Unfassbar traurig

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Unfassbar traurig
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Ute Dombrowski

Unfassbar traurig

Fall 5

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

1

Unfassbar traurig

Ute Dombrowski

1. Auflage 2018

Copyright © 2018 Ute Dombrowski

Umschlag: Ute Dombrowski

Coverfoto: Nicole Lutz

Lektorat/Korrektorat Julia Dillenberger-Ochs

Satz: Ute Dombrowski

Verlag: Ute Dombrowski Niedertiefenbach

Druck: epubli

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors und Selbstverlegers unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Harm, der nicht spricht, erstickt das volle Herz und macht es brechen.“

William Shakespeare

Aus „Macbeth“

4. Aufzug, 7. Auftritt, Malcolm

Biancas Blick war starr auf das Foto gerichtet und eine Träne glitzerte in ihrem Augenwinkel. Das Mädchen hatte blonde Zöpfe und strahlte in die Kamera. Im Hintergrund sah sie einen alten Baum und sattgrünes Gras. Die Sonne schien. Die Augen des Kindes waren so blau wie der Himmel. Neben ihm lag ein Strohhut. So hatte sich Bianca immer ihre Tochter vorgestellt, vielleicht nicht blond, aber genauso glücklich und süß.

Weil sie damals dachte, sie wäre schwanger, hatte sie sich gut gefühlt. Als der Test dann negativ ausgefallen war, trauerte sie nur einen Moment und hoffte weiter, dass sie und Michael bald Eltern werden würden. Und dann hatte ihr das Schicksal erbarmungslos den Boden unter den Füßen weggezogen und ihre Hoffnung auf ein Kind mit Michael war mit ihm gestorben. Sie legte die Hände vor das Gesicht und obwohl schon drei Jahre vergangen waren, sah sie das Bild noch immer vor sich, als wäre es gestern gewesen. Das Haus lag in Schutt und Asche und sie hielt den Jungen fest.

Man hatte die Männer aus den Trümmern geborgen, aber es kam jede Hilfe zu spät. Auch zwei weitere Bewohner des Hauses, die von der Explosion überrascht worden waren, konnte man nicht mehr lebend vorfinden. Als die Sanitäter Leonard mitgenommen hatten, war Bianca ohnmächtig geworden und lebte lange Zeit wie in einer anderen Welt. Sie aß nicht, schlief nicht und sprach nicht.

Nach einem halben Jahr in der Klinik war sie nach Hause zurückgekehrt und ein weiteres halbes Jahr später hatte sie begonnen, im Archiv zu arbeiten, nur um nicht mehr unter Menschen gehen zu müssen. Hier, in der Abgeschiedenheit des Kellers, zwischen endlosen Regalen, saß sie tagtäglich über den ungeklärten Fällen und durchsuchte die Akten nach brauchbaren Hinweisen. Aktuelle Fälle waren für Bianca genauso weit weg wie ein aktives Leben.

Im Präsidium in Eltville hatte man ihren Posten neu besetzt und im alten Büro von Michael und Benedikt saßen zwei neue Kommissare, denen sie noch nicht ein einziges Mal begegnet war. Und das vor allem deswegen, weil sie es nicht wollte. Der Name Bianca Verskoff und ihr Schicksal waren jedoch allgemein bekannt und die Kommissarin mit ihrem hochsensiblen Spürsinn fehlte an allen Ecken und Enden.

Jeden Abend ging Bianca heim in die leere Wohnung und schloss die Tür zwischen sich und der Welt da draußen zweimal zu. Seit dem Tag im Sommer war sie auch nicht mehr an den Rhein gegangen, nein, sie war überhaupt nicht mehr rausgegangen. Den Einkauf erledigte sie auf dem Heimweg in der Stadt, damit sie in Eltville niemandem begegnen konnte, den sie kannte, der sie womöglich ansprechen und sein Mitleid ausdrücken konnte.

„Vielleicht sollte ich wegziehen.“

Ihre Stimme klang fremd und sie begriff nicht, was sie eben laut gesagt hatte. Das kleine Mädchen auf dem Foto lächelte immer noch.

