Der lange Weg nach Alt-Reddewitz

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Der lange Weg nach Alt-Reddewitz
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Ulfried Schramm

DER LANGE WEG NACH ALT-REDDEWITZ

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2021

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen National

bibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Illustrationen: Details von beklebten Papp

schachteln mit Papierfetzen, Filzstift; Corp.

Ulfried Schramm 2020

Lektorat: Andrea Groh, Schwarzenberg

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Der lange Weg nach Alt-Reddewitz

Zum Tee bei Onkel Béla

Kahlisch wird Brautführer

Go west – Der

Minka

Das Lesezeichen im Heft

Hans L.

Das Lager in den Wiesen

Die Stadt brennt und Kahlisch wird geboren

Rodeln im Park

Kahlisch wird Wettkampfschwimmer

Backofen

Hardy Mansardy

DREIKLANG EINS

Meine Tage mit Vroni

DREIKLANG ZWEI

Nächte mit Jacqueline

DREIKLANG DREI

Kunst mit Monika

Das bewegte Porträt

Ulla

DER LANGE WEG NACH ALT-REDDEWITZ II

Kahlischs Kunst trug die ersten Früchte. Er bekam die besondere Gelegenheit, seine Tuschezeichnungen von Alt-Reddewitz in einer Personalausstellung zu zeigen. Interessierte Menschen würden kommen und seine Bilder sehen.

Der kleine Raum im Jagdschloss hatte die richtige Größe für seine erste Ausstellung. Der Gedanke, seine Kunstwerke öffentlich zu zeigen, beflügelte ihn bei sämtlichen Vorbereitungsarbeiten.

Den Ausstellungsraum kannte er bereits. Er hatte zwei Renaissancefenster, die Decke lief in der Mitte spitz zu und endete an zwei runden Pfeilern in den Seitenwänden. Die Tür war dick und massiv in einem gewölbten Rahmen. Man konnte auch etwas in der Mitte des Raumes platzieren. Kahlisch dachte an die schöne, große Figur, die in seiner Küche stand. Eine Madonna-Skulptur, die er aus einem ganzen Holzblock gefertigt hatte. Sie eignete sich gut, um mit den Tuschezeichnungen an den Wänden zu korrespondieren.

Kahlisch kaufte Bilderrahmen und legte einige Zeichnungen mit Passepartout ein. Das sieht gut aus, sagte er laut zu sich selbst und eine feine innere Stimme antwortete: Wow, Kahlisch, du könntest jetzt ein bisschen Gas geben, oder die Skier etwas nachwachsen oder mit Leichtbenzin fahren, oder, oder, oder … denn der lange Weg erfordert Speed, Speed, Speed …

Die Tuschezeichnung vom alten Gehöft in Alt-Reddewitz mit der Esche im Vordergrund und dem weiten Blick über den glitzernden Bodden war ihm grafisch gelungen und hatte den stärksten Ausdruck. Man blickte so auf das Bild, dass man die kleine Erhebung im Gelände spürte, auf der er damals gestanden und diese Zeichnung angefertigt hatte. Man sah den alten Bauernhof. Seitlich davon hingen die Fischernetze zum Trocknen, daneben lag ein umgelegtes Holzboot im Gras. Bäume und Sträucher säumten den Eschehof ein.

Auf dem Bild waren seine Tuscheflecken mit feinen Linien und Strichen so verbunden und dargestellt, das sein künstlerischer Duktus gut zu sehen war. Ein passender Bilderrahmen brachte den letzten Schliff.

Zur Eröffnung gab es Sekt, eine Lobrede, Kunstbetrachtungen und persönliche Gespräche mit den Besuchern.

Kahlisch war mit dieser Ausstellung an einem guten Anfang für sein künstlerisches Schaffen. Es sollte für ihn damit weitergehen, er wollte im kreativen Tun keine Pause eintreten lassen.

Hey, Kahlisch, sagte seine innere Stimme da zu ihm. Dein Typ ist jetzt gefragt, mach dich auf den Weg. Merkst du nicht, wie du es in der Hand hast, endlich deinen immer wieder hoch kochenden Kunstsinn sprudeln zu lassen? Die Leute wollen mehr sehen von dir …

Ja, murmelte Kahlisch, ich mach was d’raus, schöpferisch soll es bei mir werden.

