Hundeleben

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Hundeleben
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Ulli Priemer

Hundeleben

Erzählungen vom anderen Ende der Leine

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Hundeleben

Inhalt

Die Nackten und die Canen

Archi´s Suche nach dem Himmelreich

Queen Alena

Spargel hört auf sein Herz

Nachwort

Impressum neobooks

Hundeleben

Erzählungen vom anderen Ende der Leine

Inhalt

Kapitel 1: Die Nackten und die Canen

Kapitel 2: Archi´s Suche nach dem Himmelreich

Kapitel 3: Queen Alena

Kapitel 4: Spargel hört auf sein Herz

Nachwort

Die Nackten und die Canen

Ihr, die Nackten nennt uns "Hunde". Aber, soweit ich es nachvollziehen kann, ist "Hund" ein beleidigendes Wort. In der Sprache der Nackten. Sie sagen "Hund" oder "Hundesohn" zu ihresgleichen und meinen damit einen niederträchtigen, gemeinen Nackten. Ich bin ein "Hundesohn", wenn ich es in ihrer Sprache zum Ausdruck bringe. Aber deswegen bin ich weder böse noch niederträchtig, sondern eben nur der Sohn einer Hündin, die meine Mutter war. Die Nackten, die sich selbst Menschen nennen begreifen so wenig vom wahren Wesen unserer Art und darüber hinaus so gut wie nichts von der ganzen Welt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Menschen erst seit rund 10 Millionen Jahren dieses Ökosystem bevölkern. Oder treffender formuliert: Das Antlitz dieser Erde beschmutzen.

Die ersten meiner Art gab es schon Äonen, bevor der erste Affe auf die Idee kam, sich nur noch auf seinen zwei Hinterbeinen fortzubewegen. Meine Art, das sind die "Canen". Canen ist aber nur eine mangelhafte Übersetzung mit den beschränkten Ausdrucksmöglichkeiten der Nackten-Sprache. Genötigter weise muss ich mich dieser Sprache bedienen, sonst wären Sie, geneigter nackter Leser, kaum in der Lage meinen Ausführungen zu folgen. Könnten ich meine Vorderläufe unzweckmäßiger Weise zum Schreiben benutzen, um eines Eurer Schreibinstrumente zu führen, könnte der Begriff "Canen" auf canisch geschrieben folgendermaßen aussehen: cuoplhsztuiok. Sie sehen, es macht wenig Sinn, Sie in die tieferen Geheimnisse unserer Sprache einzuweihen. Zumal dies nur das dürftigste von mehreren Kommunikations-Instrumenten ist, derer wir Canen uns bedienen. Hinzu kommt außerdem noch Telepathie (sehr praktisch bei Pirsch und Jagd, sowie in Herzensangelegenheiten), „Olfaktorologie“, die Kunst, sich über das Aussenden von Düften zu unterhalten. Die größten Reichweiten erzielen wir mit genau dieser Sprache. Meistens mehrere Kilometer. Ergo haben wir gerne darauf verzichtet, im Laufe der Evolution unsere vorderen Extremitäten zu Greifwerkzeugen degenerieren zu lassen. Wenn wir mal zupacken müssen, dann mit unseren Kiefern. Und damit stecken wir jeden Eurer Händegriffe locker in die Tasche. Aber das ist eine andere Geschichte.

Verfolgt man den Stamm der Canen zurück, bis zu seinen Wurzeln in die Anfänge der Zeit, dann landet man zwangsläufig unserem Urvater: Der große graue Canus, auch Wolf genannt.

Der große Graue war die perfekteste Überlebensmaschine, die man sich nur vorstellen kann. Sein Fell war so konstruiert, dass es ihn im Winter vor eisiger Kälte schützte. Sobald aber Schnee und Eis unter den ersten wärmenden Strahlen der Spätwintersonne dahin schmolzen, schmolz auch die Haarpracht des großen Grauen dahin. Sein Fell wurde dünner und luftiger - eine superbe Anpassung an die warme Jahreszeit. Der graue Canus war ein Fleischfresser. Der Grund dafür liegt in unserer Religion. Jawohl, auch wir Canen üben uns in heiligen Pflichten!

Nur suchen wir uns keine Götzenbilder aus, vor denen wir in andächtiger Miene und mit gefalteten Vorderläufen knien. Nein, unser Gott ist größer und gewaltiger als jedes menschliche Vorstellungsvermögen.