„Weit weg. Ans Meer.“

Das Mädchen sah aus, als würde sie die Idee für großartig halten. Bianca starrte in die blauen Augen und die Träne lief jetzt über die rechte Wange. Sie wischte sie weg und schaltete den Computer aus. Feierabend, dachte sie, aber wozu eigentlich? Mit hängenden Schultern stieg sie die Treppe hinauf und ging mit gesenktem Blick über den Parkplatz. Die Kollegen im Foyer hatten ihr traurig hinterhergeschaut. Niemand wagte es, die Kommissarin anzusprechen und sie selbst ging auch auf keinen anderen Menschen zu. Jeder wusste, was geschehen war, aber es war ein Tabu, über das man nicht redete, schon gar nicht mit Bianca.

Im Auto merkte sie, dass es schon fast dunkel war. Sie startete den Motor und rollte langsam durch das große Tor. Hinter ihr schloss sich die Schranke. Dass der junge Kollege im kleinen Häuschen am Ausgang nickte, nahm Bianca gar nicht wahr. Daheim angekommen duschte sie heiß und stand lange vor dem Spiegel. Ihre Haare waren länger geworden, denn sie war nicht mehr zum Frisör gegangen, weil man sie immer gefragt hatte, wie es den Lieben ging und was es für Neuigkeiten gab.

Bianca aber hatte die Leitungen zu ihrem alten Leben gekappt und sich vollkommen zurückgezogen. Im Bademantel, mit einem Handtuch um den Kopf gewickelt, legte sie sich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. Irgendwann aß sie eine Scheibe Brot und trank eine Tasse Tee. Danach ging sie wie jeden Abend um elf Uhr ins Bett, um nach wie vor mehrmals in der Nacht hochzuschrecken.

Am Anfang hatten Jürgen und seine Frau noch nach ihr geschaut, aber Bianca hatte sie so lange abgewiesen, bis sie nicht mehr kamen. Die beiden genossen jetzt ihren Ruhestand, besuchten oft ihre Enkelin und deren Eltern in Erbach und ab und an kam eine Postkarte mit Strandmotiv von ihren viele Reisen.

Heute schlief Bianca nicht sofort ein, sondern sprang noch einmal aus dem Bett, um sich ihren Laptop zu holen. Sie ließ sich Bilder von der Ostsee und Nordsee zeigen. Es gab herrliche kleine Orte, wo die Häuser mit ihren Schilfdächern vor einem wunderbar blauen Meer standen und einluden sich zu verkriechen. Es gab endlose Strände, an denen man bis zum Horizont laufen konnte. Es gab das unendliche Wasser, türkisblau und kühl, darüber spannte sich ein leuchtendblauer Himmel. Bianca hatte beim Betrachten der einladenden Fotos den Geruch von Meer in der Nase und den Geschmack von Räucherfisch auf der Zunge.

 

„Da will ich leben. Ganz allein. Ach Michael, könnte ich dich doch mitnehmen. Wir würden den ganzen Tag durch den Sand und das seichte Wasser laufen und Muscheln sammeln. Du würdest kleine flache Steine für mich über die Wellen flippen lassen, so, wie du es immer am Rhein getan hast.“

Sehnsüchtig klappte sie den Laptop zu, stellte ihn neben das Bett auf den Boden und rollte sich unter der Decke zusammen. Es war Sommer, aber sie zitterte vor Kälte. Bald fielen ihr die Augen zu. Am nächsten Morgen wachte sie auf und reckte sich. Ihr Blick fiel auf den Laptop und sie entschloss sich, am Wochenende ans Meer zu fahren, um sich dort davon zu überzeugen, dass ein Neuanfang möglich war. Denn eines war sicher: Es musste etwas passieren. Instinktiv spürte Bianca, dass sie etwas unternehmen musste, um nicht bei lebendigem Leibe zu sterben.

Sie griff zum Telefon.

„Warum nicht sofort losfahren?“, rief sie sich zu und wählte die Nummer ihres Vorgesetzten.

Zehn Minuten später hatte sie Urlaub und suchte nach ihrer Reisetasche. Als sie sie von Schrank zog und den Staub weggepustet hatte, zuckte sie zu­sammen. Ein Prospekt fiel vor ihre Füße. Ein Prospekt vom einem Hotel, dem Hotel, in dem sie geheiratet und die Hochzeitsnacht verbracht hatten. Bianca saß wie gelähmt auf der Bettkante, während ihre Hochzeit wie ein Film noch einmal vor ihr ablief. Endlich ging ein Ruck durch ihren Körper und sie nahm das bunte Heftchen in die Hand. Sanft strich sie über die Hochglanzseiten und lächelte.