Im Außengelände des Jagdschlosses entdeckte Kahlisch an alten Gemäuern hochrankende Pflanzen, seltene Blatt- und Blütenformen, die er zeichnen konnte. Dabei spürte er eine Symbiose in der Darstellung von Pflanzen und Gegenständen. Es entstanden Zeichnungen mit Liniengeflecht und Schnittpunkten.

Kahlisch arbeitete nicht mehr mit Tusche, sondern benutzte einen dicken schwarzen Faserstift. Langsam tastete er sich an die äußeren Strukturen des kleinen Kräuterbeetes heran und übertrug diesen Sinneseindruck auf den Zeichenkarton und malte sogar blind weiter. Das war ein besonderer Reiz für sein künstlerisches Wollen. Er zeichnete damit – die Wirklichkeit vor Augen – seine Bilder in großer, künstlerischer Freiheit.

Das liebte Kahlisch besonders. Es ergaben sich Gebilde in feinsten Strukturierungen. Später setzte er mit farbigen Wachsmalstiften einen individuellen Farbeindruck hinzu, der ebenfalls seiner künstlerischen Freiheit entsprach. Das Gesamtbild verdichtete sich und Kahlisch erntete dafür Aahs und Oohs.

Na, geht doch, flüsterte es in ihm, willst doch ein freier Künstler werden, gell!

Nach der Ausstellung war bekanntlich vor der Ausstellung, und so ging es für Kahlisch in eine neue künstlerische Herausforderung.

Er versuchte sich als Bildhauer bei seinem Freund, dem Steinmetz.

In Sandstein formte er seine erste Figur. Beim Schlagen in den Stein nahm er die

Körperformen eines Eisbären wahr. Der Rücken und der vorgestreckte Kopf des Tieres waren gut zu erkennen. Der Eisbär stand auf einem Eisblock, den Kahlisch gleich als Sockel für die Skulptur nutzte.

Der lange Weg nach Alt-Reddewitz setzte sich fort und Kahlisch bekam neue künstlerische Eindrücke für seinen Werdegang im letzten Abschnitt seines Lebens.

Künstler sind Menschen, die etwas in sich tragen, für das sie noch kein sichtbares, hörbares, greifbares Gegenüber gefunden haben. Bildet sich der Drang, diesem Erleben eine Form, einen sinnlichen Ausdruck zu geben, dann entsteht Kunst, las Kahlisch in der Monatszeitschrift einer Kunstschule.1 Mit diesen Gedanken ging er dort an die neue Arbeit.

Es entstanden unter seinen Händen kleine Skulpturen, fest montiert auf Kirschholzblöcken. Kahlisch erkannte das zündende Kunsterlebnis aus Alt-Reddewitz wieder, wenn er auf seine gesägten, geschliffenen, polierten Arbeiten schaute.

Kunst kommt aus der Finsternis ans Licht, das hatte er bereits beim Malprozess in Alt-Reddewitz erkannt. Im Artikel der Zeitschrift las er weiter: …es geht im künstlerischen Prozess nicht, wie so oft angenommen, um ein Reproduzieren einer gelernten, erübten Fähigkeit, sondern um das Ringen im Ausdruck eines Geheimnisvollen, eines Unaussprechlichen, von dem auch der Künstler zunächst nichts weiß. Erst der künstlerische Akt bringt es hervor, macht sichtbar, hörbar, greifbar, auch für den Künstler selbst …2

Kahlisch hatte in letzter Zeit genügend künstlerische Anregungen bekommen, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Das Machen sollte nun sein Lebensinhalt werden. Er wollte sehen, was in ihm steckte, wollte sichtbar machen, was er noch nicht von sich kannte, wollte andere Menschen teilhaben lassen an seinen kreativen Kunstschöpfungen.

War das Leben schön.

Schweb nicht gleich weg, bleib auf dem Teppich, hol dir den Most da, wo Bartel ihn holt, erklang es etwas frostig aus seinem Inneren. Übrigens ist der lange Weg nur so lang, wie du ihn dir machst.

