Ein ganzes Leben in einer Hutschachtel

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Ein ganzes Leben in einer Hutschachtel
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„Ein ganzes Leben in einer Hutschachtel“

Eine alte Hutschachtel steht im Regal der Berliner Design-Fachfrau Ulla Rogalski. Sie ist leer. Einst hat sie einer jüdischen Innenarchitektin namens Bertha Sander gehört, die 1936 mitten in ihrem Berufsleben „Nazi-Deutschland“ verlassen musste und von Köln nach London emigrierte. Dieses lädierte schwarze Behältnis war das „Allerheiligste“ der Emigrantin. Hier hat sie ihre liebsten Erinnerungsstücke aufbewahrt — aus ihrem wunderschönen „ersten Leben“. Aus der Zeit, als sie jung und erfolgreich war — privat wie beruflich. Als sie Dagobert Peche, dem genialen Architekten der Wiener Werkstätte begegnete, dort in Wien und in den Architekturbüros von Philipp Häusler und Bruno Paul arbeitete. Als sie an Tuberkulose erkrankte und das muntere Leben in der „Zauberberg-Atmosphäre“ Schweizer Sanatorien kennenlernte. Der Hutschachtel-Inhalt führt auf die Spuren ihres Lebens und skizziert gleichzeitig Momentaufnahmen der Lebensumstände ihrer kultivierten, kosmopolitischen Familie. Er führt auch zu Berthas umfangreichem Werk, das heute in den Archiven des Victoria & Albert Museums in London lagert. 1986 wird im Museum eine kleine Zeichnung der inzwischen alten Dame ausgestellt. Sie freut sich über alle Maßen — in den vielen Jahrzehnten des Exils bot ihr das Leben keine solchen Lichtblicke mehr. Doch dann stellt sich die Wahrheit heraus, über die Zeichnung wie auch die Rosentapete, die alle Freunde jahrzehntelang nur als „Berthas Rosentapete“ kannten.

Die Autorin

Ulla Rogalski wurde 1945 in Schwelm in Westfalen geboren und studierte in Wuppertal Innenarchitektur. Sie arbeitet in den Bereichen Design und Kommunikation und als Journalistin. Heute lebt sie in Berlin.

Teil I Vom Treppengespräch zur Museumsrecherche

1
Die Innenarchitektin im Exil und eine Ausstellung im Museum


Der Ausstellungskatalog von 1986 mit „Berthas“ Zeichnung

Es ist Anfang der 1980er-Jahre. Zwei Frauen wohnen in einem Heidelberger Mietshaus, sie grüssen sich freundlich, reden ab und an miteinander. Die Ältere ist kommunikativ und kulturell interessiert. Regelmäßig fährt sie nach London, um einen guten Freund zu besuchen. Als sie erfährt, dass die Frau, die über ihr wohnt, Innenarchitektur studiert hat, berichtet sie ausführlich und beharrlich über eine ältere Frau, die sie vor einiger Zeit in London kennengelernt hat. Dass diese in den 1920er-Jahren in Köln als selbstständige Innenarchitektin sehr erfolgreich gewesen sein soll. Dass sie auch für Zeitschriften gearbeitet habe, beispielsweise für eine reformerische Zeitschrift, die ihre Mutter damals herausgegeben habe. — „Sie sind doch auch Innenarchitektin, Frau Nachbarin, und arbeiten doch auch für Zeitschriften....“ — Und wunderschöne Tapeten habe sie entworfen, erzählt die ältere Nachbarin: mit dicken roten Rosen. — „Arbeiten Sie nicht jetzt auch für eine Tapetenfabrik?“ — Ein paar Tapetenreste würden übrigens in der Hutschachtel stecken, in der die alte Dame Erinnerungsstücke aus ihrer „Glanzzeit“ aufhebe. Da habe sie bei ihrem letzten Londoner Besuch einen Blick hineinwerfen können. Und zwei originale Türgriffe seien auch dabei — die habe die Kölner Innenarchitektin noch vor der Emigration für ein jüdisches Krankenhaus in Köln entworfen, als sie aufgrund ihrer jüdischen Abstammung nur noch für Juden arbeiten durfte. 1936 schließlich sei die damalige Mittdreißigerin mit ihrer Mutter nach London emigriert. Dort habe sie nie mehr in ihrem Beruf arbeiten können. Und nie wieder habe sie Deutschland besucht.