Es ist die universelle Natur. Als Teil dieser Natur, dieses universellen Organismus, sind wir selbst Götter. Diese Natur nährt sich und die ihren selbst. Jedes Wesen unter dem irdischen Himmel ist eine winzige Zelle eines großen Ganzen. Das Ganze ist ein System von unglaublich komplexen Ausmaßen. Dieses System findet sich in jedem noch so winzigen Teilchen wieder. Jeder ist ein Spiegel des Universums. Weil das Universum in jedem von uns wohnt. Dies ist in kurzen, für Euch verständliche Worte, das Grundprinzip unseres Glaubens. Die Sache hat nur einen kleinen Haken, der in der Semantik des Wörtchens Glauben liegt. Ihr Menschen glaubt. Wir Canen wissen!

So wissen wir, dass in dem Fleisch eines jeden Tieres seine Kraft und sein Geist wohnen. Je frischer dieses Fleisch, umso stärker die Kraft. Als geborener Jäger hat sich der große Graue darauf spezialisiert, seine Beute zu reißen und nach Möglichkeit aufzuessen, noch bevor das Herz seiner Beute aufhörte zu schlagen. Nur so war gewährleistet, dass Kraft und Eigenschaften der Beute in Dein eigenes Fleisch und Blut übergehen. Das klingt in Deinen Ohren grausam, lieber menschlicher Leser, ich weiß. Aber im Laufe dieses Berichtes wirst Du noch erfahren, was wahre Grausamkeit ist. Und dass die grausamste Lebensform, die jemals den Tempel der universellen Natur geschändet hat, Deiner Art angehört. Damit meine ich nicht Dich persönlich lieber Leser. Denn es gibt auch gute Menschen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der Ur-Canus war fürwahr ein Gott. Oder treffender gesagt ein Halbgott. Er hatte keine natürlichen Feinde, was ihn in der Rangordnung der universellen Natur ganz oben einstufte. Natürlich gab es hin und wieder auch Auseinandersetzungen mit anderen ranggleichen Arten. Dabei ging es aber weder den Canen noch unseren Konkurrenten um den Tod desselben. Denn töten des Tötens willens ist tabu innerhalb unserer universellen Ordnung. Und macht auch keinen Sinn. Es gab eigentlich immer nur drei Gründe zu kämpfen: Die Verteidigung des Jagdreviers. Die Verteidigung der Beute. Und die Verteidigung der Familie.

Wie Du siehst, betone ich hier den Begriff "Verteidigung".

Kein mir bekanntes Wesen fällt ohne Grund ein anderes an.

Dennoch gibt es auch in unserer Welt die Strategie des Angriffs.

Aber nur aus zwei Gründen: Zum Reißen von Nahrung. Oder zur Verteidigung! Denn manchmal ist Angriff die beste Verteidigung.

Aber das ist eine andere Geschichte.

So hatte der große Graue Millionen Jahre im Einklang mit den Elementen und die Elemente im Einklang mit dem großen Grauen gelebt. Bis eines Tages eine Lebensform in diese universelle Ordnung eindrang, die alles durcheinander gerüttelt hat. Sie waren groß, größer als die größten unserer Art. Vielleicht lag es daran, dass sie nur ihre Hinterläufe zur Fortbewegung nutzten.

Wie lächerlich. Und vor allem wie unlogisch: Kommt man doch mit zwei Beinen viel schwerfälliger und langsamer vom Fleck. Aber eines war am auffälligsten: Sie waren nackt! Die ersten Nackten wurden von uns vor rund 10 Millionen Jahren gesichtet. Mit Ästen in ihren Vorderläufen, die nicht mehr den Boden berührten, stolperten sie durch die Wälder. Sie waren so ungeschickt in der Pirsch, dass man sie schon auf eine Distanz von hunderten von Metern wahrnahm. Wir haben sie nie ernst genommen und deshalb auch weit gehend ignoriert. Das hätten wir vielleicht besser nicht getan. Denn die Nackten hatten denselben Speisezettel wie wir: Rehe, Hirsche, Rentiere, Hasen und so weiter.

