Rette mich wer kann!

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Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Rette mich wer kann!
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Traudel Schmidt

RETTE MICH
WER KANN!

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Rette mich wer kann!

Im Wartezimmer

Der Höckerschwan

Seifen-Oper

Zu Risiken und Nebenwirkungen

Das Lüftchen

Wo ist Adam?

Vollkommen norm – al

Der Nuss-Streit

Nuklear verseucht?

Handwerk hat goldenen Boden

Der Trugschluss

Gott - loser Sport

Nobel-Preisträger

Der Weberknecht

Back-Wahn

Besuch aus Transsilvanien

Duftes Wochenende

Das Ü - Ei

Was soll ich in Dortmund?

VHS

Frühlingsahnen

Mahlzeit!

So ein Tag, so wunderschön wie heute …

Herbst

Tele komm!

Wenn eine eine Reise tut

O du fröhliche Bettelzeit …

Feuer und Flamme

Es grünt so grün …

Urlaub allerorten

„In“ ist in und „out“ ist out

Das Ende vom Lied

Zweierlei Maß

RETTE MICH WER KANN!

Ich bin Emil aus der Familie der Graureiher. Seit ich denken kann, wohnen wir auf einem Baum in einem großen Wald. Papa hat erzählt, dass er jedes Jahr zusammen mit Mama hier her kommt und vielen Onkels und Tanten. Die Papas bauen schöne Nester und wir fühlen uns alle wie eine große Familie. Ich will auch mal ein großer Graureiher werden mit einem krummen Hals und einem scharfen Schnabel wie Papa. Aber das dauert noch.

Seit vorgestern schüttet es wie aus Kübeln. Ich ducke mich tief in unser Nest, aber das nützt nicht viel. Mein Gefieder ist total nass und meine Beine auch. Hoffentlich hole ich mir keinen Schnupfen.

Meine dicke Schwester Emilia macht sich im Nest breit und lässt mir kaum Platz. Ich kann ruhig nach ihr hacken, das kümmert sie überhaupt nicht. Mama und Papa haben bei dem miesen Wetter auch keine richtige Lust, immer loszufliegen und Futter für uns zu suchen. Mir ist langweilig. Ich möchte hier raus. Aber ich kann doch noch nicht fliegen.

Am nächsten Tag wird es auch noch windig. Ich muss mich schon ganz schön festkrallen, um nicht aus dem Nest gepustet zu werden. Emilia hat Angst. Aber ich bin ja ein Mann. Fast jedenfalls. Ich habe keine Angst. Fast jedenfalls.

Gegen Abend wird der Wind immer schlimmer. Er heult und die Bäume schaukeln wild. Mama und Papa sind trotzdem los, um Futter zu holen. Mama kommt bald zurück mit einer Maus im Schnabel. Emilia ist mal wieder schneller. Sie schnappt sich den Brocken und ich gehe leer aus. Wenn’s ums Fressen geht, ist meine Schwester immer die Erste. Jetzt kuschelt sie sich an Mamas Bauch und will schlafen. Und ich?

Mein Magen knurrt. Ob Papa wohl bald kommt? Es dämmert schon. Ich klettere auf den Nestrand und halte Ausschau nach ihm. Da packt mich eine Bö. Sie wirbelt mich hoch und drückt mich gleichzeitig wieder runter.

Hilfe! Ich flattere und versuche, ins Nest zurück zu kommen. Geht aber nicht. Zwischen Ästen und Zweigen taumele ich immer tiefer. Schließlich plumpse ich auf den Waldboden. Aua! Mein eines Bein tut weh und mein Flügel auch. Mama! Hol’ mich wieder rauf! Aber sie hört mich nicht. Der Wind heult zu sehr. Und Papa ist nicht da.

In letzter Zeit kommt er sowieso immer so spät nach Hause, sagt Mama. Er trifft sich mit anderen Reiher-Papas zum Wettfischen, wenn die Angler nicht mehr am Teich sind. Wenn er dann heimkommt, riecht er aus dem Hals. Nach Forelle. Sagt Mama.

Warum hört mich denn keiner? Klar! Ich soll ja nicht so laut rumkrächzen. Mama hat uns eingebläut, dass wir den Schnabel halten sollen. Also mache ich nur mal ganz leise „kräck.“ Und noch einmal „kräck.“ Aber besser ist es, ich sage nichts. Mama hat erzählt, im Wald wohnt der Fuchs. Der frisst kleine Reiher. Ich habe Hunger!

