Loe raamatut: «Veyron Swift und das Juwel des Feuers», lehekülg 6

Font:

Erneut meldete sich eine freundliche, junge Frauenstimme – nicht die gleiche wie zuvor.

»Torben-Carrisson-Airways, was kann ich für Sie tun? Sie sprechen mit Mandy Sikes.«

»Guten Tag, hier spricht Veyron Swift. Kundennummer vier-zwölf-neunzehn-einundachtzig. Ich brauche sofort zwei Tickets nach London. Ist noch was in der Supersonic frei?«

Die junge Frau tippte hörbar auf ihre Tastatur. Ihre Stimme klang vollkommen überrascht, als sie antwortete: »Äh … Ja. Soeben sind ein paar Sitzplätze frei geworden. Moment, ich überprüfe das … Kein Zweifel. Wie viele Plätze brauchen Sie?«

»Nur zwei. Einen für mich und einen für Mr. Thomas Eugene Packard, vierzehn Jahre alt«, sagte Veyron.

Tom klappte die Kinnlade nach unten. Für den Rest der Fahrt konnte er sich nur wundern, während Veyron in aller Seelenruhe ihren Flug buchte.

4. Kapitel: Der Flug der Supersonic

Alec McCray konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er den Worten seines neuen Geschäftspartners lauschte. Dies schien der bedeutendste Tag in der Geschichte des Roten Sommers zu werden. Heute würde der Rote Sommer etwas tun, das ihm erstmalig Augen- und Ohrenmerk der ganzen Welt einbrächte.

Alec war nicht übermäßig groß, aber durchtrainiert, muskulös, in seiner ganzen Erscheinung ein Frauenheld. Obwohl ihn niemand dazu ernannt hatte, wurde er von allen als der Anführer des Roten Sommers angesehen (dabei war er noch nicht einmal eines der Gründungsmitglieder). Nun saß er mit abgetragener Jeans und Lederjacke Charles Fellows gegenüber und hörte sich an, was der aalglatte Geschäftsmann zu sagen hatte.

Roter Sommer wurde erst in jüngerer Zeit von den internationalen Behörden als Terrororganisation eingestuft. Dabei fing einst alles relativ harmlos an. Aus Protest gegen die Ausbeutung ihrer Völker hatten sich ein paar Studenten rund um den Globus zu einer Widerstandsorganisation vereint. Sie wollten den Großkapitalisten eine Lektion erteilen und steckten die Luxuskarossen einiger superreicher Bonzen in Brand – allesamt skrupellose Gangster mit Schlips und Aktenkoffer. Sie waren es, die Zehntausende Studenten überall auf der Welt als Praktikanten anheuerten, ihr Wissen und Können ausbeuteten und dafür kaum Geld bezahlten – falls überhaupt etwas. Am Ende standen Zehntausende junger Leute ohne Job auf der Straße. Raffgierige, skrupellose Manager waren für die Verarmung der Jugend auf der Welt verantwortlich. Diese Kreaturen (Alec wollte sie gar nicht als Menschen bezeichnen) zerstörten die Gesellschaft und häuften nebenbei Reichtümer an. Diesen Verbrechern, die mit ihrer grenzenlosen Gier so immens viel Unheil auf der Welt anrichteten, die mit ihrem Geld Politik und Justiz kontrollierten, sagte der Rote Sommer den Kampf an.

Die Antwort der Geschäftemacher hatte jedoch nicht lange auf sich warten lassen. Demonstrationen wurden – je nach Nation unterschiedlich – entweder mit Wasserwerfern, Knüppeln oder mit Schusswaffen aufgelöst. Es gab sogar Mordanschläge gegen vereinzelte Aktivisten, auch Mitglieder vom Roten Sommer befanden sich unter den Opfern. Also beschloss die Organisation, sich zu wehren. Eine kleine Gruppe, der loyalste Kern, beschaffte sich Waffen und schlug zurück.

Drei Manager in Südamerika, zwei in Afrika und einer in Osteuropa unterhielten sich seitdem mit den Würmern. Alec hatte diesen Weg von Anfang an vorgeschlagen: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wenn sich der Staat nicht imstande sah, seine Bürger vor der Willkür der Kapitalisten zu beschützen, dann musste dies eben der Rote Sommer tun.

