Loe raamatut: «Liebe und Vernunft»
Vorwort
AUFTAKT
Hinterlist mit Folgen
TEIL I
Lina Weissert aus Heilbronn
Ausbruch aus Altstetten: Die Grossfamilie Huber
Der Stammheimer «lingg Hauptmä»
Hans Conrad Huber und Anna Widmer – eine tumultuöse Beziehung
TEIL II
Sturm und Drang in Zürich
Bewegtes Familienleben in Zürich und Mutters Tod
Die Bollerei: Linas Lebensschule und zweite Heimat
Frau Keller oder Frau Huber? Werben um Lina
«Ihr Wille allein fehlt noch zur Ausführung»
Zwischen Ebbe und Flut, Hoffnung und Katastrophen
TEIL III
Die «Genferin» oder die Frau nach seinem Bilde
Der «unruhige Schwärmer»
Liebe – Freundschaft –Eifersucht: Otto Stoll
Linas Genfer Alltag
Wissenschaft – nichts als ein ferner Traum?
Verkümmerter Arm und kranke Füsse
Steiniger Weg zum Hochzeitsfest
TEIL IV
Frostiges Zürcher Intermezzo
«Du warst niemals so gerne in Trogen wie ich»
Zwischen Chance und Enttäuschung: die ersten Basler Jahre
Missstimmungen und neue Chancen: die letzten Basler Jahre
Endlose Geldnöte oder: wo blieb die «Besoldung, aus der man in unsern Kreisen leben kann»
Ihre glücklichste Zeit? Lina und Eugen Huber in Halle
TEIL V
Auf der Zielgeraden zum ZGB: die Berner Jahre
Eine ganz und gar unerwartete Tragödie
Lina oder die Sünderin von Bethanien
Dienstbare Geister und die Bewältigung des huberschen Alltags
TEIL VI
Gespräche mit der verstorbenen Lina – Blick durchs Schlüsselloch in Hubers Alltag
Im Schatten der Heimlichkeit – Marieli zwischen Hochschule, Ehe und Tochterpflichten
Hubers zweites Glück: Maria Schuler aus Glarus
Epilog: Leben im Korsett der Konvention – auf dem Weg in eine neue Zeit
Anhang
Anmerkungen
Zeittafel
Bibliografie
Namensregister
Stammbaum
Dank
VORWORT
Eugen Huber, der Schöpfer des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, war eine Persönlichkeit des öffentlichen Interesses und sein Nachlass fand Eingang ins Schweizerische Bundesarchiv in Bern. Unter den Dokumenten befindet sich ein reicher Schatz von Briefen sowie Hubers Agenden mit allerlei privaten Notizen. Linas Tagebücher dagegen sind verschollen und es sind einzig Briefe überliefert, die sie an ihren Verlobten und späteren Gatten schrieb.
Keine Biografie ist objektiv, doch in diesem Fall kommt erschwerend hinzu, dass Lina aufgrund der überlieferten Papiere stets durch Eugen Hubers Brille gesehen wird. Ihrem Mann berichtete sie Dinge, von denen sie annahm, sie würden ihn interessieren. Was Lina sonst beschäftigte, wissen wir nicht. Einen Briefwechsel zwischen den beiden gab es zudem nur in Zeiten der Trennung. Bestimmte Lebensabschnitte sind deshalb weniger gut dokumentiert als andere. So kennen wir die schwierigen Kämpfe der Verlobungszeit, während die glücklichen Jahre in Halle kaum schriftliche Spuren hinterliessen.