„Das war so schön dort“, flüsterte sie.

Am liebsten hätte sie geweint, aber die meisten Tränen waren verbraucht, einzig eine unendliche Leere machte sich breit. Sie kämpfte dagegen an, indem sie jetzt schnell die Tasche packte. Im Bad schob sie die Kosmetikartikel in den Kulturbeutel und legte ein großes Strandtuch oben auf in die Reisetasche. Sie überlegte, ob sie ein Zimmer buchen sollte, entschloss sich aber, spontan loszufahren und erst dort eine Unterkunft zu suchen.

„So!“, sagte sie laut, denn Selbstgespräche gehörten seit längerer Zeit zu ihrem Leben.

Sie sah sich noch einmal in der Wohnung um, die voller Erinnerungen war und seufzte.

„Sorry, aber ich muss einen Weg finden, um ohne dich weiterzuleben.“

Sie schloss die Tür, setzte sich ins Auto und fuhr los.

2

Das Mädchen war etwa sechzehn Jahre alt. Sie lag auf dem Rücken. Ihr Rock war hochgeschoben, die Strumpfhose zerrissen und der Slip fehlte. Ihre offenen blauen Augen starrten in die weißen Wolken, die in raschem Tempo über den Weinberg flogen.

„Sie sieht so friedlich aus“, murmelte Christine Flitzker, die von allen nur Tine genannt wurde und ein einjähriges Praktikum bei der Spurensicherung machte.

„Manchmal sehen sie aus, als würden sie nur schlafen, aber lass mal, Tine, es gibt auch Fälle, da schaust du in ihre Gesichter und weißt, welche Qualen sie durchlitten haben.“

Die sanfte tiefe Stimme gehörte zu Falk Pern, dem neuen Leiter der Spurensicherung. Er hatte die Stelle von Jürgen übernommen, der seine ehemaligen Kollegen ab und zu besuchte, um ein bisschen zu fachsimpeln. Falk war Mitte vierzig und verheiratet. Seine zwei Jungs, neun und elf Jahre alt, hielten ihn an den Wochenenden auf Trab, aber oft war er traurig, nicht mehr Zeit mit ihnen verbringen zu können.

Er war ein guter Lehrmeister für Tine, die sich vom ersten Tag an in ihre Arbeit gekniet hatte und den Kollegen manchmal mit ihrer grenzenlosen Neugier aus dem Konzept brachte.

Nachdem die Fotos gemacht waren, schob Tine dem Opfer den Rock herunter und fühlte sich so ein wenig besser, denn die Nacktheit, die eine unendliche Verletzlichkeit offenbarte, berührte sie fast mehr als die Tatsache, dass das Mädchen tot war.

„Die riesigen Fußspuren gehören zu Sportschuhen. Ich schätze, es war ein Mann.“

„Sehr gut“, sagte Falk und gab Tine den Auftrag, Gipsabdrücke herzustellen. „Wo bleiben denn unsere beiden Schnüffler?“

Da klappten unten am Weg zwei Autotüren und die Kommissare, die sich unüberhörbar in einem Streit befanden, kamen näher.

„Nein, du bist echt zu doof, das Navi zu bedienen“, sagte eine schlanke Frau mit kurzen roten Haaren und lachte laut.

„Das ist nicht lustig, du Besserwisserin und außerdem ist dein Lachen am Fundort einer Leiche alles andere als passend.“

Ferdinand Waldhöft war es auch nach zehn Jahren bei der Mordkommission immer noch sehr unangenehm, an einen Tatort gerufen zu werden. Es machte ihn nervös, nicht zu wissen, mit welchem Anblick er konfrontiert werden würde. Wenn dann noch ein Kind oder ein Jugendlicher das Opfer war, kämpfte er stets mit seinen Gefühlen. Seine Kollegin war abgebrüht oder eine gute Schauspielerin. Sie zeigte niemals Gefühle und das mochte Ferdinand gar nicht.