Es war jedoch ein Grundsatz der Organisation, dass der Rote Sommer niemals ohne vorherige Provokation zuschlug. Kam es zu einem Übergriff gegen Mitglieder, gegen Unterstützer oder Gleichgesinnte, wurde zurückgeschlagen, und zwar gnadenlos. Vergeltungsaktionen nannten sie so etwas innerhalb der Organisation. Manchmal ging das auch nicht ohne Kollateralschäden ab. Es war ja eine Art von Krieg, da gab es eben Opfer.

Alec bereute keine ihrer Taten. Diesen Kapital-Banditen, welche die ganze Welt für sich beanspruchten, war aus seiner Sicht eben nur mit tödlicher Gewalt beizukommen. Man musste sie angreifen und bloßstellen, bis die Wut des Volkes überkochte und alles Vertrauen in die Staatsmacht und ihre Strippenzieher verloren ging.

»Einen solch medienwirksamen Zwischenfall hat es seit dreißig Jahren nicht mehr gegeben«, rissen ihn Fellows Worte aus den Gedanken. »Ihre Leute sind für diese Sache hervorragend ausgebildet. Training in einem Terrorcamp, Planung und Durchführung von Attentaten, Nahkampf gegen Sicherheitskräfte. Das ist die beste Vorbereitung, die man heute bekommen kann. Sie besitzen das Wissen, die Mittel und die notwendige Skrupellosigkeit für eine solche Aktion. Mein Auftraggeber verfügt über das notwendige Kapital, um alles zu realisieren.«

Charles Fellows war der Typ Mensch, mit dem sich Alec unter anderen Umständen niemals eingelassen hätte: schmierig, skrupellos, aber nicht willens, sich dafür die Hände schmutzig zu machen. Dazu kam seine schlanke Statur, die schmalen Schultern, ein ausdrucksloses Gesicht, ein fliehendes Kinn, eine kleine Nase, die Haare geölt, der schwarze Anzug maßgeschneidert, sicherlich mehrere tausend Dollar teuer.

Alec zündete sich eine Zigarette an. Er saß zusammen mit seinen beiden Stellvertretern in einer riesigen, schwarzen Limousine auf dem Parkplatz des Kennedy Airports. Es regnete noch immer, wenngleich nicht mehr so stark wie noch heute Morgen.

»Und was hilft uns das, wenn wir alle dabei draufgehen?«, fragte Alecs rechte Hand, Tamara. Sie war noch keine dreißig, aber schon seit zehn Jahren Mitglied des Roten Sommers. Damit gehörte sie bereits zu den Veteranen. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit dunkelbraunen Augen, umrahmt von schwarzem Haar, das sie im Nacken zusammengeknotet hatte. Ihre Figur war die einer Kriegerin, gestählt vom Tragen schwerer Waffen und den pausenlosen Nahkampftrainings – und doch ausgesprochen kurvenreich. Zumindest Fellows war sie alle paar Sekunden einen Blick wert.

Tamara war der Stolz des Roten Sommers, schneller und stärker als die meisten Kämpfer, die Alec in seinem Leben bisher kennengelernt hatte. Als ausgebildete Scharfschützin war sie eiskalt, ohne Mitleid. Tamara hatte noch nie ein Ziel verfehlt. Alec bewunderte sie für die Fähigkeit, in brenzligen Situationen stets einen kühlen Kopf zu bewahren. Er würde nie vergessen, wie sie diesem einen Bullen in Chile, ohne mit der Wimper zu zucken, ins Gesicht geschossen hatte. Er selbst neigte dagegen eher zum Ungestüm. In den Schießtrainings verbrauchte er stets mehr Munition als alle anderen Kämpfer des Roten Sommers. Alec liebte die Aufregung und den Kampf.

»Dieses Risiko bestand schon immer, Tamara. Zum Beispiel bei dem Überfall auf dieses chilenische Polizeirevier vor zwei Jahren«, erwiderte Fellows kalt.

Alec grunzte zustimmend. Er mochte Fellows nicht, er mochte niemanden mit einem Maßanzug. Aber der Mann war ein Analytiker und seine Aussagen zutreffend. Er hatte auch recht, wenn er sagte, dass Roter Sommer sein Geld brauchte. Keine Widerstandsgruppe überlebte lange ohne finanziellen Rückhalt. Hinter Roter Sommer standen keine milliardenschweren Fanatiker mit religiösen Motiven oder mächtige Staaten, sondern nur eine Gruppe meist mittelloser Studenten aus aller Herren Länder. Verglichen mit anderen Terrororganisationen war der Rote Sommer ein regelrechter Witz. Alec zählte keine dreihundert Kämpfer in ihren Reihen, nicht einmal fünfzig, sondern nur lächerliche fünfzehn; ihn selbst inbegriffen. Zehn nahmen an der geplanten Aktion teil, die übrigen fünf Mitglieder der Vereinigung kümmerten sich um die Verbindung zu anderen gleich gesinnten Studentengruppierungen. Sie gingen auf Werbetour oder überwachten die Aktivitäten im Internet. Es war ein Kampf von fünfzehn gegen den Rest der Welt.