Irgendwann muss ich eingedöst sein, denn als ich wieder wach werde, ist es hell. Aber der Sturm orgelt weiter. In den Bäumen kracht’s und mir tun die Knochen von meinem Sturz weh. Mein Kopf brummt und in meinem Bein zwickt’s. Mein Magen ist leer und keine Mama weit und breit. Was soll ich denn jetzt machen? Vielleicht mache ich mich einfach auf den Weg aus dem Wald heraus. Dann kann mich Mama besser sehen. Also hinke und flattere und laufe ich. Aber alles, was ich sehe, sind Häuser von Menschen. Von oben sahen die immer so klein aus. Dann müssen Menschen wohl Riesen sein.

Ich hocke mich an einen Abhang. Mein Bein tut weh. Lange kann ich damit nicht laufen. Hier wächst lauter Grünzeug. Ob man das fressen kann? Mein Magen kullert vor lauter Hunger. Igitt! Das schmeckt ja eklig! Außerdem kann ich mich hier überhaupt nicht festkrallen. Ich benutze meinen langen Schnabel, um mich abzustützen, sonst verliere ich das Gleichgewicht. Aber ich muss aufstehen und weiter humpeln. Hier kann ich nicht bleiben. Aua! Das Grünzeug hält mich fest! Lass mich sofort los!

Endlich habe ich beide Beine frei. O Schreck! Da kommt ein Riese auf mich zu. Mein Herz rast. Wie komisch der aussieht. Er hält sich immerzu ein Kästchen vor die Augen, in dem es „klick“ macht. Wahrscheinlich soll ich ihn nicht erkennen. Dabei gucke ich ihn vor lauter Angst schon gar nicht an! Wenn er noch näher kommt, hacke ich mit dem Schnabel. Mama! Wo bist du? Hilf mir doch!

Ich setze meinen wütendsten Blick auf. Vielleicht hilft der! Warum fragt der Riese nur in einem fort: „Ja, wer bist du denn?“ Wenn ich ihm antworte, versteht er mich doch sowieso nicht! Warum versucht er denn, mich in den Wald zurückzutreiben? Da komme ich doch gerade her! Irgendwann gibt der Riese auf und geht zu seinem Haus zurück. Gott sei Dank.

Humpelnd und flatternd bewege ich mich vorwärts. Aber wohin ich auch gucke: Nur Häuser. Kein Reiher-Papa. Keine Reiher-Mama. Noch nicht mal Emilia. Und kein Fressen …

Irgendwann kann ich nicht mehr. Ich hocke mich unter einen Busch vor einem der Häuser und warte. Einmal meine ich, dass Tante Agathe und Onkel Hugo über mich hinwegfliegen. Ich rufe leise „kräck“. Aber sie hören mich nicht. Wenn ich nicht bald was zu fressen kriege, falle ich um.

Hilfe! Da kommt ein Fuchs! Langsam schleicht er auf mich zu. Aber kampflos kriegt der mich nicht! Komm nur her, du komisches Vieh! Er sieht bloß ganz anders aus, als Mama ihn immer geschildert hat. Dieser hier ist weiß mit schwarzen Flecken und sagt „Miau“. Sicher eine ganz besondere Sorte Fuchs. Ich hacke nach ihm. Ha! Das hat gesessen! Er springt zurück und versucht, mich mit seiner Pfote zu kratzen. Ich hacke hinein. Treffer! Ich humpele ein paar Schritte zur Seite. Der Fuchs schleicht mir nach und will mich von hinten anspringen. Ich drehe mich um. Da ertönt ein lautes „Miez! Miez! Ja, was hast du denn da?“ Ein Riese kommt aus dem Haus. Der Fuchs kann aber auch keine passende Antwort geben. Immerhin läuft er dem Riesen entgegen und lässt mich in Ruhe. Ich würde auch laufen, kann aber nicht. Wie angewurzelt bleibe ich hocken und kneife die Augen zu. Vielleicht sieht mich jetzt keiner. Aber ich spüre, wie der Riese auf mich zukommt. Tu mir nichts! Bitte! Tu mir nichts! Er bleibt vor mir stehen und fragt: „Ja, wer bist du denn?“ Ob Riesen nur diesen einen Satz sagen können? Ich öffne vorsichtig ein Auge, dann das andere. Einer Gefahr muss man mit offenen Augen begegnen, hat Papa immer gesagt.