„Nächstes Mal fahre ich!“, rief die Kommissarin. „Besser noch, du nimmst den Bus. Es ist das dritte Mal, dass wir uns verfahren und das in so einer Gegend. Es gibt doch immer nur drei Straßen in diesen Winzerorten und alle führen entweder in Richtung Rhein oder in die Weinberge.“

„Das Schöne ist ja, dass ich hier das Sagen habe, meine Liebe. Also nimmst du den Bus, wenn dir mein Fahrstil nicht gefällt.“

Sie waren bei Falk und Tine angekommen, die nur den Kopf schüttelten. Einerseits konnte Falk Ferdinand verstehen, der mit der Technik auf Kriegsfuß stand und ein Navi für etwas Unanständiges hielt, andererseits hatte er schon öfter gedacht: Der soll sich mal nicht so anstellen und seiner Kollegin das Steuer überlassen. Ella Grassoux hatte mit dem Navi und großem Eifer den Rheingau erobert. Sie stammte zwar aus Berlin, doch seit sie vor drei Jahren hergezogen war, kannte sie sich in der Gegend aus, als wäre sie hier schon immer zuhause. Ferdinand nannte sie eine „Stadtpflanze“ und traute ihren Ortskenntnissen nicht über den Weg.

Ella war wie Ferdinand vierzig und lebte mit ihrer Lebensgefährtin in Erbach. Alle warteten auf eine große Hochzeit. Ellas Partnerin wollte sich jedoch nicht binden, denn sie hatte jeden Tag Angst, dass Ella im Dienst erschossen wurde. Die ständigen Diskussionen, die meist in einem Krach endeten, trugen täglich dazu bei, dass Ella oft schlechte Laune hatte.

Ferdinand Waldhöft dagegen war ein einsamer Wolf, der seit einer Ewigkeit allein lebte. Er hielt eine Beziehung und Familie für nicht kompatibel mit seinem Beruf. Meistens ging er still und besonnen seiner Arbeit nach. Vor kurzem hatte er noch in einem kleinen Revier bei Gießen gearbeitet. Als er versetzt wurde, ahnte er nicht, dass er ein schweres Erbe antreten würde. Seine Vorgänger waren beliebt und geachtet gewesen, überall wurde getrauert und die große Leere war fast greifbar. Erst langsam kamen alle wieder in der Realität an und es stimmte tatsächlich: Das Leben geht weiter. Die großen und kleinen Verbrecher nahmen keine Rücksicht und binnen kurzer Zeit hatte der Alltag sie im Griff.

Er war sehr zufrieden, dass er eine Kollegin zur Seite gestellt bekam, die sich nur für Frauen interessierte, also musste er sich nicht mit persönlichen Gefühlen herumschlagen. Von Bianca Verskoff hatte er viel gehört, aber sie bisher nie getroffen. Man sagte ihr ein besonderes Gespür für Menschen nach und das wäre etwas gewesen, was Ferdinand und sie verbunden hätte, aber Bianca vermied jeden Kontakt mit dem alten Präsidium. Er war neugierig auf sie, aber das wollte er niemandem verraten.

„Das ist ja noch ein halbes Kind“, sagte er leise, als der Gerichtsmediziner das weiße Tuch anhob. „Wie lange liegt sie schon hier?“

„Seit letzter Nacht“, erklärte Herrmann Pfriehl, der für Olaf Brzsick ins Team gekommen war.

Olaf hatte eine Stelle an der Universität bekommen und zugesagt, denn er hielt es für wichtig, sich immer wieder neuen Aufgaben zustellen. Außerdem hatte ihm das Unglück ebenfalls stark zu gesetzt.

„Wurde sie vergewaltigt?“

„Ja, leider auch das. Sie wurde erst getötet und dann vergewaltigt. Jetzt nehme ich sie mit in die Gerichtsmedizin und alles Weitere erfahrt ihr in meinem Obduktionsbericht.“

„Danke. Ella, wo fangen wir an?“

Die Kommissarin sah sich um und fragte: „Wo ist die Joggerin, die sie gefunden hat? Warum rennt die denn um diese Zeit durch die Weinberge?“

„Das kannst du sie selbst fragen, aber sie ist schon weg, weil der Ehemann zur Arbeit muss und dann nicht mehr auf das Kind aufpassen kann“, sagte Falk, der wusste, wie die Kinderbetreuung ablief. „Sie geht immer in aller Frühe joggen, weil sie so auch mal eine Stunde nur für sich hat. Das ist bei uns ähnlich, aber meine Frau nimmt ihre Auszeit am Abend, wenn sie zum Chor geht.“

Ferdinand grinste, aber schnell wurde er wieder ernst. Jetzt trat Tine zu ihnen und beschrieb noch einmal den riesigen Fußabdruck. Die Kommissare verabschiedeten sich. Auf dem Weg warf Ferdinand Ella den Autoschlüssel zu.