Das Lebenswerk ins Museum

1986 — News aus London: Die ehemalige Kölnerin, inzwischen Mitte Achtzig, habe sich im Vorjahr entschlossen, ihr Haus aufzugeben und ein schönes Altenheim zu suchen. Jetzt im letzten Oktober sei sie in ein kleines, privates Retirement Home auf dem Land gezogen. Zuvor noch habe sie sich von etlichen Besitztümern getrennt. Ein paar ihrer Sammlerstücke aus den 1920er-Jahren seien an das Victoria & Albert Museum in London gegangen. Aber vor allem habe die alte Dame all ihre Arbeitsbelege und persönlichen Unterlagen, die aus ihrer Kölner Zeit stammen, dem renommierten Museum übergeben. Das lässt mich, die Innenarchitektur-Nachbarin aus dem zweiten Stock, erstmals aufhorchen. Auf jeden Fall muss die Geschichte stimmen, denn die Nachbarin aus dem ersten Stock ist eine vertrauenswürdige Person, sie ist Dozentin für Sozialarbeit. Erstmals wird mehr als nur höflich zugehört und vor allem wird nachgefragt. Denn eines ist jetzt sicher: Die Arbeiten, Objekte und Dokumente müssen Qualität besitzen, denn das größte Kunstgewerbe-Museum der Welt nimmt ja nicht alles, nur weil es alt ist oder aus Deutschland kommt oder von einer jüdischen Emigrantin. Deren Name ist übrigens Bertha Sander. Was gleich die Frage aufwirft, ob sie mit dem berühmten Kölner Fotografen August Sander verwandt ist: Nein, sie ist es nicht. Ich sage mir: Irgendwann muss ich ihre Arbeiten einmal anschauen — wenn ’mal Zeit dafür da ist.

Ausgestellt: Berthas Zeichnung

Dann kommt die nächste nachbarliche Sondermeldung aus London: Eine Zeichnung von Bertha Sander ist in einer Kabinett-Ausstellung des besagten Museums gezeigt worden und sogar im dazugehörigen Katalogheft abgebildet. Da sei zwar ihr Name falsch geschrieben, nämlich „Berthe Sander“, sie selbst aber sei überglücklich, dass ihre Arbeit nach so langen Jahren wieder einmal Aufmerksamkeit bekommt. Und noch dazu habe der Kurator einen begeisterten handschriftlichen Brief an Mrs. Sander geschrieben! Voilà: Frau Haag, die Heidelberger Nachbarin, präsentiert stolz das Büchlein „Designs for Interiors“ und schlägt die Seite elf auf. Erstmals bekomme ich etwas von Bertha zu sehen — und bin begeistert. Die Zeichnung zeigt die Vorderansicht eines gerundeten Polstersessels. Die Proportionen sind perfekt, die Strichführung ist gekonnt und elegant. Das Stoffdessin verbindet auf ungewöhnliche Weise florale und geometrische Elemente mit raffinierten Abschattierungen. Im Katalog ist vermerkt: „Berthe Sander, Vienna, Armchair design for the Wiener Werkstatte. c.1924 Pencil and crayon“. Jetzt wird es richtig interessant. Diese Bertha Sander hat für die Wiener Werkstätte gearbeitet, eine einmalige Institution, die vom Beginn des Jahrhunderts bis in die 1920er-Jahre hinein eine wichtige Rolle gespielt hat und in Europa stilprägend war. Das ist eine Entdeckung.