Es vergingen einige Millionen Jahre. Zu unserem Bedauern wurden die Nackten immer zahlreicher. Und immer hungriger. In Horden streiften sie durch Steppen und Wälder auf der Suche nach Nahrung. Das müssen sie irgendwie an uns abgekuckt haben. Die erlegten Tiere aßen sie zu unserer Verwunderung nicht an Ort und Stelle, sondern schleppten sie an Plätze, wo viele Nackte ihr Lager hatten. Dort taten sie dann etwas höchst beunruhigendes: Sie machten Feuer! Zur Erklärung: Feuer ist für alle Bewohner der universellen Ordnung der Antigott. Ein Symbol der Vernichtung, des Todes. Entsprechend schnell sprach sich die Kunden in den Höhlen und Lagern der großen Grauen herum, dass die Nackten mit dem Tod im Bunde seien. Eine Lebensform, die das Urelement des Todes und der Vernichtung beherrscht, kann nur Unheil bedeuten. Wie recht unsere Weisen damit hatten, das weißt Du ja, geneigter Leser. Aber das ist eine andere Geschichte.

Kurz und gut: Die Nackten vermehrten sich wie die Fliegen auf der Oberfläche eines Tümpels. Sie fraßen die Wälder leer und plünderten die Steppen. Die ersten großen Hungersnöte brachen über die großen Grauen herein und rissen breite Furchen in unsere Reihen. Keine Nahrung bedeutet auch weniger Nachwuchs. Unsere Kräfte schwanden. Viele waren zu schwach zum Jagen.

Dummerweise ließen die Nackten ihre Beute nie liegen, so dass

 

eventuell noch etwas für uns übriggeblieben wäre. Was sie erlegten, schleppten sie zu ihren Siedlungen, die immer größer und bedrohlicher wurden.

Wir beobachteten die Nackten. Studierten sie. Denn die beste Überlebensstrategie ist das Wissen über die große Ordnung im Allgemeinen. Und über seinen Feind im Besonderen. So stellten wir fest, dass die Nackten ihre Beute nicht zur Gänze aufaßen.

Knochen wurden beispielsweise nur lieblos abgekieft und anschließend zur Seite geworfen. Was für eine Verschwendung!

Du musst Dir das einmal vorstellen lieber Leser: Da sitzt ein Haufen Nackter um das lodernde Inferno eines Feuers herum um labt sich an Fleisch, während 100 Meter im Gebüsch ein Rudel

großer Grauer kauert und mit knurrenden Mägen ansehen muss, wie ihr Euch an Eurem Mahl labt. Wieso ihr das Fleisch immer erst einige Zeit in das Feuer gehalten habt, bevor ihr es fresst, hat uns ehrlich gesagt nicht sehr verwundert. Da ihr offenbar das Feuer anbetet und damit den Gott der Vernichtung, müsst ihr Eure Nahrung zuerst einmal weihen. Sozusagen durch eine Feuertaufe.

Dass dadurch das Fleisch wertlos wird ist Euch offenbar egal.

Aber ihr habt Euch ja von Beginn an über die simpelsten Naturgesetze hinweggesetzt.

Es war also vor rund sechs Millionen Jahren, als ein Familienrudel großer Grauer mit Kind und Kegel im Gebüsch saß und eine Horde Menschen beim Fressen beobachtete. Die Mägen der ausgehungerten Canen knurrten so laut, dass man es unschwer einen halben Kilometer weit hören konnte. Die Nackten, obwohl nur rund hundert Meter von dem gut getarnten Rudel entfernt, hörten nichts. Dass Hören nicht gerade Eure Stärke ist, haben wir schon ziemlich früh begriffen. Und dass Eure Nasen nur dazu taugen, hin und wieder einen Schnupfen zu bekommen wussten wir auch. Deshalb haben wir uns auch regelmäßig ganz skrupellos an Eure Behausungen herangeschlichen, um die Euren beim Fressen zu beobachten. Wenn Ihr uns schon unsere Beute vor den Nasen wegraubt, wollten wir uns wenigstens am Duft des Fleisches laben.

An besagtem Abend saßen 4 Menschen um das Feuer herum. Zwei Ausgewachsene und zwei Junge. Gierig schlangen sie jeder ein Stück heißes Fleisch in sich hinein, wie widerlich! Dennoch kam der ausgehungerten Canenfamilie unweit davon in den Büschen der Geruch des verbrannten Fleisches vor, wie der Himmel auf Erden.