Nach Linas Tod schrieb der einsame Witwer über sieben Jahre lang Lina täglich einen Brief – auch ein Ersatz für die gemeinsamen Gespräche am Mittagstisch. Sie geben einen vielleicht einseitigen, aber faszinierenden Einblick in die Alltagsgeschichte jener Epoche, und sie spiegeln darüber hinaus die Gedanken und Gefühle eines Mannes zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
AUFTAKT
HINTERLIST MIT FOLGEN
Sonntagmorgen, 16. November 1873, an der Schifflände in Zürich: Am Eingang des «Café Boller» – im Volksmund «Bollerei» genannt – meldet sich in aller Frühe Emil Zürcher bei der 22-jährigen Kellnerin Lina Weissert. Er überbringt ihr eine mündliche «Citation» auf das Obmannamt, die Staatsanwaltschaft. Um kein Aufsehen zu erregen, habe er auf eine formelle Vorladung durch den Weibel1 verzichtet. Lina solle sich um acht Uhr auf sein Büro bemühen, um «in einer eiligen Prozedur Auskunft zu geben». Das Obmannamt, keine zehn Minuten von Linas Arbeitsplatz entfernt, liegt am Rand der Zürcher Altstadt. Mit welchen Gefühlen sie sich wohl auf den kurzen Weg machte? Wie sie auf dem Amt eintrifft, empfängt der Jurist Zürcher Lina mit den Worten: «Fräulein, der Mensch wünscht sie zu sprechen, wollen sie ihm Audienz geben.»2 Verblüfft erkennt sie Eugen Huber und macht Zürcher ein Zeichen, er möge weg gehen.
Der 24-jährige Eugen Huber, auch er Jurist, war als Student regelmässiger Gast in der Bollerei, seit Kurzem arbeitet er in Bern. Über Freund Zürcher erhielt er einige Tage vorher endlich ein Bild von Lina, ein Zeichen ihres Wohlwollens, auf das er Jahre gewartet hatte. Erfüllten sich jetzt seine Hoffnungen? Huber mochte nicht schreiben, er wollte Linas Antwort auf der Stelle hören. Während der Fahrt von Bern nach Zürich überlegte er hin und her: Hätte er seiner Angebeteten nicht doch besser einen Brief gesandt? Was, wenn er sie missverstehen und sie ihm einen Korb geben würde? Kurz vor Zürich fiel ihm der rettende Plan ein, wie es anzustellen wäre, um mit Lina allein sprechen zu können.3 Die Samstagnacht verbrachte Huber bei Zürcher und sie heckten den «fidelen Bubenstreich»4 aus, am frühen Sonntagmorgen steht er dann «im kalten Wind»5 und beobachtet von fern die Szene an der Schifflände.
In der Amtsstube kommt Huber sofort zur Sache, bietet Lina das Du an, gibt ihr «halb elend, halb glücklich»6 den ersten Kuss und bittet sie, seine Frau zu werden. Lina, vom Gang der Ereignisse überrollt, lässt alles mit sich geschehen. Huber «ist selig»,7 glaubt sich am Ziel seiner Träume, er ist mit Lina verlobt: «Mir kam es vor», schreibt er ihr einen Tag später, «wir gleichen zwei Heimatlosen [und] wie wir auf dem Bureau unsres Freundes mit Küssen den Schwur besiegelten, zusammen uns eine Heimat zu gründen.»8
Kaum verlobt, hetzt Lina zur Arbeit zurück. Jetzt erst kommen Huber Zweifel. «Als du die Treppe herunter giengst, kam ich mir ganz elend vor, dass ich dich ins Obmannamt gerufen.»9 Fürs Sinnieren bleibt indessen keine Zeit, Zürcher warnt vor der drohenden Ankunft seines Chefs, des Staatsanwalts, die beiden jungen Männer machen sich aus dem Staub.
Von Hubers Aufenthalt in Zürich darf niemand etwas erfahren. So nehmen die Freunde den Zug nach Baden, spazieren «in traulichem Geplauder über unsere zukünftigen Frauen» durch die Stadt, essen zu Mittag, besteigen den Felsvorsprung oberhalb der Schlossruine und bewundern den schönen Abendhimmel. Huber denkt fast ununterbrochen an Lina und ist überglücklich.