Meine Recherche beginnt. Von einer Bertha Sander findet sich aber bei der Wiener Werkstätte keine Spur, sie steht weder auf der Liste der Mitarbeiterinnen noch auf der Liste der (höhergestellten) Künstlermitglieder. Weder in der Fachliteratur ist ihr Name vermerkt, noch kennt ihn das MAK, das österreichische Museum für angewandte Kunst, das die Archive der Wiener Werkstätte aufbewahrt und aufarbeitet. Irgendwo, irgendwann muss diese Bertha Sander einmal für diese ruhmreiche Produktionsgemeinschaft bildender Künstler gearbeitet haben. Jetzt wird auch klar, warum das Victoria & Albert Museum ihre Arbeiten nach der Sichtung sofort mit Dank entgegennahm und archivierte. Bei meinem nächsten London-Aufenthalt muss ich einen ausgiebigen V & A-Besuch einplanen.

2
Zwei kleine Tische und kein Interview


Ein Beistelltisch, 1921 von der 20-jährigen Bertha entworfen

Icki Franziska Haag, so der volle Name meiner kommunikativen Heidelberger Nachbarin, ist hoch erfreut, dass ihre Berichte nun endlich auf echtes Interesse stoßen. Sie ist ein wenig stolz auf „ihre“ manchmal so missmutige Bertha, die jetzt in ihrem kleinen Altenheim in East Sussex südlich von London residiert. Dort hat die Heidelbergerin sie schon mehrfach besucht. Jetzt schreibt sie an Bertha, dass die Innenarchitektin und Journalistin, die im gleichen Haus wohnt, Interesse an ihrer Arbeit zeige, dass diese gerne mehr über Berthas Leben wissen und auch gerne zu einem Interview anreisen würde. Bertha freut sich, schreibt aber auf einer Karte, dass sie sich nicht mehr imstande sehe, ein Interview zu geben. Gleichzeitig spannt sie Ted, den Inhaber des kleinen Alterssitzes, ein, um Fotos von zwei kleinen Tischen zu machen. Dazu schreibt die Ex-Kölnerin, dass sie die Tischchen um 1921 entworfen habe, als sie zwanzig Jahre alt war. Sie seien als Beistelltische, jeweils links und rechts [eines Bettes oder Sofas], gedacht und hätten ausschwenkbare, weiße Glasplatten. Die Fotos, die dann nach Heidelberg kommen, sind nicht besonders gut, was Bertha auch im Begleitbrief bemängelt: Sie habe Ted schon zu einer zweiten Fotoaktion verpflichtet. Die hellen Tischchen mit den geraden runden Füßen und der dicken abgerundeten Platte wirken so modern, dass man gar nicht glauben mag, dass dieser Entwurf von 1921 stammt, also heute über neunzig Jahre alt ist. Offenbar hat die ehemalige Innenarchitektin diese Tischchen erst einige Jahre zuvor in England nach ihren alten Zeichnungen neu anfertigen lassen. In einem zweiten Brief aus England bekommt Frau Haag dann neue, unwesentlich bessere Fotos der Tischchen. Ein hilfsbereiter Seniorenheim-Betreiber ist eben kein Profi-Fotograf!

Jetzt sammelt Frau Haag bei ihren England-Besuchen mit Akribie Daten und Informationen von Bertha. Sie versucht mit ihr den Inhalt ihres „Allerheiligsten“, ihrer Hutschachtel durchzugehen, in der die über 85-Jährige Persönliches aufbewahrt. Man sieht die Listen der Dinge durch, die ab 1985 an das Victoria & Albert Museum beziehungsweise deren „Archives of Art and Design“ gegangen sind, und die begleitende Korrespondenz des Museums. In Heidelberg wird der bruchstückhafte Lebenslauf mit der Schreibmaschine aufgelistet. Im Sommer 1990 stirbt Bertha Sander in Justins, wo Ted und Jane Francis, das Betreiber-Ehepaar des kleinen Altenheimes, sich intensiv und liebevoll um sie gekümmert haben. Berthas Testament entsprechend erhalten die Erben ihre Anteile. Die besagte Hutschachtel aber geht an Icki Franziska Haag in Heidelberg, zuletzt wahrscheinlich Berthas engste und einzige Vertraute.