Jessia und Aphrodonia, den zwei Jung-Canen, tropften Fluten von Speichel aus den Lefzen. So dass sich kleine Pfützen zu ihren Vorderläufen bildeten, die sogleich von dem durstigen Erdreich aufgesaugt wurden. Aaron und Leia, die beiden Eltern-Canen waren dagegen gefasster. Mit wehmütigen Blicken folgten sie jeder Kieferbewegung der Nackten. Ihre feuchten kalten Nasen

saugten jedes noch so winzige Duftpartikelchen ein, das die angenehm kühle Abendbrise zu ihrem Versteck herüber trug. In der Not der Verzweiflung gaben sie sich der Illusion hin, der Duft möge sich in Ihren geschrumpften Mägen zu frischem, blutigem Fleisch materialisieren.

Der Glaube mag ja bekanntlich Berge versetzen. Aber im Falle

von Aaron, Leia und ihren zwei Schützlingen blieben die Bäuche dennoch leer.

Es war nicht das erste Mal, dass die Canen-Familie die vier Menschen beim Abendmahl observierten. Im Laufe der Zeit hatten sie ein Muster im Fressverhalten der Menschen erkannt: Erstens fraßen die Menschen nie gründlich. Das heißt ein Stück Fleisch wurde immer nur angefressen. Und dann nach hinten ins Gebüsch geworfen. Dort häuften sich dann die Knochen, denen noch so viel Fleisch anhaftete, dass ein junger Canus gut gern davon hätte satt werden können. Nach der Mahlzeit pflegten die Menschen sich niederzulegen und kurz darauf in tiefen Schlaf zu sinken. Das Schnarchen und Grunzen, das die Nackten dabei von sich gaben, sprach für sich. Für die Canen eröffnete sich die Frage, wie man nun an das Restfleisch und die Knochen gelangen könne. Gefährlich waren dabei nicht die Menschen; ein Canus kann sich nahezu lautlos bewegen. Die eigentliche Gefahr stellte das Feuer dar! Kein Grauer seit Canus-Gedenken war einem Feuer jemals näher gekommen als auf 50 Meter. Und die, die sich über diese magische Grenze hinaus gewagt hatten, waren nie wieder zurückgekehrt. So erzählten es die Sagen, die man sich in den Lagern der Canen erzählte.

Für Aaron, er sich sehr um das Überleben seiner Canus-Familie Sorgen machte, kühlte die Angst vor dem Feuer immer mehr ab.

Besonders vor dem Hintergrund des drohenden Hungertodes, der sie alle mit Sicherheit ereilen würde, wenn er nicht bald eine Entscheidung fällte. Außerdem hatte er seine Aufgabe erfüllt:

Er hatte mit Leia sechs prächtige Junge gezeugt. Vier davon waren im Frühling, kurz nach ihrer Geburt den Berglöwen zum Opfer gefallen.

Die Berglöwen und Luchse waren die einzigen natürlichen Feinde der Canen. Früher, lange Zeit vor den Menschen, hatten sich beide Arten respektiert. In dem legendären Kiabo-Vertrag hatten Canen und Katzen ihr gegenseitig friedliches Zusammenleben besiegelt. Abo der Starke, der Urvater und Anführer eines canischen Herrschergeschlechts und Kia der Listige, seinerseits allmächtiger Katzengevatter hatten drei Tage und drei Nächte um ein Revier gefochten. Am Morgen des vierten Tages saßen sie sich in Lauerstellung gegenüber. Beiden floss das Blut in Bächen aus zahllosen Kratz- und Beißwunden.

Keiner der beiden war bereit gewesen, sich dem anderen zu unterwerfen. Und so saßen sie sich gegenüber. Auge in Auge, ausgelaugt und vom Kampf geschwächt.

Als plötzlich Abo der Cane seinen rechten Vorderlauf erhob und sich diesen mit einem blitzschnellen Biss eigenzähnig abriss.

Kia der Kater war über diese Geste so verwundert, dass er fragte,

ob dies nun eine neue Art der Kapitulation sei. Abo entgegnete, dass der Kampf zwischen Katzen und Canen ebenso sinnlos sei, wie Selbstverstümmelung. Daraufhin riss sich Kia ebenfalls seinen rechten Vorderlauf ab. Die beiden Mächtigsten ihrer Spezies humpelten aufeinander zu und berührten sich mit ihren blutenden Stümpfen. Daraufhin war der Frieden beider Arten mit Blut besiegelt. Diese Geste, des gegenseitigen Reichens der rechten vorderen Extremitäten, zum Zwecke der Besiegelung eines Vertrages wurde übrigens Abermillionen Jahre nach dem Kiabo-Vertrag von Euch Menschen nachgeahmt. Oder besiegelt ihr nicht auch Eure Verträge per Handschlag?!