Zurück im Wirtshaus kann Lina ihrer Chefin Frau Vontobel nur mit Mühe «eine scheinbar gleichgültige Antwort» geben. Sie sei gerufen worden «wegen einem Individuum, das seinerzeit Überröcke gestohlen habe und da meine Aussage nicht mit den polizeilichen Anzeigen stimmte, so wurde ich entlassen unter Verdankung der geleisteten Dienste».10
Lina ist in grosser Aufregung, doch richtet sich ihr Zorn nicht gegen Huber, sondern gegen Zürcher. In ihm sieht sie «die Quelle einer grossartigen Hinterlist, von der ich mich umzingelt glaubte; ich sagte mir, dass ich sozusagen wie ein armer Spatz in einem Netz gefangen wurde, ohne nur irgend eine Ahnung zu haben».11
In den folgenden Tagen erkranken die Wirtsleute Vontobel und Lina kümmert sich sowohl um die Gäste im Lokal wie um die beiden Patienten. Ihre privaten Sorgen rücken in den Hintergrund.
Hubers Hochstimmung bleibt indessen ungetrübt: «Wenn ich nur Worte finden könnte, dir zu sagen, wie klar? wohl es mir ist, seit ich weiss, dass du mich auch lieb hast – bist du nicht auch so glücklich? Ich danke dir unsäglich für deinen Entschluss, für deine Liebe. Mit jeder Stunde fühl ich es mehr, welche Lücke sie in mir ausfüllt, und hoffe nur eines, dass bei dir die gleiche Ruhe und Sicherheit obwalte.»12 Ungeduldig wartet er auf ein Lebenszeichen aus Zürich.
Als sich Lina vier Tage nach der Vorladung endlich einige Minuten für einen Brief stehlen kann, versetzen ihre Vorbehalte Huber in Panik. In der Zwischenzeit hat sie nachgedacht: «Das plötzlich unerwartete Zusammentreffen auf diese Weise raubte mir allen Halt, die Seelenangst in die ich in jener Stunde gerathen, wirkte zu sehr auf meine sonst schon empfängliche Natur. Erst jetzt wird mir klar, was ich Dir Alles gelobt, welch grosses Wort ich wagte auszusprechen und mein armer Verstand sucht jetzt einen Ausweg aus diesem Labyrinthe von Verwicklung.»13
War diese Verlobung ein grandioses Missverständnis? Oder Auftakt zu einer aussergewöhlichen Liebesgeschichte? Lina Weissert und Eugen Huber brauchten Jahre, um darauf eine gemeinsame, gültige Antwort zu finden.
TEIL I
LINA WEISSERT AUS HEILBRONN
Linas Kindheit liegt weitgehend im Dunkeln. In ihren Briefen tauchen vereinzelte Erinnerungen auf, kleine Geschichten aus der Schulzeit oder gelegentliche Episoden aus dem Leben ihrer Mutter, mehr nicht. Es ist anzunehmen, dass sie ihre ersten Jahre als Handwerkerkind in einer bescheidenen, jedoch wohlbehüteten Umgebung verbrachte. Erst der frühe Tod ihrer Eltern versetzte sie unvermittelt in ein fremdes Umfeld und eine unbarmherzige Arbeitswelt.
Als achtes Kind in der Ehe von Johannes Weissert und Johanna Barbara Rückert kam Lina am 6. August 1851 zur Welt (siehe Stammbaum auf S. 250/251). Heilbronn mit seinen rund 14 000 Einwohnern gehörte zum Königreich Württemberg, damals eine konstitutionelle Monarchie mit einer ausgeprägt liberal-demokratischen Opposition. Die Stadt schaute auf eine lange Tradition zurück und war auf dem Weg in eine neue Zeit: Tüchtige Unternehmer suchten den Anschluss an die Moderne. Auf dem Neckar erreichte am 7. Dezember 1841 das erste Dampfschiff von Mannheim herkommend Heilbronn,1 ein symbolischer Augenblick. Linas ältester Bruder Ernst war damals 10 Monate alt, ihre Schwester Pauline zwei Jahre alt.