„Oh, danke. Was für eine Ehre, dass ich fahren darf. Aber so kommen wir wenigstens heute noch an.“

Dina Quornick öffnete im Jogginganzug die Tür. Auf dem Arm hielt sie ein kleines Mädchen von etwa vier Jahren. Sie hatte dunkelblonde Zöpfe mit roten Schleifen und schaute die Besucher neugierig an.

„Kommen Sie herein“, bat die junge Frau, die Ende zwanzig sein mochte, „bitte entschuldigen Sie die Unordnung.“

„Keine Sorge“, sagte Ella trocken, „wir sind nicht zum Aufräumen hier. Sie haben die Tote gefunden?“

Ferdinand hatte den Frauen das Gespräch überlassen und saß mit dem kleinen Mädchen auf dem Spielteppich. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn. Würde er auch irgendwann mal eine Familie und Kinder haben? Oder wollte er für den Rest seines Lebens Single sein? Der Gedanke daran war jetzt noch verlockend, weil er einen unbeschreiblich großen Freiraum hatte, aber konnte er, wenn er alt war und keine Aufgabe mehr hatte, wirklich ganz allein bleiben?

„Das ist meine Puppe Lisa“, erklärte das Mädchen. „Die heißt so wie ich.“

„Das ist eine schöne Puppe, Lisa.“

„Hast du auch eine Puppe?“

„Ich bin doch ein Junge! Jungs haben Autos.“

„Hast du Autos?“

„Ja, ein rotes.“

„Aber du bist nicht mit einem roten Auto bei uns. Hast du das verloren?“

„Nein, das da draußen ist Ellas Auto. Ich bin mit ihr gefahren.“

Jetzt strahlte die Kleine.

„Das ist aber lieb, wenn die Ella dich mit ihrem Auto spielen lässt.“

Ferdinand strich ihr über das Haar und seine sanften Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er hätte in diesem Moment alles gegeben für diese Unbeschwertheit und Naivität. Aber das Leben war nicht unbeschwert. Das sah er jetzt auch an Dina, die in Tränen ausgebrochen war. Das kleine Mädchen ging zu ihr, kroch auf ihren Schoß und nahm das Gesicht ihrer Mutter in die kleinen Hände.

„Mama, du bist ja traurig. Warum weinst du denn?“

„Ich habe heute früh ein anderes Mädchen gesehen, dem hat jemand wehgetan.“

„Wer denn?“

„Das wissen wir noch nicht“, sagte Ella und erhob sich. „Wir finden den aber und dann kommt er ins Gefängnis.“

Lisa nickte und Dina nahm sie auf den Arm, um die Kommissare zur Tür zu begleiten. Im Auto fasste Ella kurz zusammen, was die Frau berichtet hatte.

„Aber sie hat niemanden dort gesehen. Es gab keine Arbeiter und keine Spaziergänger, wie auch um diese Uhrzeit. Sie hat außerdem gesagt, dass im Ort irgendwo ein Fest war. Früher war sie auch immer dort.“

„Was für ein Fest?“

„Kerb? Kirmes? Weinfest? Keine Ahnung, ihr findet ja immer einen Grund für so einen Kram.“

Schweigend fuhren sie ins Präsidium, wo der Staatsanwalt schon ungeduldig wartete.

„Wer ist der Täter?“, fragte Dr. Hans-Martin Rosenschuh.

„Wir wissen ja noch nicht einmal, wer das Opfer ist. Wie sollten wir denn schon den Täter kennen?“

Der Staatsanwalt ging nicht auf den frechen Ton von Ella ein und sah einfach an ihr vorbei. Ferdinand zuckte nur mit den Schultern.

„Wie meine Kollegin sagt.“

„Dann tratschen Sie hier nicht herum und gehen schnellstens an die Arbeit!“

Als sie die Tür des Büros hinter sich zugemacht hatten, ließ sich Ella in ihren Sessel fallen.