 

3
Berthas Rosentapete und andere Entdeckungen


„Berthas Rosentapete“, „ihre“ Zeichnung und die Signatur von D. Peche

Immer wieder war und ist von Berthas schöner Rosentapete die Rede. Frau Haag schwärmt regelrecht davon und kann sie mir im Winter 1990/91 endlich im Original zeigen. Denn Abschnitte davon stecken in der von Bertha geerbten Hutschachtel. Also sichten wir gemeinsam den Inhalt und schauen die Informationen durch, die Icki Haag inzwischen gesammelt hat. Zur Rosentapete fällt ihr noch der Zahnarzt und Freund Dr. Hans Thünker ein. Er ist Witwer von Berthas Schulkameradin Elisabeth, genannt Li. Beide haben Bertha vor und nach dem Krieg in London besucht. Auch nach dem Tod seiner Frau korrespondierte Thünker, der mit seinem Spitznamen „der Mopp“ unterschreibt, regelmäßig mit Bertha. Die beriet einst das Brautpaar bei der Ausstattung seiner ersten Wohnung und ließ im Flur an Wand und Decke die gepriesene Rosentapete verkleben. Um Erinnerungen und Überlieferungen zu sammeln, lädt Frau Haag zu einem „Bertha-Hutschachtel-Abend“ ein. Außer dem agilen Dr. Thünker kommt noch Heidi Schneider. Deren Mutter arbeitete mit Berthas Mutter Clara in der Reformkleider-Bewegung zusammen und ihre Schwester ging mit Bertha in eine Klasse. Auch Frau Schneider selbst hatte später Kontakt zu Bertha in London. Froh sei die über jeden Kontakt nach Deutschland gewesen, auch wenn sie jemanden nur indirekt kannte und ja selbst nach ihrer Emigration nie mehr nach Deutschland kam. Frau Schneider glaubt, dass sie sich im Exil heimatlos und einsam gefühlt habe. Außerdem ist sich der kleine Freundeskreis einig, dass Bertha sehr unglücklich gewesen sein muss.

Bald nach der anregenden Gesprächsrunde findet Hans Thünker in seinem Haushalt noch einen Rest der besagten Rosentapete. Er ist musteridentisch mit zwei Tapetenabschnitten aus der Hutschachtel, von denen einer rosé- und einer schwarzgrundig ist. Dann offenbart sich ein überraschender Tatbestand: Berthas Rosentapete ist nicht Berthas Entwurf. Die Schrift auf der Druckkante am schwarzgrundigen Tapetenrest ist angeschnitten, zeigt aber klar: „WIENER WERKSTÄTTE <DIE ROSE> ENTWURF. D. PECHE.“ Nun kommt schon wieder die Wiener Werkstätte ins Spiel, aber in diesem Fall ist nicht Bertha die Schöpferin des Entwurfes.

Die Wiener Werkstätte und „D. Peche“

Die Wiener Werkstätte ist ein Begriff in der Kunstgeschichte und auch Peche ist mir bekannt. Zwar habe ich während meines Innenarchitektur-Studiums nie von ihm gehört, aber gerade in den letzten Jahren hat mir ein Kunsthistoriker, der über Peche gearbeitet hat, dessen einzigartiges Schaffen sehr ans Herz gelegt. Auch Nachbarin Haag hat den Namen Peche schon gehört — vielmals und von Bertha. Die habe in ihren späten Jahren noch immer wie ein junges Mädchen von einem charmanten und genialen Mann dieses Namens geschwärmt. Bei der Wiener Werkstätte ist natürlich ein „D. PECHE“ zu finden, er heißt mit Vornamen Dagobert, wurde 1887 geboren und starb bereits 1923 im Alter von nur 36 Jahren. Daher ist sein Name in der Kunstgeschichte auch nicht so präsent wie die von Josef Hoffmann und Koloman Moser, die 1903 die Wiener Werkstätte gründeten. Ziel der Werkstätte war die Erneuerung des Kunstbegriffes im Bereich des Kunstgewerbes und der Einrichtung, so wie es die „Arts and Crafts“-Bewegung in England bereits zuvor auf ihre Art praktiziert hatte. Seit 1911 entwarf Peche Stoffe für die anspruchsvolle Wiener Institution, 1915 wurde er zum Mitglied berufen. Josef Hoffmann kürte den stilistisch eigenwilligen und hochbegabten Architekten zu seinem Nachfolger. Nach Peches frühem Tod wurde Hoffmanns Werk selbst von der neuartigen dekorativen Eleganz Peches beeinflusst.