»Tamara hat recht. Ein Polizeirevier anzugreifen, ist weit weniger riskant, als ein Flugzeug zu entführen. Bei einem Überfall gibt es immer einen Fluchtweg, aber ein Flugzeug ist eine Mausefalle«, mischte sich Alecs zweiter Mann, Said, in die Diskussion ein. Der gebürtige Ägypter war ein ehemaliger Söldner und besaß mehr Kampferfahrung als alle Mitglieder des Roten Sommers zusammen. Er war groß und von schlanker Gestalt, seine Muskeln trainiert und hart wie Eisen – ebenso wie sein Wesen. Eine lange, dunkelrote Narbe durchlief sein Gesicht von oben nach unten und schien den Kopf zu spalten. Wo und wie er sich diese Narbe einst zugezogen hatte, verriet er nicht.

»Genau da kommt der Einfluss meines Auftraggebers ins Spiel«, sagte Fellows. »Sie werden die Maschine um diese Uhrzeit übernehmen und exakt um diese Uhrzeit 37 Grad in Richtung Südosten drehen lassen. Der Treibstoff der Maschine sollte bis nach Ostafrika genügen. Dort werden Sie in Somalia landen und die Maschine bei Nacht verlassen. Das Bodenpersonal des Flughafens ist bestochen, Fluchtfahrzeuge stehen bereit. Die Sicherheitsbehörden des Flughafens sind ebenfalls auf der Gehaltsliste meines Auftraggebers. Ihr Entkommen ist damit gesichert.«

Fellows reichte den drei Terroristen sein Pad, auf dessen Bildschirm sie den ganzen Plan sehen konnten. Alec schaute gar nicht so genau hin, ihn interessierten die Hintergründe eines Plans nicht. Ehrlich gesagt war es ihm egal, ob sie entkamen oder nicht. Er hoffte sogar, dass es zu einer wilden Schießerei mit den Sicherheitskräften käme. Opfer nahm er bereitwillig in Kauf, notfalls auch das seines eigenen Lebens. Bei dieser Sache ging es für ihn allein um das Prestige. Diese Aktion bedeutete die Aufmerksamkeit der ganzen Welt, Alec und all seine Mitstreiter würden in die Annalen der Geschichte eingehen. Sie würden Vorbilder für neue Generationen von Kämpfern. Man würde sie als Helden verehren.

»Wir sind dabei«, entschied er, ohne die anderen lange um Rat zu fragen.

Said reichte Fellows das Pad zurück. »Sie sind sicher, dass Sie unsere Waffen an den Sicherheitskontrollen vorbeischleusen können?«, wollte er wissen.

Fellows setzte ein diabolisches Grinsen auf. »Nicht nur das. Ich kann Ihnen sogar die genaue Position nennen, wo die Frachtcontainer mit den Waffen stehen werden und durch welche Bodenluke Sie hinunter in den Frachtraum kommen!« Er holte einen kleinen USB-Stick aus der Tasche. »Da drauf ist der ganze Plan. Alles ist akribisch von meinen Mitarbeitern ausgearbeitet worden. Das Einzige, worum Sie sich noch kümmern müssen, ist die Ausführung.«

Alec nahm den Stick entgegen und steckte ihn in seine Lederjacke. Er zog lange an seiner Zigarette. »Sie finanzieren Freiheitskämpfer, Fellows. Wieso tun Sie das«, fragte er den Geschäftsmann.

Fellows Grinsen wurde noch breiter. »Natürlich für Geld. Ich bedaure, aber ich besitze nicht Ihren Idealismus. Mein Auftraggeber zeigt großes Interesse an Ihnen. Er hat all seine finanziellen Mittel eingesetzt, um Ihren Erfolg zu garantieren«, erklärte er kalt.

Alec musterte ihn einen Moment prüfend und überlegte, ob er nun beleidigt sein sollte. Hielt der Mann sie etwa für eine Bande naiver Dummköpfe? Wahrscheinlich, schätzte Alec. Fellows war skrupellos, ein schmieriger Typ mit glatten Gesichtszügen, die keinen seiner Gedanken verrieten. Obwohl er drei der gefährlichsten Menschen der Welt gegenübersaß, zeigte er keinerlei Furcht.