 

Der Riese holt eine kleinere Riesin. Sie redet auf mich ein. Ich habe Hunger! Versteht das keiner? Ich war den ganzen Tag unterwegs und bin hundemüde. Außerdem wird es schon wieder dunkel. Die beiden Riesen packen mich in einen Kasten und bringen mich in das große Haus. Sie haben auch was zu fressen für mich. Freiwillig sperre ich den Schnabel aber trotzdem nicht auf. Schließlich schlucke ich doch, was man mir eintrichtert. Schmeckt komisch, aber besser als nichts.

Eine weitere Nacht ohne Mama und Papa und Emilia. Bevor ich einschlafe, nehme ich mir vor, dass ich in Zukunft ein bisschen freundlicher zu meiner Schwester sein will, wenn ich zurückkomme. Auch wenn sie mir immer das Futter vor dem Schnabel wegschnappt.

Der Kasten, in dem ich schlafen soll, schaukelt zwar nicht wie unser Nest, aber er gefällt mir trotzdem nicht. Die Riesen schreien so laut und der komische Fuchs wohnt bei ihnen. Ich dachte immer, Füchse wohnen nur im Wald. Das muss ich dringend Papa erzählen, wenn ich wieder daheim bin.

Am nächsten Tag setzt man mich auf die Wiese vorm Haus. Und wieder kommen andere Riesen, gucken mich an und sagen: „Ach, du liebe Zeit …“ und „… der arme Kerl …“ Was habe ich davon? Mama! Papa! Wo seid ihr?

Nach einer weiteren Nacht im Kasten wird der plötzlich gepackt und mit mir in ein blechernes Ungetüm verladen. Ich sitze auf dem Boden der Kiste und schlottere vor Angst. Es ist stockdunkel und rumpelt entsetzlich.

Plötzlich wird es blendend hell. Wieder stehen Riesen da, aber ich darf aus der Kiste und mich in hohes Gras hocken. Ich bin ganz wacklig auf den Beinen. Jemand hält mir was zu fressen hin. Aber ich will nicht. Mein Magen revoltiert von all den Aufregungen. Ich würge alles wieder aus. Eine Riesin, die mir auf Anhieb sympathisch ist, versucht, mir was anderen anzubieten. Lasst mich doch einfach in Ruhe! Die, die mich in der Kiste brachten, verschwinden. Es ist ein ewiges Kommen und Gehen. Ich muss hier bleiben. Mir ist auch schon ziemlich alles egal. Schlimmer kann’s nicht mehr werden. Papa, Mama und Ermilia werde ich wohl nicht mehr wiedersehen. Das wird mir erschreckend klar.

Nach einer Woche gewöhne ich mich langsam an mein neues Zuhause. Meine Pflegemama ist aber auch wirklich ganz lieb zu mir. Ich kriege Feines zu futtern und sie krault mich, um festzustellen, ob ich richtig satt bin. Hmmm! Das habe ich gern!

Heute Nachmittag hatte ich sogar Besuch: Die beiden Riesen, die mich hierher gebracht haben. Gott sei Dank wollten sie mich nicht wieder in den Kasten sperren. Eigentlich wollte ich gerade Mittagsschlaf halten. Jedenfalls habe ich unverblümt gegähnt, um ihnen zu zeigen, dass sie recht ungelegen kamen. Aber sie haben nur gelacht und gemeint, ich sähe schon viel wohler aus als vor einigen Tagen.

Meine Pflegemama und ich verstehen uns von Tag zu Tag besser. Sie weiß, dass auch bei Reihern die Liebe durch den Magen geht. Wenn ich sie gelegentlich in den Po zwicke, wenn sie vorübergeht, ist das Ausdruck meiner höchsten Wertschätzung. Ich hoffe, sie erkennt das an.

Ich bin hier auch gar nicht allein. Meine Pflegemama hat noch einen Turmfalken, der offenbar geheilt ist. Eines Tages ist er aus seiner Voliere verschwunden, aber die Tür zu seiner Behausung steht offen. Ich habe mir die Villa mal angesehen und fand sie recht passabel und wie für mich gemacht. Ab sofort war das mein Nest.

