuers wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Am liebsten wäre er sofort nach London aufgebrochen, um die Suche dort fortzusetzen, wo er sie vor zwei Wochen abgebrochen hatte. Zuvor musste er jedoch diese Sache mit Borgin & Bronx hinter sich bringen. Die Beschäftigung mit dieser profanen Angelegenheit war ihm fast zuwider, denn im Verborgenen waren Dinge im Begriff zu geschehen, welche die ganze Welt für immer verändern würden. Die Zeit lief ihm davon! Stattdessen musste er sich mit einer Bande habgieriger Manager herumschlagen, denen jedes legale – und auch illegale – Mittel recht war, um ihre Hälse vollzustopfen.

Die treibende Kraft hinter Borgin & Bronx war dessen Hauptanteilseigner, ein Mann mit Namen H. G. W. Morgan, den angeblich noch niemand zu Gesicht bekommen hatte. Der Mann schien ein Phantom zu sein. Schon seit einer ganzen Weile versuchte Nagamoto mehr über diesen Morgan zu erfahren, doch wohin er sich auch wandte, er stieß immer nur auf Anwälte und Notare, die im Auftrag von Mr. Morgan handelten. Zumindest die Vorstände von Borgin & Bronx schienen ihn persönlich zu kennen, aber sie hüteten sich, auch nur ein Wort über ihn zu verlieren. Es war dieser Morgan, der dem Hedge Fonds seine Unternehmensphilosophie aufgezwungen hatte.

Borgin & Bronx kauften lukrative Unternehmen (meist mit Kapital, das sie sich für günstige Zinsen bei anderen Investmenthäusern liehen), übernahmen die Aktienmehrheit und setzten weitreichende Restrukturierungsmaßnahmen durch. Mitarbeiter wurden zu Tausenden entlassen, Standorte geschlossen. Aus dem Unternehmen wurde jeder Cent herausgequetscht, der sich irgendwie einsparen ließ. Der Gewinn wurde maximiert – bei sinkenden Ausgaben und bei durchaus kalkuliert sinkender Wirtschaftsfähigkeit. Das ging so lange (meistens drei bis fünf Jahre), bis Borgin & Bronx ihre Investition refinanziert und nebenbei Dividenden kassiert hatten. Dem Hedge Fonds ging es allein um die Rendite. Wenn alles aus einem Unternehmen rausgesaugt war, wurde es zerschlagen, und war diese »Restrukturierung« erst abgeschlossen, zogen sich Borgin & Bronx aus dem Unternehmen zurück. Die rentablen Anteile wurden gewinnbringend verkauft, während das Eigenkapital vorher aus den unrentablen Teilen abgezogen wurde. Der klägliche Rest des Unternehmens ging in die Insolvenz, zu der dann Borgin & Bronx nichts mehr beitragen mussten.

Eine Bande von Vampiren. Die saugen einem das letzte Blut aus, dachte Nagamoto. Er war vor fünfzig Jahren in Osaka geboren und erst seit zehn Jahren in den Vereinigten Staaten tätig. Englisch sprach er noch immer mit Akzent, doch das gefiel ihm. Er bemühte sich auch gar nicht, seine Aussprache zu verbessern. Auf diese Weise wurde er von vielen Gegnern unterschätzt – was sich bisher stets zu seinem Vorteil ausgewirkt hatte. Seine stattliche Erscheinung, sein kantiges Gesicht mit den dunklen, vor Entschlossenheit leuchtenden Augen und dem schmalen Oberlippenbart ließen ihn wie einen grimmigen Samurai wirken, das wusste er. Manche behaupteten ihm gegenüber sogar, ohne Schlips und Anzug, könnte man ihn sich ansonsten nur mit Rüstung und Schwert vorstellen. Seine stattliche Erscheinung und sein höfliches, aber bestimmendes Auftreten verliehen ihm eine Aura des Respekts und der Autorität, die er geschickt einzusetzen wusste. Es gab nicht viele, die sich nicht sofort erhoben, wenn er den Raum betrat. Noch weniger Menschen gab es, die es wagten, sich ihm offen entgegenzustellen.

Vampirfonds. Dieser Ausdruck war genau richtig für Borgin & Bronx und traf es seiner Meinung nach besser als jeder andere Begriff für solche Ausbeuter. Jetzt war ausgerechnet die Energreen Corporation in den Fokus dieser modernen Vampire geraten. Bislang hatte Nagamoto als Mitglied des Vorstandes den Aktionären und auch dem Aufsichtsrat einen Verkauf ausreden können. Aber Borgin & Bronx gaben sich nur selten mit einem »Nein« zufrieden. Wo ein Kaufangebot als Argument nicht genügte, da trumpften sie plötzlich mit zahlreichen Annehmlichkeiten für das Management auf. Extra-Anteilspakete zum Vorzugspreis, lukrative Folgeverträge für ein »Ja« zum Verkauf. Kostenlose Urlaubsreisen zu jedem Ziel der Welt, Bordellbesuche, Luxuslimousinen, Privatjets, Villen, Jachten – Borgin & Bronx zeigten sich sehr spendabel, wenn sie etwas unbedingt haben wollten – und das war derzeit die Energreen Corporation.