»Ihr Auftraggeber, was ist das für ein Typ? Auf welcher Seite steht er?«, wollte Said wissen. »Ich vertraue keinem Geldbeutel.«

»Mein Auftraggeber steht ausschließlich auf seiner Seite. Fragen Sie mich nicht nach seinen Motiven, die kenne ich nicht. Ich würde es auch nicht wagen, ihn danach zu fragen. Seien Sie froh, dass Sie nur mit mir verhandeln, nicht mit ihm. Das ist das Einzige, was ich Ihnen verraten kann. Ehrlich gesagt kenne ich noch nicht einmal seinen richtigen Namen. Vielleicht ist das auch besser so. Er wird niemals mit Ihnen in Kontakt treten oder sich zu erkennen geben. Dennoch können Sie auf seine Unterstützung vertrauen, wenn Sie Ihre Sache wie verlangt ausführen«, erwiderte Fellows. Ein leichter Schauder zuckte über sein aalglattes Gesicht, während er über seinen Auftraggeber sprach.

»Klingt unheimlich«, meinte Said sarkastisch.

Fellows lächelte, ein herzloses, sardonisches Zähneblecken. »Oh ja, das ist er. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag.«

Die Wagentüren wurden von zwei Mitarbeitern geöffnet. Fellows schloss die Augen. Alec erkannte, dass es nichts mehr zu sagen gab. Er stieg zuerst aus, danach Said und zum Schluss Tamara. Sie bedachte Fellows mit einem scharfen, misstrauischen Blick. Der Terror-Vermittler erwiderte ihn nicht, sondern wartete geduldig, ohne einen Muskel zu rühren. Schließlich stieg sie aus. Hinter ihr wurde die Tür zugeschlagen.

Draußen im Regen stülpte Tamara die Kapuze ihres grauen Pullovers über den Kopf und schloss zu Alec und Said auf. Ihre Bewegungen waren die einer Katze, schnell und geschmeidig, Alec dagegen stapfte ein wenig statisch durch den Regen. Er stand stets unter Anspannung, als wüsste sein Körper nicht recht, wohin mit all der antrainierten Kraft. Sie gingen durch die Reihen der geparkten Autos und näherten sich langsam dem großen Terminal.

»Mir gefällt das nicht«, brummte sie finster. »Dieser Fellows ist ein Aas. Was er da von seinem Auftraggeber erzählt, klingt schlimmer als jeder Bonze, mit dem wir es bisher zu tun hatten.«

»Bei fünfunddreißig Millionen Dollar pro Nase hört man auf, Fragen zu stellen«, gab Alec lapidar zurück.

Tamara schien das zu verärgern. »Was ist mit unserer Sache, Alec? Sind wir also nun ebenfalls käuflich? Kann uns jetzt jeder Wahnsinnige für jeden beliebigen Anschlag buchen?«

Alec wirbelte zu ihr herum, packte sie an den Schultern. »Du verstehst es einfach nicht! Geld bedeutet Macht und Einfluss! Genau das ist es, was wir brauchen, wenn wir irgendwann Erfolg haben wollen. Dieser andauernde Kampf gegen Windmühlen muss aufhören. Wir müssen endlich etwas bewirken«, fauchte er.

Tamara wand sich nicht aus dem harten Griff, sondern erwiderte seinen Blick kalt. »Also verraten wir jetzt doch noch unsere Ideale. Du hast aufgegeben«, meinte sie mit Abscheu in der Stimme.

Alec ließ sie los. »Ich habe nicht aufgegeben! Wir befinden uns im Krieg mit Leuten, die uns himmelhoch überlegen sind. Wenn wir ihnen auf Augenhöhe begegnen wollen, müssen wir uns einige ihrer Methoden aneignen. Sieh es einfach als ein notwendiges Übel«, erwiderte er und ging weiter.

Tamara folgte ihm verärgert. Das war nicht der erste Disput zwischen ihnen, und es würde auch nicht der letzte sein. Er verriet ihr besser nicht, dass er bereits eine Villa im Hochland Boliviens gekauft hatte, ebenso einen neuen Ferrari. Alec liebte schnelle Autos. Wenn diese kleine Ironie der Preis für den Kampf gegen den Kapitalismus sein sollte … nun, so war es ein verdammt angenehmer Preis.