Abends fing es wieder an zu stürmen und zu regnen. Die ganze Welt war rabenschwarz. Ich hasse dieses Wetter! Damit fing doch auch mein ganzes Unglück an! Seitdem habe ich ein Sturm- und Regentrauma. Aber ich wusste mir zu helfen. Ich spazierte zu meiner Pflegemama an die Terrassentür und klopfte. An der Frau ist wirklich ein Reiher verloren gegangen! Sie verstand mich sofort und ich durfte in ein großes Holzhaus umziehen, in dem ich schon vorher einige Tage zubrachte. Kaum hatte ich’s mir da bequem gemacht, kam eine dieser schrecklichen Windböen und warf die Voliere um. Wäre ich nun noch drinnen gewesen … Nicht auszudenken! Am anderen Morgen hat meine Pflegemama gesagt, ich wäre ein kluger Vogel. Das weiß ich schon lange.

Vor einigen Tagen hatten Blaumeisenkinder bei meiner Pflegemama im Garten Flugunterricht. Die stellen sich vielleicht ungeschickt an! Na gut, bei mir klappt das auch noch nicht so ganz, aber ich arbeite daran.

Meine Pflegemama sagt, ich wäre jetzt schon vier Wochen bei Ihr. Leider habe ich total vergessen, für jeden hier verbrachten Tag einen Strich an die Wand in meiner Holzvilla zu malen. Aber ist auch egal. Papa und Mama haben sich nicht mehr blicken lassen und langsam weiß ich schon gar nicht mehr, wie sie aussehen. Von Emilia ganz zu schweigen.

Nur mein Hinkebein ist immer noch nicht wieder richtig in Ordnung, aber Gott sei Dank fummelt auch keiner dran rum. Das wird schon wieder. Ein Reiher kennt keinen Schmerz. Meine Flügelfedern wachsen auch langsam wieder nach. Es braucht alles seine Zeit.

Warum nur meint meine Pflegemama, ich wäre ein bisschen langsam? Insgesamt gesehen. Na, das liegt doch in meinen Genen! Wie das wohl aussähe, wenn ich wie ein Kolibri hin- und herschwirren würde! Meine richtige Mama hat immer gesagt, dass man sich immer langsam anpirschen muss, um dann stundenlang auf einem Fleck zu verharren. Und dann im richtigen Augenblick – zack! – zupacken. Prompt hat man den Fisch. Ich hab’s zwar noch nicht ausprobiert, aber das wird schon so richtig sein. Aber wie soll man das einem Menschen klar machen!

Immerhin habe ich jetzt schon eine wichtige Aufgabe: Ich bin Wach- und Schließgesellschafter. Wenn meine Pflegemama nicht da ist, passe ich aufs Haus auf. Gaaaanz langsam und würdevoll schreite ich dann das Terrain ab und gucke, ob auch alle Fenster zu und die Türen geschlossen sind. Wenn nicht, kann ich’s auch nicht ändern. Wenn Fremde kommen, ziehe ich mich allerdings lieber in meine Holzvilla zurück. Wer weiß, was die im Schilde führen. Aber sonst bin ich ein guter Aufpasser. Meine Pflegemama hat bisher noch keinen Grund zum Klagen gehabt.

Gelegentlich mault sie aber doch. Ich habe mir nämlich die Terrassentür als Schlafplatz ausgesucht. Der hat sich gut bewährt, als es so stürmte und ich Bescheid sagen musste, weil die Voliere wackelte und später umkippte. Jetzt möchte ich lieber gleich in der Nähe meiner Pflegemama sein, falls wieder ein Sturm kommt. Das kann man mir doch nicht verdenken!

Weil sie mich aber so gut verpflegt, hinterlasse ich auch etliche reiherliche Stoffwechsel-Endprodukte. Habe ich doch bei Papa und Mama auch so gemacht! Deswegen so ein Trara zu machen! Verstehe ich nicht. Meine Pflegemama putzt meinen Schlafplatz immer wieder schön sauber. Dann macht es hinterher noch mal so viel Spaß, ihn mit weißen Klecksen zu verzieren! (Das darf sie aber nicht wissen. Sonst meint sie noch, ich will sie ärgern.)

Jetzt habe ich sogar eine Freundin. Na ja, so richtig vielleicht nicht, aber wir können uns wenigstens miteinander unterhalten. So von Vogel zu Vogel. Else heißt sie, Else Elster. Seit Tagen hockte sie immer im Kirschbaum und hat mich mit schief gelegtem Kopf beobachtet.

„Wie heißt du?”, krächzte sie plötzlich.