Zurück zu den gemeuchelten Kindern von Aaron: Erst als die Menschen, die Nahrungspfründe der Canen und Katzen plünderten

wurden die Katzen vertragsbrüchig. Wie die Furien fielen sie in die Reviere der Canen ein und rissen bevorzugt unsere wehrlosen Jungen aus deren Verstecken. Feige und raffiniert wie Katzen nun mal sind, hatten sie die Zeitpunkte ihrer Raubzüge immer gut geplant: Sie warteten grundsätzlich darauf, bis sich die Eltern-Canen auf Jagd begeben. Dann schlugen sie gnadenlos und tödlich zu. Vielleicht, geneigter menschlicher Leser, begreifst Du jetzt den blinden Katzenhass vieler meiner Artgenossen.

Für Aaron zählte jetzt nur noch eines, seine Verantwortung als Vater-Canus gegenüber seinen Lieben. Hier muss ich betonen, dass wir Canen ausgesprochen soziale Wesen sind. Die Gemeinschaft ist für uns alles. Das Individuum selbst zählt nichts. Folgerichtig setzen wir auch ohne mit der Wimper zu zucken unser eigenes Leben aufs Spiel, um das eines Angehörigen unserer Gemeinschaft zu schützen oder gar zu retten. Er entschied sich, Feuer und Menschen zum Trotz einen Vorstoß zu den verführerischen Essensresten zu wagen. Sollte er in den züngelnden Flammen umkommen, so wäre immer noch seine geliebte Leia da. Vielleicht würde sie eine bessere Strategie ersinnen. Auf jeden Fall hätte er für seine Familie alles in seiner Macht Stehende getan.

Kaum drang von der Feuerstelle das regelmäßige Schnarchen und Schnaufen der gesättigten Menschen herüber, machte sich Aaron

bereit. Zärtlich schleckte er die Mäuler seiner beiden Kinder.

Dann berührte seine Nase behutsam die von Leia. Ihre Blicke trafen sich, vielleicht das letzte Mal. Dann wendete sich Aaron ab. Behutsam, aber nicht zu langsam huschte er aus einem Versteck. Im Schatten außerhalb des Feuerscheins war der dunkelgraue Pelz, in den sein ausgemergelter Körper eingemummt war, kaum zu erkennen. Noch war außerhalb der kritischen Zone.

Er beobachtete wie die züngelnden Flammen, die während des Mahls hungrig um das Stück Fleisch herumleckten, dünner und niedriger wurden. Er wartete noch. Die Flammen fielen ganz in sich zusammen, bis nur noch die rote Masse der Glut in der Feuerstelle übrigblieb. Dann schritt Aaron über zu Schritt zwei.

Vorsichtig dribbelte er aus dem schützenden Schatten heraus. Dabei versuchte er Feuer und Menschen weiträumig zu umgehen.

Trotzdem: Er würde die magische Grenze von 50 Metern überschreiten müssen, um an das Gebüsch heranzukommen, wo die begehrten Fleischreste lagen. Zügig lief er auf das Feuer zu. Plötzlich bewegte sich einer der Ausgewachsen. Mit einem Grunzen

erhob sich sein Oberkörper und drehte sich in Aarons Richtung.

Wie vom Blitz getroffen hielt Aaron mitten in seiner Bewegung inne. Er stand da wie eine Statue. Ein Vorderlauf erhoben, den Kopf geduckt. Er betete, dass das Gerücht, die Menschen könnten nur Bewegungen erkennen, wahr sei. Aus den Augenwinkeln konnte Aaron einen Blick auf das Gesicht des Menschen erhaschen. So nackt sind die Nackten gar nicht. Auf dieses Exemplar hatte ein Gesicht voller Haare. Aber das wichtigste: Seine Augen waren geschlossen, während er sich Aaron zudrehte. Mitten in der Drehung lies er sich wieder plumpsen und gab sofort eine erneute Schnarchsalve von sich. Lautlos pirschte Aaron weiter. Das Licht der Feuerglut erhellte schon seinen Pelz. Aber außer Wärme abzugeben, ließ ihn das Feuer in Ruhe. Keine Flammen züngelten plötzlich auf, um Aaron mit Leib und Seele zu verschlingen. Vielleicht schlief das Feuer mit den Menschen.