»Ruf jetzt die anderen. Sorg dafür, dass jeder auf seinem Posten ist und seine Aufgaben kennt. Said, du gehst als Erster in den Terminal und sondierst die Lage. Sorg dafür, dass sich alle zerstreuen und erst beim Einchecken zusammenfinden. Wir dürfen keine Aufmerksamkeit erregen. Noch werden wir von der Polizei weitgehend ignoriert. Aber das wird sich ändern, sobald wir einmal an die Öffentlichkeit gegangen sind«, befahl Alec.

Said gab ein zustimmendes Brummen von sich. Als sie das übernächste geparkte Auto passiert hatten, bog er in eine andere Richtung ab. Alec drehte sich zu Tamara um, die immer noch hinter ihm hermarschierte, die Fäuste tief in die Hosentaschen gestopft. »Zieh dich um und mach dich hübsch. Wir haben unsere Rollen zu spielen, bis wir an Bord sind. Wir wollen das schnellste Flugzeug der Welt entführen, und das machen wir mit Stil.«

Er lachte laut und ging weiter.

Tamara war dagegen gar nicht zum Scherzen zumute. Sie plagte das ungute Gefühl, dass dieser Höhepunkt der Karriere des Roten Sommers zugleich sein Schwanengesang würde. Wir werden alle sterben, und keine Menschenseele wird es kümmern. Ganz im Gegenteil: Eine Menge Leute werden heilfroh sein, dachte sie mit einiger Verbitterung. Sie fand es seltsam, dass sie sich plötzlich derartige Gedanken machte. Zweifel waren seit jeher ihre Weggefährten, doch jetzt kam etwas Neues hinzu: Kummer und Bedauern. Aber sie empfand Alec gegenüber eine zu große Loyalität, um zu kneifen. Sie ging dorthin, wo er hinging, selbst wenn es den Tod bedeutete.

Tom Packard stand am Aussichtsfenster des Terminals und blickte hinaus auf das Rollfeld. Dort stand sie, die SCC-1001 Supersonic, das schnellste Flugzeug der Welt – und nach Toms Auffassung zugleich auch das schönste.

Der Rumpf glich einer neunzig Meter langen und vier Meter dicken Rakete. Die Maschine besaß einen riesigen Delta-Flügel, der knapp hinter dem Cockpit ansetzte und sich allmählich zum Heck hin mit einem Schwung verbreiterte. An der Unterseite des Flügels waren die vier Triebwerke eingebaut. Auf spezielle Weise angepasst, wirkten sie, wie organisch gewachsen. Die ganze Maschine war in Perlmuttweiß lackiert, nur der riesige Heckflügel in Dunkelblau, wo das goldene Emblem von Torben-Carrisson-Airways prangte.

Tom sah zu, wie das Personal die Tankschläuche abkoppelte. Kleine Zugfahrzeuge manövrierten das riesige Flugzeug an die Fluggastbrücke heran.

Ich kann mich nicht beklagen, dachte er. Ich habe zwei Leichen gesehen, bin in die USA gereist, habe Veyron Swift in Aktion erlebt und durfte zum Schluss noch mit dem schnellsten und schönsten Flugzeug der Welt fliegen. Das ist ein wirkliches Abenteuer; auch wenn ich mit meinem Paten immer noch nicht so richtig warm werde. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich leiden kann, oder ob er überhaupt Gefühle besitzt.

Er ging zurück in den Wartebereich des Flugsteigs, wo die Passagiere saßen und darauf warteten, einsteigen zu dürfen. Es waren gerade einmal einhundert Personen, nicht besonders viel. Immerhin konnte die Supersonic laut Angaben 308 Passagiere transportieren. Dass der Wartebereich nicht von Menschen überquoll, schien alle zu überraschen, am allermeisten die TC-Airways-Mitarbeiter. Draußen in der Empfangshalle standen 200 Orchestermitglieder, die sich über die Stornierung ihrer Tickets wunderten. Ein tobender Simon Weller, der hartnäckig bestritt, die Tickets storniert und umgebucht zu haben, versuchte vergeblich, telefonisch zum Vorstandsvorsitzenden von TC-Airways durchzukommen. Noch ahnte niemand, was Veyron Swift vor ein paar Stunden angerichtet hatte.

Tom setzte sich zu seinem Patenonkel, der in aller Seelenruhe eine Zeitung las. »Nicht viel los«, bemerkte Tom spitz.

Über Veyrons dünne Lippen zuckte ein flüchtiges Lächeln. »Rechts von dir, zwei Reihen weiter vorn«, sagte er, ohne von der Zeitung aufzublicken.