Vater Johannes Weissert (1818–1865) stammte aus dem Dorf Stetten am Heuchelberg, im Januar 1840 erwarb er das Heilbronner Bürgerrecht.2 Am 2. Mai desselben Jahres folgte das Meisterrecht als Sattler. Schon am nächsten Tag verheiratete er sich mit der Heilbronnerin Johanna Barbara Rückert (1814–1864). Das Paar hatte in der Folge zwar elf Kinder, dennoch blieb die Familie klein – eine Folge der dramatischen Kindersterblichkeit selbst noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie sehr die fortwährenden Schwangerschaften die Gesundheit einer Frau beeinträchtigten, lässt sich nur erahnen.
Fünf der zwölf Kinder des Paares kamen tot zur Welt oder starben im Jahr ihrer Geburt. Ob Pauline Weissert, 1839 die Erstgeborene, Linas Schwester oder Halbschwester war, lässt sich nicht eindeutig bestimmen, die entsprechenden Dokumente sind verblasst und unlesbar.3 Sicher war sie eine Tochter von Linas Mutter.
Merkwürdigerweise erwähnte Lina ihre beiden jüngsten Geschwister Johanna Maria (1855–1856) und Adolf (1854–1856) nie. Bei deren Tod war sie bereits fünf Jahre alt und musste deren Krankheiten miterlebt haben. Anders verhielt es sich mit Ernst (1841–1859), dem Familienältesten, der 18-jährig starb. Mutter Weissert gelang es nicht, den tiefen Schmerz über den Verlust ihres Sohnes zu überwinden. An Ernsts 13. Todestag berichtete Lina im Brief an Huber: «Mit dem Tode dieses unvergesslichen Bruders begann der erste Schlag, der mir wirklich nahe ging, nicht nur einzig um des lieben Todten willen, sondern weil von da an meine Mutter untröstlich war, Tage, ja oft ganze Nächte hindurch weinte, und weder durch meinen Vater noch durch irgend Jemand Beruhigung finden konnte.» Umsonst schloss Lina ihre Mutter in die Arme, «zu trösten vermochte ich noch nicht».4
Lina stand ihrer Mutter sehr nahe. Mit der um ein Jahr älteren Schwester Emma (1850–1924) stritt sie sich, wer im Haushalt wie viel helfen dürfe. Die Mädchen trugen Wasser, wichsten Schuhe, machten Feuer, kurz, erledigten alle Arbeiten, für die sie gross genug waren. Lina nahm sich vor, sobald sie erwachsen sei, würde sie sich um die Mutter kümmern und diese müsse es schöner haben.5 Trotz allen Schwierigkeiten verstand es Johanna Weissert, den Kindern zum Beispiel an Weihnachten ein frohes Fest zu bereiten. Sie war überzeugt, dass die beiden Mädchen schliefen, wenn sie den Christbaum schmückte, doch die «kleinen Schelme» spähten durch den Vorhang, weil sie die «seligen Stunden» kaum erwarten konnten.6 1864 starb Johanna Weissert. Ihr einziger, letzter Kummer galt Lina. «Um mich war ihr bange, um die andern zwei Geschwister [Pauline und Emma] nicht, das sagte sie noch auf dem Totenbette.»7 Über Johanna Weisserts letzte Krankheit ist nichts Näheres überliefert.