„Mann, so ein Stinkstiefel.“

Ferdinand kochte Kaffee und winkte ab.

 

„Ignorier ihn! Wir müssen herausfinden, wer das Mädchen ist.“

3

Bianca war an der Ostsee angekommen und hatte ein winziges Zimmer in einer kleinen Pension gefunden. Ein junges Pärchen hatte abgesagt. Die Kommissarin stellte die Reisetasche auf ihr Bett und sah aus dem Fenster. Vor ihr lagen der Strand und die von Wellenbergen durchzogene Ostsee. Rasch zog sie sich eine Jacke an und machte sich auf den Weg ans Wasser.

„Das muss Schicksal sein“, flüsterte sie. „Das Wasser direkt vor der Nase, der Wind, die Sonne … Michael, ich wünschte, du wärst hier.“

Langsam ging sie am Rande der Wellen, die auf den Strand rollten, entlang. Sie bückte sich nach dem einen oder anderen Stein und steckte ihn in die Jackentasche. Sie würde sich im Archiv eine Schale mit Erinnerungsstücken vom Urlaub hinstellen, um ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: Sie wollte hier leben, an der Ostsee, wo die Trauer und der Schmerz weit weg waren.

Wenn sie geahnt hätte, dass in der Heimat ein Mord geschehen war, der die Polizei noch für eine lange Zeit in Atem halten würde, wäre sie vielleicht sofort zurückgefahren. Aber sie wollte nicht mehr auf Menschen treffen, die böse sind, die andere Menschen verletzen oder gar töten, nein, sie suchte nach dem inneren Frieden und wollte das Leid vergessen.

Am Abend ging sie in ein Restaurant, in dem frischer Fisch angepriesen wurde. Es schmeckte herrlich, aber die totale Entspannung wollte sich nicht einstellen. Nach dem Essen schlenderte Bianca durch den Ort, der auch um diese Uhrzeit von Touristen überfüllt war. Hier, inmitten der fröhlichen Urlauber, schlich sich plötzlich ein Gedanke in ihren Kopf: Ich gehöre hier nicht her!

Unzufrieden schloss sie die Tür des kleinen Zimmers hinter sich und setzte sich auf den Sessel, der neben einem Bett, einem quadratischen, Tisch, einem Nachtschrank und einem Sideboard das Zimmer völlig ausfüllte. Die Enge kam ihr jetzt bedrückend vor. Bianca begann zu bezweifeln, ob der Urlaub wirklich eine so gute Idee gewesen war.

„Egal“, sagte sie zu sich selbst, „ich musste nur mal raus. Und wenn es mir wenigstens hilft, dass ich jetzt weiß, dass ich aus meiner Heimat nicht weg kann, dann hat es doch auch etwas Gutes.“

Sie führte diese Selbstgespräche oft, denn außer Riva im Archiv gab es kaum jemanden, mit dem sie sprechen konnte und wollte.

Riva Minettoz war eine aufregend schöne Frau, die sie ein wenig an Fabienne erinnerte, trotz ihrer vierunddreißig Jahren sah sie jedoch aus wie ein junges Mädchen. Sie besaß Feuer und Charisma und hätte jeden Tag einen neuen Liebhaber haben können. Aber es gab seit der Schulzeit nur einen Mann, den sie abgöttisch liebte. Er war ihr Lehrer gewesen, als sie am Gymnasium war. Schon vom ersten Tag an gefiel ihr der kluge, gutaussehende Mann und als sie ihr Abitur in der Tasche hatte, gestand sie ihm ihre Liebe.

Ein paar verrückte und aufregende Monate später waren sie ein Paar. Er hatte sich von seiner Frau getrennt, denn auch er spürte diese eigentümliche Anziehungskraft. Riva hatte Verehrer wie ein Fisch Schuppen, aber für sie gab es seitdem nur diesen einen Mann.

„Du musst mal wieder unter Leute, Bianca“, sagte sie beinahe jeden Tag.

Ebenso oft antwortete Bianca: „Nein, ich bin zufrieden, wie es ist. Ich mag keine Menschen in meiner Nähe.“

Kurz entschlossen wählte sie Rivas Nummer. Die Kollegin meldete sich verschlafen.