Genau, das war eine logische Erklärung: Die Menschen hatten sich das Feuer Untertan gemacht und nicht umgekehrt. Wenn die Menschen schliefen, dann musste auch das Feuer ruhen.

Dennoch hatte Aaron weder Lust noch Zeit, diesen unheimlichen Gedanken zu vertiefen. Er flitzte an Feuer und Menschen vorbei und da waren sie: Die lang ersehnten Fleisch- und Knochenreste.

Und da waren weitaus mehr, als sich Aaron jemals erträumt hatte.

Die Essensreste nahe des Gebüschs häuften sich zu einem kleinen Hügel. Aaron riss sein großes Maul auf, soweit er nur konnte und rammte es in duftenden Essensberg hinein. Dann schloss er seine Kiefer und rannte zurück zu den seinen. Dort ließ er die Ladung fallen. Dann machte er sich ein zweites mal auf. Und ein drittes Mal und viertes mal. Die Essenreste schmeckten zwar nicht so delikat wie frisches, lebendes Fleisch, aber sie machten satt. Und das war es, weswegen die vier heute hier waren. Sie stopften sich nach Lust und Laune die Mägen und kieften die Knochen ab, bis sich das Mondlicht auf dem blanken Gebein spiegelte.

Aaron und seine Familie waren gerettet. Wenigstens für den kommenden Tag. Mit vollen Mägen und schweren Lidern machten sie sich auf zu ihrer Höhle. Dort beschwor Aaron Leia und die Kinder, niemandem auch nicht ihren besten Freunden aus den Nachbarrudeln von ihrer Entdeckung zu erzählen. Aaron und Leia

schöpften endlich wieder Mut. Sie begannen Pläne zu schmieden.

Schließlich müßte es ja auch möglich sein, sich von den Resten der Menschen selbst einen kleinen Vorrat anzulegen. Und so schlecht war das veraaste und verbrannte Fleisch schließlich auch nicht. Im Gegenteil, man gewöhnte sich sogar recht schnell an den Geschmack. Derart auf den Geschmack gekommen, besiegelten Aaron und Leia unwissentlich das Schicksal der einst so königlichen und unabhängigen Spezies der Canen.

Aber es sollten noch einige Jährchen durchs Land ziehen, bis zu jener denkwürdigen Gefangennahme, welche auch als "der Scheideweg" in die Annalen der meinen eingegangen ist.

Es war vor cirka 2 Millionen 297 Tausend und 267 oder 268 Jahren, so ganz genau weiß ich das auch nicht mehr.

Die Menschen hatten ganz von selbst herausgefunden, dass Fleisch allein auch nicht glücklich macht. Und dass man andere Lebewesen

spielend versklaven konnte. Zum Beispiel Pferde, Kühe, Ziegen und Schafe. Vor allem Pferde und Kühe machten sich prima im Kultivieren von Böden. Und so nutzten die Menschen die Erde zum Ackerbau.

 

Die menschlichen Siedlungen wurden immer größer. Ähnlich uns Canen horteten sich die Menschen zu riesigen Rudeln, so genannten Clans zusammen. Der Vorteil solcher Clans, die in großen Siedlungen hausten, konnten wir so zusagen Kilometer gegen den Wind riechen: Viele Menschen verursachen noch mehr Abfälle!

Den meisten der großen Grauen ging es damals immer dreckiger.

Unser Beutewild flüchtete oder fiel den menschlichen Jagdhorden zum Opfer. Für uns ist dabei nicht viel übriggeblieben. Auch hatten wir immer wieder Zusammenstöße mit Menschen, deren Ausgang oft mit heftigen Verlusten auf beiden Seiten endete.

Ganz so wehrlos wie sie aussahen waren die Menschen nämlich nicht. Ihr Gebiss, Ihre Sinne, Reaktionsvermögen und Schnelligkeit waren beim Menschen total degeneriert und nur noch rudimentär vorhanden. Aber dennoch hatten sie etwas, was für Canen unerklärlich war. Vielleicht war es auch nur ihre Fähigkeit mit ihren Vorderläufen vielerlei Dinge zu bauen. Ja, mit diesen seltsam geformten Vorderläufen waren die Menschen sehr geschickt. Leider auch im Bauen von Gegenständen, die unsereins sehr große Schmerzen zufügen konnten. Und die den Menschen vor allem ermöglichten, dem fairen Nahkampf aus dem Weg zu gehen.