Im Sommer fand er, wonach er suchte. Es gab ein Kloster an einer einsamen Flussbiegung, mit weitläufigen Gartenanlagen, alten Klostermauern, kleinen Kräutergärtchen, vielen Blumen und Gehölzen. Die Ruhe in der Klosteranlage und der ehrwürdige Ort zogen Kahlisch magisch an. Er erhielt die Unterstützung, um hier zu arbeiten. Mit einer eigenen Ausstellung und einer Kunstwerkstatt für interessierte Menschen erfüllte sich für Kahlisch der lange künstlerische Weg nach Alt-Reddewitz. Später bekam er die Referenz, diese Kunstwerkstatt im nächsten Jahr zu wiederholen.

 

Das Gehöft von Alt-Reddewitz mit der großen Esche wurde zu Kahlischs Piktogramm für seine Kunst.

Seine innere Stimme kicherte ein wenig dazu, und sagte verschmitzt: Na, ich hab dich doch gut beraten, oder?

1 Quelle: Zeitschrift info 3, Sonderheft April 2005, Suche nach Authentizität, Bildhauerei an der Edith Maryon Künstlerschule Freiburg/Munzingen, Geleitwort

2 Quelle: Zeitschrift info 3, Sonderheft April 2005, Suche nach Authentizität, Bildhauerei an der Edith Maryon Künstlerschule Freiburg/Munzingen, Geleitwort

ZUM TEE BEI ONKEL BÉLA

Bèla Bàcsi ist Ungarisch und heißt auf Deutsch Onkel Bèla. Bèla wiederum ist ein ungarischer Vorname und gehört in die deutsche Namensgruppe Adalbert.

Bèla Bàcsi ist in Debrecen zu finden, einer Stadt in der ungarischen Puszta. Diese liegt im Osten der ungarischen Tiefebene. Kahlisch war weder in der Tiefebene noch in Debrecen noch im Osten von Ungarn.

Er kannte aber Onkel Bèla von seinem Aufenthalt in Budapest her. Dort war Kahlisch für mehrere Wochen zum Sommerurlaub. Eingeladen hatte ihn seine ungarische Brieffreundin Erzsi. Onkel Bèla kam eines Tages zu Besuch und brachte gleich seinen Sohn Laci mit, der baldigst Verlobung feiern sollte. Für Kahlisch stellte sich erst viel, viel später heraus, dass Laci es auf die stattliche, hübsche, redegewandte Gymnasiastin Erzsi abgesehen hatte.

Kahlisch war in seiner Naivität völlig überfordert, diese Begegnung zu durchschauen. Er hielt sich an die während des Frühstücks ausgesprochene Aufforderung von Erzsi: Gä-hen wir in Mu-säum!

Kahlisch folgte ihr in sommerlicher Hitze, erst in die einzige Metro-Linie der Hauptstadt, dann über den Heldenplatz und in die Kühle des Kunstmuseums. Hier erfuhr Kahlisch die kuriose Geschichte um den Pferdezüchter Bèla aus Debrecen und seinen Sohn Laci, genannt Ladislaus, der schon lange durch Erzsis Mutter vorbereitet wurde, eine gute Partie für Erzsi abzugeben. Aber für Erzsi war dieser Ladislaus viel zu ungebildet, viel zu unerfahren, viel zu pferdeversessen und viel zu weit weg vom eigentlichen Leben.

Kahlisch fühlte sich in diesem Moment schwebend gehoben. Er war ein gut gewachsener, sportlicher junger Mann aus der DDR, mit ungeahnten Liebesanwartschaften für eine sichere Zukunft. Ein einfacher Student in den Semesterferien, der die abenteuerlichste Reise seines bisherigen Lebens machte, mit dem Nachtzug bis nach Budapest fuhr und in einer völlig unbekannten Stadt auf seine Brieffreundin traf, die ihn für diesen Sommer erwartete.

Beide hatten sich schon in den Briefen sympathisch gefunden, weil sich bei Kahlisch ein Mädchen auf ungewöhnliche Weise brieflich, fotografisch und gedanklich interessant machte. Er hatte darauf mit angemessenen Worten reagiert und Sympathie von Erzsi und auch von ihrer ihm unbekannten Mutter geerntet.