Tom schaute in die entsprechende Richtung. Er fand sieben junge Männer, deren Alter er nicht genau einschätzen konnte. Alle lümmelten mehr oder weniger teilnahmslos in ihren Sitzen, die Gesichter leichenblass, die Augen trüb. Einem troff sogar deutlich sichtbar Speichel aus dem Mund. Sie trugen schlampige Kleidung, falsch geknöpfte Hemden, abgetragene Jacken und total unterschiedliche Socken und Schuhpaare, die nicht zusammenpassten. »Was sind das für Kerle? Vampire vielleicht?«

»Am helllichten Tag? Gebrauche deinen Verstand, Tom! Nein, die Kerle gehören zu einer Punkrockband mit dem drolligen Namen Fiz-Fish-Ass. Sie kamen vor fünf Minuten von der Toilette, wo sie sich mit irgendeinem Zeug vollgedröhnt haben müssen. Zuvor waren sie aufgekratzt und laut, jetzt sind sie wie ausgewechselt. Ich frage mich, wie sie die Drogen bis hierher schmuggeln konnten? Wo hatten sie die versteckt? Sie haben kein Handgepäck, und die Drogenhunde bei der Eingangskontrolle haben nicht angeschlagen. Sehr wahrscheinlich ist es ein vollkommen neuer Stoff«, schlussfolgerte Veyron.

Tom schmunzelte. »Ich dachte, Sie interessieren sich nicht für Kriminalistik?«

Veyron blätterte die Zeitung um. »Nein, aber für Drogen und ihre Auswirkungen auf den menschlichen Verstand. Arme Teufel, diese sieben. John Fizzler und Ira Fisher, die beiden Bandgründer, der eine Leadsänger, der andere Gitarrist. Beide noch keine dreißig, und schon mit eineinhalb Beinen im Grab. Furchtbare Musiker, die nur Misstöne hervorbringen. Zurzeit jedoch recht populär; weil sie anders sind als der ganze Industrie-Pop, der in den Radiostationen rauf und runter gespielt wird. Jetzt sieh nach hinten, die letzte Reihe ganz außen, weit weg von den anderen Passagieren.«

Tom drehte sich um und versuchte, ganz beiläufig zu gucken. Dort saßen eine junge Frau und ein junger Mann nebeneinander. Nun, nicht direkt. Ein kleiner Aktenkoffer stand zwischen ihnen. Der Mann arbeitete pausenlos auf einem kleinen Notebook, die Frau zog gerade ihren Lippenstift nach. Sie war eine Schönheit, langes blondes Haar und ein Körper, dessen Anblick Verzückung auslöste. Tom starrte sie an, er konnte gar nicht anders. Sie entdeckte ihn, erwiderte seinen Blick mit einem kurzen, geschäftlichen Lächeln. Verlegen wandte sich Tom in eine andere Richtung. »Wer ist sie? Sie könnte ein Model sein, so wie sie aussieht«, flüsterte er ehrfurchtsvoll.

Veyron schmunzelte. »Unwahrscheinlich. Sieh dir ihre Kleidung an: strenge Linien, teurer Stoff, und ständig der Blick auf die Uhr. Sie ist ungeduldig, muss wahrscheinlich Termine wahrnehmen. Schau, wie fest sie ihr Telefon in der Hand hält, ein sehr teures Modell aus echtem Silber. Pass auf! Da, schon wieder! Ein neues SMS-Signal. Sie erhält laufend Nachrichten, sicherlich nicht von einem Verehrer oder einer Freundin, dafür interessieren sie die Nachrichten viel zu wenig. Neben ihr sitzt ihr Assistent, der Mann mit der Brille und dem krummen Rücken. Er arbeitet am Notebook, sie gibt ihm Anweisungen. Sie ist Geschäftsfrau, Bankerin sehr wahrscheinlich. Sie fliegt ansonsten mit dem Privatjet. Darum fühlt sie sich hier unwohl, das siehst du an der Art, wie sie sich umsieht und wie nervös sie auf ihrem Platz hin- und herrutscht. Noch etwas ist interessant an ihr, was auch für uns von Bedeutung ist. Fällt es dir auf?«

»Sie sieht aus wie ein Engel, hat sehr lange Beine, bezaubernde Augen und …«

»Sehr gut, zumindest erkennst du schon mal das Offensichtliche. Jetzt pass auf. Sie sieht ständig auf die andere Seite des Raumes. Wenn sie jedoch dorthin schaut, tut sie dies nicht besonders freundlich.«

Tom blickte in jene Richtung, in die Veyron unauffällig mit der linken Zeitungsseite wedelte. Dort entdeckte er einen japanischen Geschäftsmann, der still dasaß und gelangweilt in einem Magazin blätterte.