So passierte es nicht selten, dass einige der verwegensten Canen, welche sich des nachts über das Hausvieh der Menschen hermachen wollte, nie wieder zurückkehrten. Und manchmal mehr tot als am Leben, aus zahlreichen Wunden blutend. Bevor sie im Schutze ihres Rudels ihren letzten Atem aushauchen konnten, erzählten sie mit sterbensnaher Stimme von langen Ästen mit einer scharfen Spitze am vorderen Ende. Damit könnten die Menschen einen daran hindern ihn anzuspringen. Und würde man es trotzdem versuchen, rammt sie einem im Anflug die stählerne Spitze des Astes mitten ins Herz. Viele unserer Mutigsten Krieger waren von ihren mitternächtlichen Beutezügen aus den Pfründen der Menschen nicht mehr zurückgekehrt. Diejenigen, welche anspruchsloser waren und sich mit Abfällen begnügten, waren offenbar weitaus weniger gefährdet. Immer kehrten sie von ihren kleinen Diebestouren zurück. Und immer mit vollem Magen und noch ein paar leckere Happen für ihre Angehörigen. Offenbar waren für die Menschen ihre Fressensreste wertlos.

Besonders bei den ganz jungen Canen erfreute sich die harmlose Dieberei größter Beliebtheit. Ließ sich doch dabei auf absolut perfekte Art Angenehmes mit Nützlichem verbinden: Die Spannung eines nächtlichen Beutezuges mit dem Besorgen von Nahrung. Außerdem galt das Heranpirschen an menschliche Siedlungen bereits als kleine Heldentat, geschweige denn, das Mopsen von Fleisch und Knochen. Ein junger Cane, der im Ruf stand, ein raffinierter Dieb zu sein, dem flogen die Herzen der jungen Caninnen, die ihn auf seinen Beutezügen begleiteten nur so zu.

So auch in jener verhängnisvollen Nacht, welche die Weichen der Canen-Zukunft in eine völlig andere Richtung stellte, als sich jemals ein großer Grauer gedacht hätte.

Wie schon so oft zuvor machte sich ein Trio Jung Canen auf den Weg zur nächstgelegenen Menschensiedlung. Die zwei Rüden hießen Kio, Mio und die Canin Maya, ein burschikoser und wilder Typ, die lieber mit jungen Rüden herum balgte, als sich auf die verantwortungsvolle Rolle einer erwachsenen Canin und Mutter vorzubreiten. Vielleicht lag es daran, dass Maya, das einzige Mädchen in einem Wurf Rüden war. Vielleicht war aber auch ihr Vater schuld, der nie müde wurde zu knurren, Frauen würden nur zum Kinderkriegen taugen, zu nichts anderem. Sie hatte oft erlebt wie der Vater ihre Mutter mit einem blitzschnellen Biss zurechtgewiesen hatte. Eine Reaktion, die man unter Canen häufig beobachten kann. Aber nur nicht in dem soeben geschilderten Zusammenhang. Dass eine Canin einen aufdringlichen oder nervigen Rüden zurechtweist ist in Ordnung und entspricht auch der Canen-Etikette. Aber ein Rüde, der sein Weibchen zurecht beißt? Undenkbar! So gesehen war Mayas Vater nicht nur ein unberechenbarer Rüde, der ganz aus der Art schlug, sondern ein Macho-Arsch darüber hinaus. Dennoch: der weibchenfeindliche Einfluss des Vaters und die ständige Nähe ihrer 5 Brüder hatten zur Folge, dass für Maya ein Rüde zu sein, das erstrebenswerteste im ganzen Wald war. Und wenn ihr schon die drei entscheidenden physischen Vorraussetzungen zum Rüden fehlten, so wollte sie diesen Mangel an körperlicher Perfektion wenigsten durch rüdenhaftes Verhalten ausgleichen. Und Maya war in der Tat rüder als mancher Rüde ihres Rudels.

So war es Maya, die auf der Pirsch meistens an erster Stelle robbte. Dabei gab sie sich Mühe ihren Schwanz nicht zu sehr auf den Boden zudrücken. Die nachfolgenden hätten diese Vorsichtsmaßnahme leicht als Feigheit interpretieren können. Stattdessen hing ihr Schweif mindestens in der Waagerechten, oft ragte er sogar wie ein Fahnenmast geradewegs in die Höhe.