Nun saßen Kahlisch und Erzsi im Museum der bildenden Künste, am kühlen Ort, und überlegten eine Fernhaltetaktik auf Ladislaus und Onkel Bèla.

Die hohen, weiten Räumlichkeiten der Kunsthallen mit ihren dunklen Gemälden und dem hohen Anspruch an die Betrachter waren einfach nicht der geeignete Ort, um bei Kahlisch und Erzsi eine Vertrautheit in ihren Wünschen aufkommen zu lassen.

Sie rannten aus dem Gebäude auf die freie Fläche des Heldenplatzes, versteckten sich abwechselnd hinter den Säulen und wurden immer freier in ihren Sinnesausdrücken.

Kahlisch blickte auf die bronzenen Helden über ihn und Erzsi übersetzte den Text zum Helden. Dabei sprachen sie in zwei Sprachen, Erzsi sagte igen und Kahlisch sagte nein, dann sagte Kahlisch igen und Erzsi antwortete nem. Kahlisch kannte nur das russische Wort für nein, nämlich njet, aber Russisch ist doch nicht Ungarisch, sagte Erzsi zu Kahlisch, und beide lachten im hellen Sonnenschein.

Bei der Rückfahrt in der klapprigen Uralt-Metro standen sie an einer der Haltestangen und setzten ihre Wortspiele fort. Die Gegensätzlichkeiten und Doppelbedeutungen waren eine belebende, lustige Angelegenheit. Erzsi übersetzte alles ins Deutsche. Kahlisch verstand sie nicht so gut, und so kam Erzsi beim Sprechen immer dichter an sein Ohr, sodass sie sich bei der ruckligen Fahrt der Metro ständig berührten. Kahlisch konnte nicht genug davon bekommen. Er nahm die Wörter auf, als wäre Ungarisch seine neue Muttersprache.

Béla Bacsi und Laci machten in der Zwischenzeit Konversation mit Erzsis Mamika in der Küche. Die Mutter kochte, schabte, zerkleinerte, rührte, backte und beide Männer saßen bei einem schwarzen Tee dabei und erzählten von Debrecen, der Pferdezucht und den Aussichten auf gute Geschäfte, auch im Ausland.

Ob Kahlisch in diesen Gesprächen vorkam, wusste er nicht, es war für ihn auch nicht wichtig, weil er an diesem Sonntagvormittag das interessanteste Mädchen von ganz Ungarn besser kennenlernte, das Mädchen, das er schon immer haben wollte.

Die Mittagsmahlzeit bestand aus sechs Menügängen, die Mamika alle in der kleinen Küche gezaubert hatte. Zu fünft saßen sie im kühlen Wohnzimmer am runden Tisch, sprachen ein ungarisches Gebet, verschlangen die aufgetragenen Speisen mit Blicken und wurden von der Mutter bedient – Hühnerbrühe, Hühnerklein mit Gemüse, Eierkuchen, Schnitzel mit Gemüse und Kartoffeln, Apfelstrudel, Kaffee und Soda-Viz.

Kahlisch hatte noch nie in seinem Leben so viel gegessen. Die anderen ließen den einen oder anderen Essensgang aus. Sie waren schon geübt, ein so reichliches ungarisches Sonntagsessen schadlos zu überstehen.

Das Wohnzimmer lag zur Innenhofseite des Häuservierecks. Hier war es ruhig und kühl. Vom Fenster aus sah man auf die Etagengänge der Stockwerke des hohen Gebäudekomplexes aus der Gründerzeit.

In der Wohnung herrschte trotz der Sommerhitze ein eigenwilliger Dämmerzustand, der durch die altertümlichen Möbel noch unterstrichen wurde.

Kahlisch fügte sich erstaunlich gut in dieses Ambiente ein, er saß im Sessel und hörte zu, wie Onkel Béla und Erzsis Mutter auf Ungarisch Konversation betrieben. Ab und zu nickten sie zu ihm hinüber, Kahlisch konnte sich denken, dass sie über ihn sprachen.