„Emil Reiher!”, antwortete ich.

Statt sich selbst vorzustellen, kriegte sie einen Lachanfall.

„Reiher?”, kicherte sie immer und immer wieder. „Das sind doch diese Stinklangweiler, die stundenlang am Ufer vom Teich stehen, bis sie was zu fressen finden! So einer bist du?” Und wieder gackerte sie laut. Da hat’s mir aber gelangt!

„Du hast ja keine Ahnung!”, fauchte ich sie an. „Das muss man machen, wenn man sich einen leckeren Fisch fangen will! Ich möchte nicht wissen, wie lange du dazu brauchen würdest! Du mit deinem kurzen Schnabel!”

Jetzt hatte ich es ihr aber gegeben!

Else kriegte schon wieder einen Lachkrampf. Sie erzählte mir, dass sie gar nicht fischt, sondern so ziemlich alles frisst, was ihr in die Quere kommt. Igitt!

„Warum stolzierst du denn hier herum und fliegst nicht zum Teich?”, fragte sie neugierig. Da hatte sie natürlich meinem wunden Punkt erwischt. Als ich ihr aber von meinen Abenteuern mit den Menschen erzählte, wurde sogar sie recht schweigsam.

„Da hast du ja schon allerlei erlebt, kleiner Kerl!”, meinte sie zum Schluss unserer Unterhaltung. Sie spreizte ihre Flügel und flog davon.

Ich will auch fliegen können. Ob ich mal meine Pflegemama frage, wie ich das anstellen soll? Aber ich habe sie noch nie fliegen sehen. Menschen können das vielleicht überhaupt nicht. Aber ich will mich nicht noch mal vor Else blamieren. Heute Abend in der Dämmerung werde ich Fliegen üben, wenn’s keiner sieht.

Ich habe festgestellt, dass beim Fliegen Start und Landung das Schwierigste zu sein scheint. Erst muss man die Flügel ausbreiten, damit man hoch kommt und hinterher braucht man sie wieder zum Abbremsen, damit man nicht auf die Erde plumpst. Am besten ist es, ich lande auf einem Baum. Aber dicke Zweige muss er haben, sonst biegen sie sich durch und ich rutsche ab und muss flattern, um das Gleichgewicht halten zu können. Schließlich bin ich inzwischen ein schwerer Junge. Aber wenn ich richtig fliegen kann, finde ich vielleicht Papa und Mama wieder. Oder Emilia. Ich suche sie einfach.

Else hat gesehen, dass ich Fliegen geübt habe. Sie ist ein Stück mitgeflogen und hat mich hinterher gelobt. Das will was heißen! Wenn meine Pflegemama von der Arbeit kommt, stehe ich natürlich daheim an der Terrassentür. Sie muss ja nicht wissen, was ich vorhabe. Vielleicht ist sie dann traurig, weil ich weg will.

Jeden Tag fliege ich ein Stückchen weiter. Heute sogar bis zum Kirschbaum im Feld und wieder zurück. Die Welt sieht toll von oben aus! Die Häuser sind ganz klein! Und die Menschen erst!

Ich habe mir vorgenommen, morgen ganz weit zu fliegen. Else hat versprochen, mich ein Stück weit zu begleiten. Sie will mir die Richtung zeigen, damit ich Papa, Mama und Emilia wiederfinde. Ich mache mich einfach davon, wenn’s keiner merkt. Dann fällt der Abschied nicht so schwer. Vielleicht komme ich ja doch noch mal wieder.

Nachsatz:

Emil kam nicht zurück. Seine Pflegemama trauerte ihm ein paar Tage nach, war aber trotzdem glücklich, dass er ganz allein seinen Weg in die große weite Welt gefunden hatte.

Ein Jahr später saß einer der sonst so scheuen Vögel stets in der Nähe der Häuser auf einem Dach und hielt Ausschau. Ob es Emil war? Wer weiß …

IM WARTEZIMMER

Schon beim Betreten des Raumes spüre ich die kritischen Blicke der lieben Mitwartenden. Sie durchbohren mich förmlich. Auf meinen halblauten Gruß hin erhebt sich allgemeines Gemurmel. Ich kann es sowohl als „Guten Tag“ aber auch als „Geh zum Teufel“ interpretieren.