»Nagamoto«, raunte Tom, als er ihn erkannte.

»Ganz genau. Zwischen Nagamoto und ihr besteht eine Verbindung. Es passt ihr gar nicht, ihn hier wiederzusehen. Ich würde wetten, sie ist eine Vertreterin von Borgin & Bronx, diesem berüchtigten Hedge Fonds. Während du dich mit sinnfreien und nutzlosen Videospielen beschäftigt hast, habe ich unsere Atlantiküberquerung zur Wissensmehrung genutzt. Ich weiß jetzt so ziemlich alles über Nagamoto und Borgin & Bronx.«

Tom ließ diese neuerliche, vor Arroganz triefende Besserwisserei unkommentiert. Verärgert schaute er sich die anderen Passagiere an. »Glauben Sie, Flammenschwert-Joe ist auch hier?«

Veyron schlug die Seite seiner Zeitung um, dann gleich noch einmal und schließlich wieder zurück. Er blieb ihm die Antwort schuldig. Eine Durchsage, dass das Boarding für Flug TC-327 begann, ließ ihn nicht mehr zu Wort kommen. Die Leute standen auf, nahmen ihr Gepäck und reihten sich auf. Lediglich die sieben Punkrocker blieben zitternd auf ihren Plätzen sitzen, entweder, weil sie den Ruf nicht gehört hatten, oder weil ihre Körper nicht so wollten.

»Auf geht’s, Leute. Zeit zum Boarding«, rief Veyron, als er an ihnen vorbeikam.

Zögerlich setzte sich zumindest einer von ihnen, John Fizzler, in Bewegung. Wacklig erhob er sich und schleppte seine dünne, ausgemergelte Gestalt hinüber zur Warteschlange. »Danke, Mann. Geht uns gerade echt beschissen, weißt du«, keuchte er.

Veyron nickte lächelnd und reihte sich vier Leute vor Fizzler ein – so lange brauchte dieser, um die Warteschlange überhaupt zu erreichen. Fizzlers Kumpel folgten schließlich einer nach dem anderen. Veyron beobachtete sie genau, fand es offenbar faszinierend, wie sie ihre müden, kranken Körper durch die Halle schleiften, die einen torkelnd, die anderen wie in Zeitlupe.

»Ich muss meine Analyse korrigieren. Ein paar neue Informationen sind dazugekommen«, raunte er Tom zu.

Der beobachtete die Rocker gar nicht, sondern versuchte, die schöne Bankerin zu erspähen, die irgendwo ganz weit vorne stand.

»Zu ihrer Drogensucht und ihrem erbärmlichen Zustand kommt noch etwas hinzu: Angst, entsetzliche Angst. Auf der Toilette muss etwas geschehen sein, das sie in Todesangst versetzt hat. Vielleicht ist es auch eine Nebenwirkung der Drogen, möglicherweise eine Art Psychopharmakon«, fuhr Veyron fort.

Jetzt schenkte Tom den Rockern doch noch einen weiteren Blick – ungern, denn er wollte viel lieber die schöne Geschäftsfrau anschauen.

»Wer könnte die Macht besitzen, solches Zeug an den Drogenhunden vorbeizuschmuggeln und es diesen Leuten auf der Toilette zuzuspielen? Wenn ich raten dürfte, würde ich auf Flammenschwert-Joe tippen. Ich frage mich nur, was er damit bezwecken will. Was mag wohl sein Plan sein? Bestimmt nichts Gutes«, murmelte Veyron vor sich hin.

Jetzt war Tom aufgeregt. Dieser schreckliche Übeltäter war also hier, mitten unter ihnen? Vielleicht war er sogar einer der Passagiere, ein Dämon, getarnt in der Gestalt eines harmlosen Menschen. Tom musterte jeden Mann und jede Frau in der Warteschlange mit verstohlenen Blicken.

»Natürlich ist es reine Spekulation, beruhend auf einer vagen Vermutung, die wiederum der Annahme entspringt, dass unser dunkler Freund alles versuchen wird, um Nagamoto aufzuhalten und sich das Juwel des Feuers zu schnappen. Ich fürchte, mein Gehirn will sich wieder mal Arbeit sparen, am besten, du vergisst diese Theorie gleich wieder«, fuhr Veyron mit schnellen Worten fort.