Als sie wieder einmal mit dem Kopf zu ihm hindeuteten, stand Erzsi unvermittelt auf, rief ihrer Mutter und Onkel Béla ein Auf Wiedersehen zu, erklärte Kahlisch das gemeinsame Nachmittagsprogramm, fasste ihn an der Hand, verließ mit ihm das Haus und zusammen liefen sie zur nahen Elisabethbrücke, die Erzsis vollständigen Namen trug.

Sommerhitze in Budapests Straßen. Erzsi trug ein orangefarbenes, enges Trägerkleid aus Frottee mit einer aufgenähten Tasche am Rocksaum, aus der eine gestickte, dunkelrote Rose bis in das Oberteil des Kleides wuchs, dazu Sandalen, eine Pagenkopffrisur, eine große, weißgerahmte Sonnenbrille. Ihre gebräunte Haut ließ Kahlisch nicht mehr los. Die Sehenswürdigkeiten der Stadt nahm er nur schemenhaft wahr.

Sie waren jetzt schon über zwei Stunden mit Tram, O-Bus und zu Fuß unterwegs. Erzsi sprach Deutsch und erklärte alles wie eine Reiseführerin, die ein gutes Programm zusammengestellt hatte.

Auf den Treppenstufen zur Donau machten sie eine Pause. Kahlisch starrte auf den sanft fließenden Fluss, auf die Liebespaare um sie herum und auf den kurzen Rock an Erzsis Oberschenkel.

Kahlisch hatte keine Scheu, sie so zu fotografieren. Ein Kunstfoto auf den Donautreppen an der Elisabethbrücke. Erzsi blickte in die Kamera und auf Kahlisch.

Er hatte so frei noch nie in seinem Leben fotografiert, noch nie so ruhig ausgelöst und war sich noch nie so sicher über das Endergebnis der Bilder gewesen, die ihm erst viele Wochen später genau dieses Erlebnis zeigten.

Erzsi suchte etwas in ihrer Tasche und Kahlisch setzte sich zu ihr auf die höhere Stufe. Weil er so nah bei Erzsi war und weil so viele Liebespaare um ihn herum waren und weil er Erzsi himmlisch fand, küsste er sie in die Schulter-Hals-Beuge. Erzsi wendete den Kopf und erwiderte seinen Kuss mit einem langen, langen Kuss auf Kahlischs Mund, schaute danach über das Wasser und zeigte in Richtung Buda mit dem Gellértberg und sagte: Morgen gä-hen wir auf Zi-ta-de-ll-a.

Béla Bacsi und Laci standen für die Heimfahrt im Flur der Wohnung bereit. Kahlisch und Erzsi konnten ihnen noch einen Abschiedsgruß zurufen, bevor die Pferdezüchter nach Debrecen zurückfuhren.

Übrigens, zum Tee bei Onkel Béla ist es für Kahlisch deshalb nicht gekommen, weil das große Leben, das vor ihm lag, etwas ganz anderes mit ihm vorhatte.


KAHLISCH WIRD BRAUTFÜHRER

Der Braunkohletagebau war heute, wie in den letzten Tagen, kaum vom gelblich-grauen Himmel zu unterscheiden. Hier und da ragte etwas von der Förderbrücke heraus. Der Abraumbagger war ein rundes Etwas, Himmel und Erde waren für Kahlisch eine übergangslose graue Masse. Er fuhr mit dem Baustellenbus zur Arbeit und blickte zur Seite auf das große Loch, das von Tag zu Tag immer gewaltiger wurde. Dieser Morgen hatte eine eigenartige Tönung für alles, was Kahlisch mit den Augen erfassen konnte.

Zurzeit arbeitete er als Maurer mit den Stuckateuren in einem Gebäude. Die Industriebauten standen im abraumsicheren Gelände und dienten als Sanitäranlagen, Garagen oder Werkstätten. Die Gipser, wie sie auf der Baustelle genannt wurden, in ihren weißen Arbeitsanzügen und den weißen Arbeitsmützen waren eine Sonderklasse auf dem Bau. Für Maurer galt auch weiße Arbeitskleidung, aber Kahlischs Brigade war ein zusammengewürfelter Haufen aus Maurern, Betonleuten und Handlangern, die selten weiße Hosen und Jacken trugen. Eine individuelle Arbeitskleidung herrschte vor. Kahlisch trug eine nicht mehr ganz neue Maurerjacke, hatte einen grünen, altertümlichen Filzhut auf dem Kopf, der ihn unverwechselbar machte, und dazu dunkelgraue Alltagshosen. Die Füße steckten in Gummistiefeln.