Ich angele nach einer gut gebrauchten Illustrierten vom Tisch, um mich möglichst unauffällig über deren Rand hinweg zu vergewissern, wie viele Leidensgenossen ich noch durchzulassen habe, ehe ich den Quell des Heils – das Sprechzimmer des Arztes – erreiche. Vorläufig haben nämlich die Götter das Warten vor das Ziel gesetzt. Und trotz Termin kommen seltsamerweise immer andere vor einem dran. Zwei Klassen-Medizin: Ich bin Zweitklässler.

In der ergatterten Zeitung strahlen mir trotz eisiger Außentemperaturen süße Bikinimädchen entgegen. Ich forsche leicht irritiert nach dem Datum des Blättchens: Na klar! Vom letzten Sommer. Jaja, der Onkel Doktor kann sich auch nicht ständig neue Zeitungen leisten.

Zwischenzeitlich zähle ich diskret die Vorzulassenden. Elf. Für jeden eine Viertelstunde sind hochgerechnet 11 Viertel, also rund drei Stunden plus/minus etwas. Bis dahin kann ich das Blättchen auswendig.

Ich schaue mir die Mitwartenden genauer an. Da ist zunächst die Dame undefinierbaren Alters. Kluge Augen hinter getönter Brille. Lehrerin? Sie hat sich ihren eigenen Lesestoff mitgebracht. Intellektuellen, versteht sich. Recht hat sie.

 

Daneben ein Herr, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Ephraim Kishon hat. Ständig dreht er an seinem Ehering. Erklärlich, seine bessere Hälfte, die auf den nächsten anderthalb Plätzen thront, erdrückt den Ärmsten fast. Sie versucht, ihn über Diät-Rezepte aufzuklären, die sie gerade in einem der anderen zerfledderten Blättchen fand. Aber Männe mag keine Rezepte hören. Er starrt lieber auf seine Hände und dreht und dreht. Vielleicht ist er Dreher von Beruf?

Als nächster ist wohl der Dürre mit den Spinnenfingern an der Reihe. Mutti hat ihn richtig herausgeputzt für den Onkel Doktor. Sie ist auch lieber gleich selbst mitgekommen. Irgendetwas scheint sie aber an seiner Garderobe übersehen zu haben: Auf seiner Hose befindet sich offensichtlich ein Staubkörnchen oder ein unsichtbares Fädchen. Es erregt den Unwillen des Trägers. Ständig ist er bemüht, etwas abzuklopfen oder abzuzupfen. Mutti versucht inzwischen nach Art der Weitsichtigen, Zeitung zu lesen, so weit ihre Arme reichen.

Dann ist da noch der junge Fußball-Fan. Sein T-Shirt dokumentiert, zu welchem Club er sich hingezogen fühlt. Hin und wieder unternimmt er den Versuch, gewaltsam seine Finger zu verkürzen, indem er an den Nägeln nagt. Als das nichts fruchtet, beginnt er unhörbare Etüden auf seine Jeans zu hämmern.

Auf einem anderen Stuhl hockt ein junger Mann mit Pop-Socken und erklecklich langen Beinen. Zum xten Mal liest er jetzt seinen mitgebrachten Flyer. So viel kann doch unmöglich dadrin stehen?

Die junge Dame neben dem Gummibaum versucht, gegen eine Bronchitis anzukämpfen. Diese behält jedoch die Oberhand und elegant flötet die Frau ihre Bazillen durch die sorgsam manikürte Hand hin zur Allgemeinheit. Sie teilt offenbar gern …

Und dann ist da noch ein betagtes Ehepaar und eine etwas griesgrämig dreinblickende Dame, die versucht, mit Hilfe eines Tüchleins die Bazillen der jungen Frau zu erlegen. Waidmannsheil!

Inzwischen ist noch ein älteres Frauchen mit dem üblichen Rhabarber-Gemurmel empfangen worden. Sie hört kaum hin, packt ihr Strickzeug aus und versinkt in eins links-eins rechts-Apathie …

Dieser anheimelnde Raum wird weiterhin noch von einem lädierten Schirmständer, einem poppigen Papierkorb und einem steril sauberen Waschbecken bevölkert. Der Doc sollte allerdings mal den Wasserhahn zur Kur schicken. Allerdings beim Klempner. Er tropft und tropft und nervt und nervt … Und noch immer vierzig Minuten bis zur Sprechstunde …

„Ephraim Kishon“ ist von seiner Dreherei abgekommen. Er hat etwas Neues: Er hält seine Finger gelenkig, indem er an jedem kurz reißt. Das ergibt in jedem Fall ein apartes Knackgeräusch. Seine Gattin blickt indigniert. Junge lass das! Gleich gibt’s was auf die Finger!