Lebenslang geliebtes Muster

Nun ist klar, „Berthas Rosentapete“ wurde von dem österreichischen Architekten Dagobert Peche für die Wiener Werkstätte entworfen. Bertha hat dieses Muster offenbar sehr geschätzt und gerne verwendet. Ihre alten Bekannten können sich alle nicht erinnern, ob Bertha jemals über die Urheberschaft gesprochen hat. Sie alle kennen bis zu diesem Zeitpunkt diese Tapete nur als „Berthas Rosentapete“.

Der Signatur auf der Spur

Als ich mich jetzt mit Peche näher beschäftige, seinen einzigartigen Stil studiere, sein opulentes Schaffen aus wenigen Jahren Revue passieren lasse, kommt ein Gefühl auf, dass etwas mit Berthas in London gezeigter Sessel-Zeichnung nicht stimmt. Die wunderschöne Zeichnung, deren zeichnerische Qualität mich 1986 so beeindruckte, zeigt eine große Nähe zu Peches Werk. Man glaubt hier fast, den eleganten Strich des Frühverstorbenen zu erkennen — wenn sie nicht die Experten des ehrwürdigen Londoner Museums eindeutig Bertha Sander zugeschrieben hätten. Beim Schwelgen in Peche-Arbeiten und Durchblättern von vertiefender Lektüre wird klar: Der Österreicher hatte nicht nur zeichnerisch einen besonderen Stil, auch seine Handschrift wirkte wie Kalligraphie — und er erfand für sich eine besondere Art und Weise, seine Werke zu signieren. Meist band er seine Signatur mit in die Zeichnung ein. Es ist ein langer senkrechter Strich mit einem flachen Bogen, also ein extrem schlankes P. Das steht auf einem Stern mit einem kurzen waagerechten Strich darüber, auf dem zwei Ziffern symmetrisch als Jahreszahlen balancieren. Wer dieses spezielle Zeichen nicht kennt, wird es schwerlich als Signatur erkennen und einem Urheber zuordnen. Es ist eindeutig: Bei „Berthas“ Sesselzeichnung markiert sie zart die Mittelachse und schwebt über der Rückenlehne: Dagobert Peches Signatur. Also kann die Zeichnung Bertha nur gehört haben, sie stammt definitiv nicht aus ihrer Hand. Warum war Bertha der Wiener Werkstätte so nahe und ihr so verbunden — sie, die in Köln wohnte und arbeitete? Da ist die Erklärung schnell bei der Hand: Sie hat, laut eigenen Angaben, in Wien für die Künstlergemeinschaft gearbeitet, was später auch ein Zeugnis belegen wird. Das wirft wieder neue Fragen auf: Wie kam es dazu, was hat sie da gemacht und wie kam die Peche-Zeichnung in ihren Besitz? Nach der Ernüchterung über die tatsächliche Urheberschaft der schönen „Bertha-Funde“ gibt es noch genug spannende Fragen.