Auch an besagtem Abend des Verhängnisses schlich Maya als Vorhut vorneweg. An zweiter Stelle kam Mio und dann Tio. Die zwei waren Brüder und stammten dem ungefähr zeitgleichen Wurf wie Mayas. Sie gehörten einer Familie an, deren Eltern-Canen mit denen Mayas angefreundet waren. De drei kannten sich schon seit kurz nach ihrer Geburt vor rund 7 Vollmonden.

Der Duft der Menschen stieg ihnen schon seit einiger Zeit in die Nasen und wurde zunehmend intensiver. Ihre Nasen waren kalt und feucht als sie gierig den Geruch, der eine Mischung aus mensch-lichem Schweiß und Staub war, einsogen. Bekannter weise haben wir Canen einen etwas anderen Geschmack als ihr Menschen: Was Euch den Speichel in die Mundwinkel treibt, lässt uns kalt. Und umgekehrt: Was uns vor Verlangen schier verrückt macht, kann bei Euch Brechreiz verursachen. Nehmen wir mal frischen Pansen, den Mageninhalt von pflanzenfressenden Beutetieren. Unsereins könnte sich dafür versündigen, schon der Duft treibt einen auf die Palme. Aber immer, wenn ich einen Menschen tiefgefrorenen grünen Pansen auftauen sehe, sehe ich einen Menschen, der angeekelt die Nase rümpft. Aber es gibt auch viele geschmacklicher Gemeinsamkeiten: Fleisch, keine Frage, egal wie zubereitet. Kuchen, lecker! Eis, heiß geliebt und kalt gegessen!

Aber am besten finde ich Vanillepudding, aber das ist nur meine ganz persönliche Meinung und hat nichts mit den Vorlieben unserer drei Jung-Canen zu tun, die eben im Begriff sind eine menschliche Siedlung anzuschleichen.

Dieser Duft, der eine Mischung aus Menschenschweiß und Erdenstaub war, lag den dreien wie ein schweres Parfüm in der Nase. Sie waren ganz hingerissen von diesem Geruch und überlegten sich, dass etwas, das so verführerisch duftet, doch eigentlich nicht schlecht sein könne.

Geduldig lagen die drei in einem Gebüsch nahe der Menschensiedlung. Wie weiland schon Aaron und seine Familie harrten der

Schlafenszeit der Zweibeiner. Endlich drangen die ersten Schnarch-Geräusche aus den überirdischen Höhlen der Menschen herüber.

Aus, für die Canen der Urzeit, unerfindlichem Grund

bewohnten die Menschen eckige Höhlen, die sie aus Baumholz nasser Erde zusammenklebten. Diese Höhlen stellten sie auf einem ebenen Grundstück ab. Wenn sie müde waren, verschwanden sie darin.

Das Schnarchen mehrte sich und schon bald, so schien es den drei Jungcanen im sicheren Gebüsch hoben und senkten sich die menschlichen Behausungen im schnarchenden Rhythmus des Schlafes.

Maya blickte erst Tio und dann Mio tief in ihre braunen Augen.

Dieser Augen-Blick genügte, um auf canisch telepathischem Wege alle Eventualitäten zu beseitigen. Maya hatte Mio befohlen Schmiere zu stehen und Tio telepathiert, er möge ihn begleiten.

Tio tat wie ihm wortlos geheißen und folgte Maya auf das feindliche Terrain. Sie schlichen im so genannten "Tiefstgang". Dabei waren die vier Beine so weit eingeknickt, dass der Bauch beinahe den Boden berührt. Geschickt hielten sie sich vom noch glimmenden Lagerfeuer fern. Nicht, weil sie Angst vor den züngelnden Flammen hegten, sondern, weil sie es tunlichst vermeiden wollten, dass der Feuerschein sich auf ihren dunkelgrau glänzenden Pelzen reflektierte. Sie ereichten die Stelle, wo Maya die Knochen und Speisereste gewittert hatte. Da war es, das Canen-Schlaraffenland, wenigstens für einen Abend! Bleich leuchteten die dilettantisch abgenagten Knochen im Mondlicht.

Den größten Knochen, vermutlich der ehemalige Oberschenkel eines Ochsen, beanspruchte Maya als Anführerin der kleinen Einheit für ich. Beherzt biss sie zu und zog. Doch der Knochen schien sich irgendwo verfangen zu haben. Sie zog erneut. Und wieder fühlte sie einen Widerstand. Maya warf Tio einen befehlenden Blick zu.

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