Der Spindeldürre hat sein Staubkörnchen immer noch nicht erwischt. Stattdessen hat Mutti ein Rezept in einer Zeitung entdeckt, was wert ist, abgeschrieben zu werden. Sie kramt in ihrer Tasche und fördert nacheinander Hustenbonbons, Knirps, eine leere Ausweishülle und ein penetrant nach Leberwurst riechendes Butterbrot zutage. Alles wird hübsch sauber auf die ausgelegten Zeitungen auf dem Tisch drapiert. Nach dem Hausschlüssel und einem leeren Brillenetui erblickt dann noch ein Briefumschlag das Licht des Wartezimmers. Der müsste eigentlich als Notizzettel reichen. Nur Mutti kann immer noch nicht schreiben. Sie vermisst ihre Brille. Der Dürre leiht seine her, nur die rutscht Mutti ständig von der Nase. Das Unternehmen „Rezeptabschreiben“ wird abgeblasen. Sämtliche Utensilien verschwinden wieder im Dunkel der Handtasche.

Inzwischen hat der junge Mann aus seinem Flyer eine Fliegenklatsche gefaltet. Aber nun gibt es keine Fliegen und die Klatsche passt nicht in seine knallengen Jeans. Pech für ihn.

Die junge Dame schnüffelt und der Bubi vom 1. FC Wadenbrecher spielt seine Chopin-Etüde auf seiner Hose zum fünften Mal.

Und der Wasserhahn tropft … Immer noch 20 Minuten bis zur Sprechstunde.

Jemand rumort’s im leeren Magen. Alle Blicke wenden sich ihm zu. Einige lächeln verständnisinnig. Beschämt betrachtet der Knurrer seine Schuhspitzen. Ach ja, nüchtern kommen und dann so lange warten müssen ist eine Tortur.

Vielleicht sollte man mal laut einen zünftigen Witz erzählen, damit alle mal herzhaft lachen. Oder man könnte einen Sirtaki tanzen, weil einem sonst die Beine vom langen Warten einschlafen. Nicht nötig! In diesem Moment kommt ein Neuer. Er humpelt auf den Dürren zu: Arbeitskollegen. Endlich kommt Schwung in den Wartezimmer-Mief. Der Neue ist nämlich Experte. Bandscheibe. Nicht bei sich, nein, bei der Freundin von der Cousine seiner Schwägerin. Entsetzlich, was die Frau mitgemacht hat! Unverblümt und lautstark lässt er alle Umsitzenden an dem Martyrium teilhaben. Während er bis ins Kleinste von Krankengeschichten, Kliniken, Ärzten mit Fehlurteilen, Streckbetten und so weiter erzählt, hören alle ergriffen zu und lassen sich einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagen. Fürchterlich! Grausam! Da kann man mal wieder sehen … Es geht doch nichts über die eigene Gesundheit! Ach, diese Ärzte …

Tropf – tropf – tropf

Jetzt sind’s nur noch fünf Minuten bis zur Sprechstunde …

Der Boulevard-Blättchen-Mann ist es leid, nach Unterbringungsmöglichkeiten für seine Zeitung zu suchen. Er nimmt all seinen Mut zusammen, durchmisst gelassenen Schrittes unter den prüfenden Augen der übrigen Wartenden das Zimmer und schon endet das Presse-Erzeugnis mit einem lauten „blöbb“ im Papierkorb.

Die junge Dame hustet geräuschvoll und lutscht ihr zwölftes Hustenbonbon. Der Bubi scheint sein Pensum für die Klavierstunde zu beherrschen. Sein Getrommel hat aufgehört.

Plötzlich tut sich was im Nebenzimmer. Gespräche, Schritte. Alle halten den Atem an. Ist’s soweit? Da quäkt schon der Lautsprecher: „Der Nächste bitte!“ Der Glückliche erhebt sich steifbeinig und verschwindet. Er hat’s geschafft!

Und plötzlich ist der Bann gebrochen. Alle reden miteinander, nicht mehr halblaut und verklemmt, sondern ganz normal. Dagegen kommt die Bandscheibe nicht mehr an.

Wem diese Story bekannt vorkommt, der ist garantiert Kassenpatient. Alle Privatversicherten bitte weghören!