„Sag mal, weißt du nicht, wie spät es ist? Was ist passiert?“

„Ich bin an der Ostsee und mache Urlaub.“

„Davon habe ich schon gehört und ich freue mich! Endlich kommst du mal raus aus deinem Schneckenhaus.“

„Es ist furchtbar hier.“

„Oh.“

Riva setzte sich im Bett auf und machte sich auf ein längeres Telefonat gefasst.

„Erzähl!“, forderte sie Bianca auf.

„Ich dachte, es ist eine gute Idee und ich wollte sehen, ob ich vielleicht hier auch leben kann. Aber …“

Bianca zögerte.

„Aber?“

„Ich fühle mich hier wie ein Fremdkörper. All diese gut gelaunten Touristen und die lauten Kinder, das geht mir jetzt schon auf die Nerven.“

„Dann schlaf dich aus und komm heim.“

Heim, dachte Bianca, ja, es war richtig, im Rheingau war sie zuhause, dort hatte sie ihre Wurzeln und wer sagt denn, dass die Erinnerungen nicht irgendwann gut würden?

„Danke, Riva. Entschuldige, dass ich dich gestört habe. Ich komme morgen wieder zurück und werde ein neues Leben beginnen.“

Riva lächelte vor sich hin und streckte sich wieder aus, nachdem sie aufgelegt hatte. Ihre große Liebe Peter hatte von dem Telefonat nichts mitbekommen, denn in ihrer Nähe konnte er sich so gut entspannen, dass er schlief wie ein Stein. Sie rutschte zu ihm hinüber und kuschelte sich an seinen warmen Körper. Mit einem entspannten Seufzer kam der Schlaf zurück.

Bianca fühlte sich nach dem Gespräch irgendwie erleichtert. Es war, als bräuchte sie gar keine Entschuldigung dafür, dass der Urlaub eine Schnapsidee war. Sie legte sich ins Bett und schlief augenblicklich ein.

Am nächsten Morgen gab sie das Zimmer auf, bezahlte und machte sich auf den Weg in den Ort zu einem ausgiebigen Frühstück. Noch ein letztes Mal lief sie an den Strand. Heute war es sonnig und Unmengen von Leuten hatten sich hier für den Tag eingerichtet. Sie saßen in Strandkörben, lagen auf Decken oder räkelten sich in mitgebrachten Liegestühlen und ließen sich in der Sonne braten. Das Gebrodel der Stimmen, die sonnenölgetränkten Körper, der Müll, der zwischen den Menschen lag, all das trug dazu bei, dass sie wusste, wo sie hingehörte.

Sie wendete dem Getümmel den Rücken zu und machte sich auf den Heimweg.

„Michael, ich komme nach Hause. Verzeih mir, dass ich dachte, ich könnte ohne dich leben.“

Am Abend rollte sie in die Einfahrt des Hauses und blieb noch einen Moment im Auto sitzen, bevor sie in ihre Wohnung ging. Sie legte den Kopf auf die Hände, die sie fest um das Lenkrad geschlossen hatte und weinte.

Es war zwar eine wichtige Erkenntnis gewesen, dass sie nicht von hier weggehen konnte, aber sie wusste noch immer nicht, wie sie den Schmerz in den Griff bekommen sollte.

„Wenn wir doch ein Kind gehabt hätten“, murmelte sie und stieg aus.

Am kommenden Tag ging sie wieder zur Arbeit. Riva kam ihr im Keller entgegen und nahm sie wortlos in den Arm.

„He, du bist ja noch weiß wie ein Käse. Ich denke, du warst an der Ostsee?“, scherzte sie später.

Bianca kannte ihren Humor und lächelte.

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie gut es ist wieder zuhause zu sein. Können wir heute Abend essen gehen? Ich muss mal reden.“

„Natürlich. Ich rufe Peter an und dann machen wir einen drauf. Wenn du magst, darfst du dich betrinken. Ich kann dich ja heimbringen.“

„Mal sehen. Ich freue mich. Was gibt es Neues?“

„Wenig, die alten Fälle sind immer noch genauso ungelöst wie vor deinem wahnsinnig langen Urlaub.“

„Dann ist es ja gut. Sonst hätte ich jetzt nichts zu tun. Danke für alles.“

Die Frauen drückten sich nochmal und rasch verschwand Bianca in ihrem kargen Büro. Sie fuhr den Computer hoch und wieder lächelte ihr das kleine blonde Mädchen entgegen.