Kahlisch lief durch eine Werkhalle, die innen ausgebaut wurde und im Rohbau stand, hatte sein Werkzeug unter den Arm geklemmt und schritt zielstrebig auf seinen Arbeitsplatz zu. Der Innenausbau sollte an diesem Wochenende mit einer Feierlichkeit abgeschlossen werden.

Verwaltungsgebäude, Gaststätte, Kulturraum gehörten ebenso zum Übergabeprotokoll. Die Arbeiter hatten somit ganz nebenbei ordentliche Toiletten, die schon funktionierten. Es gab auch zwei Badewannen als Extra in einem Gebäude, aber die blieben bis zur Übergabe trocken.

Kahlischs Vor- und Zuname wurden plötzlich in der Halle laut ausgerufen und bevor er aufblicken konnte, stand schon der Telegrammbote vor ihm. Der Bote trug einen dunkelgrauen Dienstanzug mit Silberknöpfen, hatte eine Dienst-Schirmmütze auf dem Kopf und nahm aus der Umhängetasche ein Telegramm, überprüfte den Namen und händigte den kleinen, ineinandergesteckten und gefalteten Zettel an Kahlisch aus.

+brautfuehrer fuer hochzeit von h. +samstag+ 13.30 uhr+ +mutti+

Das stand in Handschrift auf dem schmalen Telegrammzettel.

Heute war Donnerstag, noch zwei Tage, dachte Kahlisch. Er musste am Abend zurücktelegrafieren, wenn er aus der Zehn-Tage-Arbeitswoche herauskommen sollte. Er kam heraus, die Brigade ließ ihn Hochzeit feiern und machte die üblichen Witze dazu, denn Kahlisch war seit drei Monaten im hochzeitsfähigen Alter und sollte doch erst einmal probieren, wie sich Heiraten anfühlte …

Ein älterer Handlanger kam sogar in der Frühstückspause ins Schwärmen, als er von der Hochzeit hörte: Wenn man jung ist und die Braut an der Seite führen kann, spürt man seine wahre Größe und bekommt die richtigen Lebensgefühle für das eigentliche Dasein auf Erden. Der Handlanger sprach das in der Bauarbeiterbaracke sehr sinnig aus und erntete von den rauchenden und kauenden Kumpels zotige Antworten. Kahlisch war mehr verunsichert als ermuntert und seine Ohren röteten sich.

Das Zusammentreffen mit Kahlischs Mutter, der Brautjungfer und einem Koffer, in dem sich Kahlischs dunkelblauer Sonntagsanzug, seine Sonntagsschuhe und eine helle Krawatte befanden, gestaltete sich problemlos. Die abseits gelegene Bank gehörte zu einer Parkanlage, die sich in der Stadt befand, in der die Hochzeit stattfinden sollte. Dort wechselte Kahlisch seine Alltagssachen, sodass er sich in einen ansehnlichen Brautführer für seine Brautjungfer verwandelte. Sein sonnengebräuntes Gesicht passte gut zum weißen Oberhemd und der silbergrauen Krawatte. In einem kleinen Spiegel sah Kahlisch auf sich und seine anmutig zurechtgemachte Hochzeitsdame. Kahlisch war etwas größer als sie und probierte mit ihr das Unterhaken und das Halten des kleinen Brautstraußes. Er passte gut zu ihrem bunten Sommerkleid, das sie mit einem Petticoat trug.

 

Sie waren ein vorzeigbares Paar. Alle Brautjungfern im aufgestellten Brautzug bekamen vor der Kirche eine kleine Schleife für ihre Biedermeiersträuße.