Energreen war vor zwanzig Jahren als Anbieter alternativer, ökologischer Energie an den Markt gegangen. Nagamoto arbeitete schon damals bei der Firma, zunächst in Japan, danach in Australien und später lange in Europa. Seit zehn Jahren war er Mitglied des Vorstands mit Büro in New York. Er liebte Energreen. Es war eine gute Sache, für die dieses Unternehmen stand, das selbst nach zwanzig Jahren seiner Gründerphilosophie treu blieb: die Welt von morgen zu verbessern. Nagamoto bezweifelte, dass es viele Unternehmen von der Größe Energreens gab, die so viel für die Allgemeinheit taten. So hatte Energreen vor Jahren schon riesige Flächen Urwald in Südamerika und Afrika gekauft und erhalten, Milliarden in die Renovierung von Armenvierteln investiert und schulische Weiterentwicklungsprojekte überall auf der Welt ins Leben gerufen. Das alles war nun in Gefahr.

Borgin & Bronx hatten eine ihrer Geheimwaffen geschickt: Jessica Reed. Nagamoto hatte es noch mit nie einer Gegnerin wie ihr zu tun gehabt. Selbst wenn er ihren Versuchen, ihn über den Tisch zu ziehen, durchaus standzuhalten vermochte, so war er sich nicht sicher, ob das den übrigen Vorstandskollegen ebenso gelingen würde.

Heute mag ich eine Schlacht schlagen und sogar siegen, doch entschieden wird dieser Krieg nicht hier, dachte er ein wenig resigniert.

Hinter ihm öffnete sich die Tür zum Vorzimmer. Seine Sekretärin kam herein, Mary Watson. Sie war eine ältere Dame mit einem freundlichen Gesicht und smaragdgrünen Augen, die von winzigen Fältchen umspielt wurden. Sie erweckten den Eindruck, als müsste sie ständig lachen. »Ihre Gäste sind jetzt eingetroffen. Miss Reed und ihr Assistent«, meldete sie.

Nagamoto kommentierte das mit einem Brummen. »Keine Neuigkeiten von Professor Daring?«, wollte er wissen.

Mrs. Watson schüttelte den Kopf. »Keine neuen Anrufe. Ich kann weder den Professor noch seine Assistentin erreichen. Haben Sie eine Ahnung, um was es bei der Sache überhaupt geht?«

Er wandte sich von den großen Fenstern ab und blickte seine Sekretärin an. Mrs. Watson arbeitete schon seit Gründung von Energreen hier. Wahrscheinlich gab es keine loyalere oder vertrauenswürdigere Person im ganzen Konzern. Dennoch: Nagamoto konnte ihr nicht die ganze Wahrheit sagen, lediglich eine vereinfachte Version, bei der er die Details wegließ. »Er wollte Nachforschungen anstellen und mich auf dem Laufenden halten«, sagte er. »Mein Flug heute steht doch? Ich muss so schnell wie möglich nach London.«

Mrs. Watson schluckte die spärliche Auskunft ohne weitere Nachfrage. Stattdessen wedelte sie mit einigen Papieren zwischen ihren Fingern. »Sie haben Glück: Ich konnte einen Sitzplatz im schnellsten Flugzeug der Welt für Sie ergattern. Wenn Sie das Gespräch mit Borgin & Bronx nicht zu lange hinauszögern, werden Sie diesen Flug noch rechtzeitig erwischen. Hier sind die Bordkarten«, verkündete sie stolz.

Nagamotos ansonsten stoisches, ernstes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Ich danke Ihnen, Mrs. Watson. Ich werde mich doppelt anstrengen, dass Energreen unsere Firma bleibt und nicht in die Klauen dieser Vampire fällt! Es wird garantiert nicht lange dauern.«

Sie schenkte ihm ein erleichtertes Nicken und verschwand wieder nach draußen. Nagamoto stellte sich vor den großen Spiegel in seinem Büro, zupfte Krawatte und Anzug zurecht und nahm eine aufrechte Haltung an. Er atmete zweimal tief durch, sammelte seine Konzentration.