Nachdem sie auch heute wieder stundenlang die Fakten des Falles durchging und doch zu keinem Ergebnis kam, machte sie Feierabend und suchte nach Riva.

Die Kollegin stand in der Toilette vor dem Spiegel und zog sich die vollen Lippen nach, dann schüttelte sie die schwarzen Locken und lächelte ihrem Spiegelbild zu.

„Gehst du so mit mir?“, fragte sie Bianca, die sich neben der großen, schlanken Schönheit wie eine graue Maus vorkam.

„Ich gehe auch im Jogginganzug mit dir. Wo wollen wir denn essen?“

„Lass uns in deine Richtung fahren, ich habe Lust auf ein Glas Wein und eine riesige Portion Spundekäs.“

Bianca spürte einen kalten Schauer, der ihr über den Rücken lief. Seit drei Jahren war sie nicht mehr im Rheingau eingekehrt und sie überlegte in diesem Augenblick schon, wie sie Riva davon überzeugen konnte, in Wiesbaden zu bleiben.

Die las die Gedanken ihrer Kollegin und sagte streng: „Wir fahren in den Rheingau oder ich gehe heim.“

Bianca knabberte an ihrer Unterlippe, aber sie nickte. Es fiel ihr schwer, die Vergangenheit auszublenden. Schweigend gingen sie zu den Autos und Riva fuhr voraus. Bianca hängte sich dran und bald sah sie, dass Riva zum Kloster Eberbach unterwegs war.

Die beiden Frauen stiegen aus und liefen durch den schönen Garten. Blumen blühten, der Rasen war trotz der Hitze grün und die riesigen Bäume warfen lange Schatten. Das alte Kloster lag still in der Abendsonne. Es waren nur noch wenige Menschen unterwegs und Bianca atmete tief durch. Auf der anderen Seite angekommen stiegen sie die Stufen zur Klosterschänke hoch und fanden einen Platz an einem der Tische auf der Terrasse.

Die Bedienung trug eine Tracht und fragte höflich nach ihren Wünschen. Bianca schloss sich Rivas Bestellung an und so warteten sie auf die doppelte Portion Spundekäs mit dem frischen Brot, das hier im Kloster gebacken wurde.

„Warst du mal zum Konzert hier?“, fragte Riva.

„Nein, wir wollten das immer mal machen, aber irgendwie hatten wir nie Zeit. Du?“

„Ja, ich war zum Mozart-Requiem und es war der Hammer. Ich saß zwar weit hinten, aber direkt am Gang, da war die Akustik der Wahnsinn. Irgendwie hatten diese Musiker etwas Mystisches. Die haben ja nicht nur das Requiem gesungen, aber das war der Höhepunkt. Ich fand es nur bescheuert, dass manche Leute nicht mal abwarten konnten, bis wir zu Ende geklatscht haben und einfach schon rausgegangen sind.“

„Was? Das darf nicht wahr sein. Sie sind einfach aufgestanden und rausgegangen?“

„Ja, aber die Strafe haben sie direkt bekommen. Ich habe geklatscht wie verrückt und stand an meinem Platz und plötzlich wurde es ganz ruhig und sie haben eine Zugabe gebracht. Also hat sich mein gutes Benehmen ausgezahlt. Ich denke aber nicht, dass wir den Abend lang über mich reden wollen, oder?“

Das Essen kam, dazu schenkte ihnen die Bedienung Wein aus dem Kloster ein und ging mit einem Lächeln fort. Bianca nippte am Wein und nickte.

„Jede Ablenkung ist willkommen. Glaub mir, ich dachte wirklich, ich packe meine Sachen und ziehe an die Ostsee. Ich war mir so sicher, dass es eine richtige Entscheidung war und dann habe ich es nicht mal für einen Kurzurlaub dort ausgehalten.“

„Ich bin darüber nicht sehr unzufrieden. Mensch, du kannst doch nicht einfach abhauen. Und ich denke, dem Kummer kannst du selbst an der Ostsee nicht entkommen.“

„Das ist mir dann auch klar geworden. Ich möchte ja gerne wieder richtig leben, aber es ist, als wäre es gestern gewesen. Weißt du, dass ich seit drei Jahren nicht mehr am Rheinufer in Eltville war?“