Problemlos schaffte Lina die Schule. Später bedauerte sie, dass ihr das Lernen inzwischen schwerer fiel: «Ich habe nimmer die Leichtigkeit, die ich ehemals in der Schule besass.»8 Leicht habe sie auswendig gelernt, «wie selten eines in der Schule»,9 erinnerte sie sich stolz. Aus jener Zeit ist auch die Anekdote vom «furchtbar strengen Lehrer» der letzten Klasse überliefert. An ihn erinnerte sie sich «nicht anders als mit gewisser Furcht». Als er den Kindern das Aufsatzthema «Rom ist nicht an einem Tag erstanden» stellte, konnte niemand das Sprichwort deuten. «Und so diktierte uns der Lehrer, Rom ist nicht an einem Tag entstanden; es haben viele fleissige Leute Tage und Jahre lang daran gearbeitet und nicht nachgelassen bis die prächtige Stadt sich nach und nach erhoben; so ist Rom entstanden: Was Du zu thun beabsichtigst, mach’s auch so!» Dem Schulmeister war es gelungen, mit seiner Interpretation in Lina schwäbische Arbeitsmoral, Freude an Leistung und Erfolg einzupflanzen. Es war ein Satz, «der mir als Kind schon so wohl gefiel und den ich wohl nie vergessen werde»,10 schrieb sie Huber und ermunterte ihren Verlobten zum Durchhalten.
Nach dem Tod seiner Frau entschloss sich Johannes Weissert, mit Emma und Lina zur verheirateten Tochter Pauline in die Schweiz zu ziehen. Am 1. August 1864 traf das Trio in Zürich ein «und wir Kinder mit unsern naiven Ansichten glaubten, die grösste Stadt der Welt zu sehen. Wir taumelten in reinstem Glück …»11 Für Lina war es der endgültige Abschied von ihrer württembergischen Heimat. Die Faszination, die Zürich auf die Kinder ausübte, ist umso erstaunlicher, als Heilbronn damals grösser war und mehr Einwohner zählte. Immerhin war das erste Dampfschiff, die «Minerva», schon seit 1835 auf dem Zürichsee unterwegs.
Die beiden Mädchen lebten bei Schwester Pauline und Schwager Blatter an einem malerischen Platz in der Altstadt an der Oberen Zäune 66, der Vater hauste als Untermieter in der Nähe an der Niederdorfstrasse 47.12 Über Johannes Weissert berichtete seine Tochter kaum etwas. Mit einem einzigen Satz beschreibt sie in einem Brief die Welt ihres Vaters: «‹Nur immer kaltblütig›, waren die täglichen Worte meines Vaters, bei allem was Unangenehmes vorkam.»13 Drückt dieser Satz einen gewissen Gleichmut aus – oder war es Ergebenheit ins Schicksal?
Die Freude über das neue Leben war kurz. «Die erste Zeit gings natürlich schön, wir kamen überall herum, der gute Vater wurde mit allen Sehenswürdigkeiten der Stadt und Umgebung bekannt gemacht, und so verstrich ein schöner Theil der Zeit bis der Vater sah, dass er in Zürich nicht fand, was er suchte, eine Stellung die seinem Alter und seinem Handwerk entsprach, denn hätte ihm die Schwester nicht so grosse Versprechungen gemacht, er wäre nie mit uns Kindern nach der Schweiz gekommen. Des Suchens und Nichts Findens wurde er zuletzt überdrüssig und so sagte er denn Zürich Adieu, nachdem er einen schönen Theil seines Geldes verbraucht hatte. Er entschloss sich, mit Emma nach Heilbronn zurückzukehren, dort sein Geschäft wieder anzufangen und dann nachher mich nach Hause zu nehmen.»14 Wenige Wochen nach der Heimkehr starb Johannes Weissert am 12. Juli 1865. Lina, noch nicht 14-jährig, war nun Vollwaise, ihre Schwester Emma kam wieder nach Zürich.
Die 15-jährige Emma sollte sofort ihren Teil zum Familienbudget beitragen. Sie machte Wollarbeiten in einem Geschäft, doch das viele Sitzen bekam ihr nicht. Anderswo, als Botengängerin, klagte sie über schmerzende Füsse und gab auch diese Stelle auf.