»Du hast schon ganz andere Dinge gemeistert, Tatsuya«, sagte er zu seinem Spiegelbild. »Also dann, auf in die Schlacht!«

Jessica Reed war der Typ Frau, bei dem es fast unmöglich war, sie nicht dauernd anzustarren: hochgewachsen, gertenschlank, himmellange Beine und wohlgeformte Rundungen. Sie hatte ein hübsches, schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen, große blaue Augen, eine blonde Mähne, die ihr in Form langer Locken fast bis zum Gesäß reichte. Sie war die Personifizierung jedes Männertraums. Das wusste sie auch und setzte es gekonnt ein, um ihre Verhandlungspartner in die Richtung zu beeinflussen, die sie haben wollte.

Vor fünf Jahren war sie aus der Provinz nach New York gekommen, um dort Karriere zu machen. Bei Borgin & Bronx als Kundenberaterin eingestiegen, kletterte sie die Karriereleiter blitzartig nach oben. Ihren Vorgesetzten (ein perverses Schwein) hatte sie während der großen Bankenkrise bei dessen Boss wegen Unfähigkeit diskreditiert. Für ihn war sie nur der Typ Assistentin gewesen, den man zum Vorzeigen brauchte. Eine attraktive Trophäe, mit der man bei Kollegen angeben konnte, mehr nicht. Tja, heute hatte sie seinen Job. Auf diese Weise verdiente sie sich den Respekt ihrer männlichen Kollegen, die in ihr zunächst nur das Püppchen gesehen hatten. Die Chefetage erkannte schnell, dass sie ein großes Talent besaß, andere Leute zu verführen und zu manipulieren. Sie zeichnete sich nicht nur durch ihre Schönheit aus, sondern auch durch einen großen Ehrgeiz, weiterzukommen und ganz nach oben zu gelangen.

Diese Ambition, gepaart mit Hartnäckigkeit, einer gehörigen Portion Frechheit und Skrupellosigkeit, bescherte ihr schließlich den gewünschten Erfolg. Ihr war kein Trick zu frech oder zu schmutzig, um ihn nicht anzuwenden. Wenn das Ergebnis es verlangte, stieg sie auch ohne Scham mit ihren »Geschäftspartnern« ins Bett. Wichtig war ihr nur, was am Ende dabei herauskam. Das waren seit Jahren dicke Prämienzahlungen. Sie besaß eine eigene Villa, mehrere schnelle Autos (sie liebte hohe Geschwindigkeiten), einen Privatjet und einen eigenen Hubschrauber (sie war eine ganz passable Pilotin). Ein ganzer Trupp Hausangestellter wurde nur dafür bezahlt, ihre Wünsche zu erfüllen. Sie führte ein teures, ausschweifendes Leben und bereute es nicht eine Minute, diesen Weg eingeschlagen zu haben, anstatt das brave, anständige Mädel zu werden, das sich ihre Eltern erhofft hatten.

Sie lebte wie eine Königin, und genauso wurde sie auch von jedermann behandelt. Bei Borgin & Bronx wurde sie wegen ihres Talents und ihres Erfolgs hofiert, natürlich auch wegen ihres unverschämt guten Aussehens. Ihr schlug oftmals Neid entgegen, aber auch Bewunderung und Verehrung. Inzwischen besaß sie einen eigenen Assistenten, ein Würstchen, hingebungsvoll, treu ihrem Willen ergeben. Jessica tolerierte keinen Karrieretyp in ihrer Umgebung, der ihr vielleicht eines Tages gefährlich werden könnte und ihre Fehler (die sie zwangsläufig irgendwann machte) gnadenlos ausnutzen würde. Man fürchtete ihre Missgunst, obwohl sie noch keine dreißig Jahre alt war.

Der Konferenzraum von Energreen behagte ihr gar nicht. Anstatt eines spartanischen Raumes mit Tischen und Stühlen glich dieser hier einem Wohnzimmer. Die Wände waren in dunkelroter Farbe gehalten, überall hingen Gemälde japanischer Meister, die irgendwelche langweiligen Landschaften darstellten. Der Boden war mit einem weichen Teppichboden ausgelegt, und anstelle eines großen Konferenztisches gab es mehrere kleine, im Kreis angeordnete Sitzgruppen. Im hinteren Eck des Raumes blubberte eine Kaffeemaschine, auch ein Wasserbehälter war zu finden. Neben den Türen standen Grünpflanzen. Die Beleuchtung war gedimmt, um eine heimelige Atmosphäre zu schaffen. Angesichts der großen Regentropfen, die gegen die Aussichtsfenster prasselten, strahlte der Raum eine heimelige Behaglichkeit aus. Für Jessica war das jedoch sehr störend, denn das brachte sie in eine Stimmung, die sie gar nicht gebrauchen konnte. Über die vergangenen Jahre war sie eine Meisterin der Selbstbeherrschung geworden, wusste ihre Gefühle bewusst zu kontrollieren und konnte sogar auf Kommando weinen. Sie wollte sich jetzt nicht entspannen und ruhig werden, sondern aggressiv und knallhart sein.