1991 gehe ich zweimal auf Recherche-Reise nach London. Gesichtet wird erst einmal der Bertha-Sander-Nachlass in den „Archives of Art und Design“. Sie gehören zum Victoria & Albert Museum. Dort sind Nachlässe von interessanten Künstlern, Designern, Unternehmen und Vereinigungen aus dem 20. Jahrhundert untergebracht. Mit Voranmeldung kann man sie zu Studien- und Forschungszwecken an Ort und Stelle einsehen. Um als Privatperson zugelassen zu werden, muss man zu jener Zeit noch ein Empfehlungsschreiben einer wissenschaftlich arbeitenden Institution vorlegen können. In den „Archives“ sichte ich die Bestände der Bertha Sander — sie sind sehr umfangreich. Listen werden anlegt, Texte handschriftlich (nur Bleistifte sind erlaubt) abgeschrieben, ein paar Dokumentationsfotos werden aufgenommen. Jetzt sehe ich erstmals die wunderschöne Sesselzeichnung im Original, die vor Jahren mein Interesse für Bertha geweckt hat. Sie liegt allerdings nicht in den „Archives“, sie wird im berühmten Museum selbst, in der Grafischen Sammlung des Hauses, „Print Room“ genannt, aufbewahrt. Im Original und in Farbe wirkt die Zeichnung noch faszinierender. Wenn sie nur von Bertha wäre — dann hätte ich eine Entdeckung gemacht und könnte eine richtig gute Geschichte schreiben. Aber da steht nun einmal „Eigentum der Wiener Werkstätte“ und da ist Peches Signatur. Eine ähnliche Farbskizze ruht auch noch zwischen Berthas Arbeiten in den „Archives“, ebenfalls mit dem „Werkstätte“-Stempel. Der Kurator des „Print Room“, der 1986 die Ausstellung „Designs for Interiors“ zusammenstellte und damit Bertha zu später Freude verhalf, zeigt mir noch einige Skizzen und Tapetenentwürfe von Bertha. Aber er zeigt sich wenig beeindruckt, als ich anhand von Abbildungen der Peche-Signatur aus Fachbüchern Berthas Urheberschaft an der Sesselzeichnung ganz vorsichtig infrage stelle. Der Experte überspielt das einfach souverän. Vielleicht kann man sagen „Was soll‘s?“ Damit hat er Bertha in ihren grauen letzten Jahren wenigstens kurzfristig eine Freude gemacht, sie fühlte sich geschmeichelt. Sie hat sich gerne einmal kurz im „Glanz“ des eleganten Österreichers gesonnt und ihn unwidersprochen als den Ihren genossen. Hoffentlich wird die Zeichnung künftig korrekt zugeschrieben — der Ordnung halber und dem Renommee der Institution entsprechend, den Forschenden zum Nutzen und nicht zuletzt dem genialen Urheber zu Ehren.

Reste vom Dachboden

Zur Bertha-Sander-Recherche gehört auch ein Besuch in Justins, dem kleinen privaten Retirement Home auf dem Land, in dem Bertha ihre letzten Lebensjahre verbracht hat. Die Besitzer, das Ehepaar Ted und Jane Francis, sind reizend und erzählen viel von Bertha, auch dass sie sehr schwierig war und gerne „die Puppen tanzen ließ“. Die beiden holen einen Karton vom Dachboden, darin haben sie das von Bertha verwahrt, was die anderen Erben nicht haben wollten. Ted und Jane sind begeistert, dass jemand etwas über „ihre“ Bertha schreiben möchte und überlassen mir gerne etliche Fotos, Papiere und Zeitschriften, die nützlich erscheinen. Die reisen nun, in einer Liste erfasst, mit mir zurück nach Heidelberg. So können wir beiden Nachbarinnen weitere Fragmente aus Bertha Sanders Leben sichten und vielleicht ein paar Steinchen mehr zueinander fügen.

Recherche verpackt

Aber dazu kommt es zunächst nicht. Erst einmal lasse ich alles ruhen und komme dann für mich zu dem Schluss, dass Berthas Arbeiten nicht die design-historische Entdeckung sind, die eine Publikation tragen könnte. Hier gibt es keine neue Eileen Gray zu entdecken, wie Ende der 1970er-Jahre, als aufsehenerregende Möbelstücke dieser irischen Autodidaktin auf dem Kunstmarkt auftauchten und ihr Name auf einmal bekannt wurde. Ich habe Innenarchitektur studiert und arbeite im Bereich Kommunikation rund um das Thema Design. Da wäre die Geschichte einer solchen Neuentdeckung ein großes Vergnügen gewesen — aber die gibt es ja nun nicht. Und einer Biografie, für die Berthas Leben und Schicksal wahrscheinlich genug Stoff liefern würde, fühle ich mich nicht gewachsen. Irgendwann packe ich Berthas Lebensfragmente mit etwas Wehmut in eine Kiste. Sie landet in unserem Familien-Depot, fünfzig Kilometer entfernt von Berthas Geburtsort Köln. Da bleiben sie erst einmal — nicht immer in bester Gesellschaft.