Eben war Kahlisch noch auf der Baustelle gewesen und jetzt stand er mit einer jungen Frau Arm in Arm in ungewohnter Manier im Kreise aller Hochzeitsgäste und wurde begutachtet. Alle kannten sich aus früheren Begegnungen, sodass kein steifer Anstandszwang aufkam. Das Hochzeitszeremoniell wurde besprochen und die Glocken läuteten. Der Brautzug formierte sich. Vorn schritt das Brautpaar. Die Braut war an der linken Seite des Bräutigams und wurde von ihrer Mutter geführt. Danach kam das Defilee der Brautjungfern mit ihren Führern und weil es ein kleiner Brautzug war, nahmen sie hinter dem Brautpaar Platz. Kahlisch hatte ein stolzes, ungewöhnliches Lebensgefühl beim Einzug in den hohen Kirchenraum.

Er saß im Halbrund mit den anderen Hochzeitsgästen und sah auf den Pfarrer, den stillen Altar, in die hellen Kirchenfenster und seine inneren Bilder, die sich mit dem augenblicklichen Leben vermischten.

Er blickte auf das Schwarz des Bräutigams, auf das Weiß der Braut und hörte die lebensklugen Worte des Geistlichen.

Kahlisch hielt inne im eigenen Lebensstrom und sah … seine Anfänge in der Schule, die abgeschlossene Lehre, die Tanzabende und Silvesterfeiern, das Zelten am Meer, sein Gitarrenspiel in den Dünen, den Braunkohletagebau und den frischen Beton für die Werkhallen.

Er ergriff die Hand seiner Brautjunger, die den Blumenstrauß auf ihrem Schoß festhielt, sah ihr in die Augen und stärkte sich an ihrem freundlichen Blick.

Dann sah er nach vorn und hörte von Treue, Zuneigung, Hilfe und Liebe, von Alter und Glaube. Er sah auf die Braut, sah den Ring und ihre Hingabe zum Bräutigam.

Das waren Dinge des Lebens, die immer wiederkehrten, die sich wiederholten und einen Lebenskreis bildeten. Kahlisch wurde plötzlich klar, dass auch er zu diesem Lebenskreis gehörte, dass er ein kleines Rädchen im Getriebe war, das sich drehte und gedreht wurde. Die Klänge der Orgel brachten Kahlisch in das Jetzt zurück, man erhob sich. Beim Ausmarsch wechselte die Braut an die rechte Seite ihres Mannes und Kahlisch führte seine Brautjungfer in die Aufstellung zum Hochzeitsfoto.

Er versuchte, seine Verlegenheit ein bisschen wegzulächeln, wie alle anderen auch. Nur das Brautpaar schien ihm sehr glücklich zu sein. Es stand heute im Mittelpunkt und erschloss nun einen neuen Lebenskreis für sich.

Das fand Kahlisch erst viel später heraus, als er sein eigenes Familienleben hatte, das nach seiner eigenen Hochzeit stattfand. Doch diese Hochzeit, bei der er die Brautjungfer begleitete, war für ihn eine Art Generalprobe und damit schon recht sinnvoll.

Am Nachmittag war die Hochzeit locker und fröhlich. Kahlisch lernte die Braut näher kennen, die eine Freundin seiner Brautjungfer war. Mit Gesellschaftsspielen vertiefte sich das Kennenlernen aller Hochzeitsgäste und als man tanzen wollte, verlegte sich alles auf den geschmückten Innenhof des alten Stadthauses. Die Hochzeitsgesellschaft verwandelte sich an diesem Sommerabend in eine Gruppe lustiger Menschen und feierte ausgelassen weiter.

Auf dem Nachhauseweg zog Kahlischs Brautjungfer die hohen Hackenschuhe aus, lief barfuß, trug ihren Biedermeierstrauß und hielt ihn Kahlisch ab und zu unter die Nase, lachte und hakte sich fest bei ihm unter.

Alles ist miteinander verbunden, sagte Kahlisch über die Schulter zu ihr, alles ist ein ewiger Strom des Lebens, selbst mit dem Sterben hört das nicht auf, man entwickelt seine Stärke, man entwickelt sein Ich, das für alle Zeiten bestehen bleibt.

Seine Jungfer blickte in die Nacht, zu den Sternen am Himmel, suchte ein bekanntes Sternenbild und deutete auf eine ferne Galaxie, auf der sie mit Kahlisch in dieser Nacht leben wollte.

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