Tom konnte es jedoch nicht wieder vergessen. Egal, was Veyron darüber dachte, für Tom machte das alles Sinn, und er wusste auch schon, wie Flammenschwert-Joe zuzuschlagen gedachte: Es würden die Rocker sein. Sie würden Nagamoto töten, und es sähe so aus, als wären die Drogen daran schuld.

Das Boarding verlief reibungslos. Die TC-Mitarbeiterinnen freuten sich, dass sie diesmal nicht so viele Passagiere abfertigen mussten wie sonst. Draußen im Empfangsbereich tobte Simon Weller noch immer, während sein Manager die Angelegenheit mit den Servicemitarbeitern von Torben-Carrisson-Airways regelte. Er akzeptierte die umgebuchten Plätze, wollte aber die Polizei einschalten, um diesen Hochstapler aufzuspüren, der ihnen den ganzen Ärger eingebrockt hatte. Niemand wusste natürlich, dass dieser gerade ins schnellste Flugzeug der Welt stieg und sich heimlich ins Fäustchen lachte. Tom dagegen rechnete nach wie vor damit, dass sie jeden Moment verhaftet wurden. Er ließ sich trotz Veyrons Versicherungen in dieser Meinung nicht umstimmen.

Die Supersonic war mit rund vier Metern Durchmesser recht schmal. Sie besaß darum in der Businessclass nur vier Sitze pro Reihe, getrennt von einem Mittelgang. Dafür waren die mit hellem Leder überzogenen Sitze größer und bequemer als in den meisten anderen Flugzeugen. Die Reisekabine war in warmen, gemütlichen Farben gehalten. Den Bereich zur First Class trennte eine große Glastür mit dunkelvioletten Vorhängen ab, welche die Luxusklasse vor neugierigen Blicken schützte. Tom konnte dem Faltplan der Maschine entnehmen, dass die First Class sogar nur aus vierzig Plätzen bestand. Eine weitere Glastür und die Fluggasttoiletten unterteilten die Businessclass nach etwa dreissig Sitzreihen in einen zweiten Bereich. Tom stellte fest, dass die Maschine nicht einmal bis zur Hälfte besetzt war. Gerade mal sechzig Passagiere verteilten sich hauptsächlich auf den vorderen Bereich der Businessclass. Jetzt erst wurden ihm die Auswirkungen von Veyrons Trick wirklich bewusst. Sie flogen vollkommen unterbesetzt!

Die Passagiere der First Class bestiegen das Flugzeug durch eine andere Fluggastbrücke. Hier verloren sie Nagamoto und auch die attraktive Bankerin aus den Augen. Tom fluchte leise, aber Veyron griff an seine Schulter und schüttelte den Kopf.

»Es ist alles genau so geplant, Tom. Natürlich wusste ich, dass Nagamoto First Class buchen würde. Ich habe jedoch nicht vor, mich ihm während des Fluges zu erkennen zu geben. Unser Freund Joe wird das sicher auch nicht tun. Wir verhalten uns still und beobachten. Vielleicht können wir FJ identifizieren, ehe wir in London landen«, erklärte er Tom, nachdem sie ihre Plätze auf der linken Flugzeugseite eingenommen hatten.

Tom saß am Fenster (darauf hatte er bestanden) und Veyron auf der Gangseite. Auf der anderen Seite des schmalen Ganges, setzte sich ein junger Mann, jünger als Veyron, und er schien sogar nur wenig älter als Tom. Kaum hatte er sich Platz genommen, zog er einen Tablet-PC aus seiner Tasche und tippte darauf herum. Tom sah sich den jungen Mann genauer an. Er schien südländischer Herkunft zu sein: Die Haut war sonnengebräunt, das Haar schwarz.

Plötzlich sah der junge Mann auf und zu Tom und Veyron hinüber, ein begeistertes Lächeln auf dem Gesicht. »Ist das nicht fantastisch? Wir fliegen mit der Supersonic! Bin mal gespannt, was meine Leser davon halten, wenn ich das blogge!«, rief er aufgekratzt.

»Was ist es denn für ein Blog?«, fragte Tom.

Der junge Mann zeigte ihm ganz stolz das Tablet. »LIMAstrike, ein politischer Blog, hauptsächlich für Studenten. Ich habe ihn ins Netz gestellt. Dimitri Illianovos, das bin ich«, erklärte er und reichte Tom die Hand. Blitzschnell zog er sie wieder zurück. »Entschuldige, aber ich muss meine Eindrücke aufschreiben. Das ist ja alles so aufregend«, sagte er und tippte wieder auf dem Tablet herum.