Lina hatte miterlebt, wie Pauline und Johann Hartmann Blatter in stetem Unfrieden lebten. Regelmässig drohte die Gattin ihrem Mann, ihn zu verlassen. Eines Tages verschwand sie mit Emma und Lina, übernachtete bei einer Polizeidienersfrau und kehrte erst am folgenden Abend wieder heim.15 Im November 1865 wurde Lina Dienstbotin bei einer Wirtsfamilie, verliess diese aber nach drei Monaten und wohnte nochmals kurze Zeit bei Schwester und Schwager Blatter. Erst mit Antritt der Stelle in der Bollerei und der Beziehung zur Familie Vontobel wurde die Trennung endgültig.
Linas Verhältnis zu Pauline blieb auch nach ihrem Wegzug angespannt: «Ich mag noch schreiben wie ich will, ich werde immer falsch verstanden».16 Pauline habe seit jeher einen «neidischen Ton» ihr gegenüber gehabt und es gebe keine Briefe «ohne Zankereien»,17 beklagte sich Lina bei Huber. Allerdings war auch Lina zurückhaltend mit wichtigen Nachrichten. Sie informierte Familie Blatter nicht, bevor sie 1874 die Bollerei und Zürich verliess, wollte weder «Zu- noch Abratungen»18 hören und verbat sich jede Einmischung.
Linas Schwager Johann Hartmann Blatter – die Familie hatte eine Tochter Emma und wohnte inzwischen in Basel – war Mitglied des dortigen Polizeikorps. Im Oktober 1874 erhielt sie die Nachricht, er sei «schnell und unerwartet»19 gestorben. Erst Mitte November erfuhr Lina nähere Einzelheiten zu Blatters Tod. In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1874 hatte sich eine Tragödie abgespielt: Der Gefreite Blatter hatte sich auf dem Polizeiposten bei der Rheinbrücke mit seiner Dienstwaffe erschossen. Unmittelbarer Anlass war ein geringfügiges Vermögensdelikt. Im Abschiedsbrief an seinen Vorgesetzten Major Hoffmann beklagte er sich wortreich, dass er seit Längerem von einem gewissen Haller «verfolgt und sogar im Dienste mit Beschimpfungen beleidigt» worden sei. An die Adresse seiner Kollegen schrieb er in einem zweiten Brief: «Wünsche zu meinem Abschiede, dass jeder seinem Vorgesetzten den gehörigen Gehorsam leisten möge, jedoch sich nicht unterdrücken oder coujonieren lasse.» Waren es wirklich nur Probleme am Arbeitsplatz, die ihn in den Tod trieben? Trotz früherer Streitereien verabschiedete er sich von seiner Frau Pauline versöhnlich: «… ich weiss mit Wissen und Gewissen, dass du mir … stets eine treue und rechtschaffene Hausmutter warst. Leid thut es mir, dass ich mich auf eine solche Art und Weise von dir trennen muss. Wünsche dir und meinem kleinen Emma ein langes Leben, gute Gesundheit.»20
Paulines unglückliche Ehe hatte elf Jahre gedauert; Linas Schwester war jetzt mittellos. Sie wusste sich zu helfen, eröffnete eine Pension und kochte täglich für über 30 Kostgänger. – Huber war der Familie Blatter nicht gewogen – er fürchtete um Linas Ruf als unverheiratete Frau – und wohl nicht zuletzt um seinen eigenen.
Mit ihrer Schwester Emma (1850–1924) blieb Lina zeitlebens eng verbunden.21 Eine Frau wie Emma Weissert, ohne Ausbildung und Vermögen, hatte keine attraktiven Lebensperspektiven. In München wurde sie – ledig – schwanger, war also im Jargon der Zeit ein «gefallenes Mädchen». «Denke Geliebter, was ich mit meiner Emma durchgemacht, als ich die Nachricht erhielt, sie sei nach Basel gekommen, um dort ihr Kind zur Welt zu bringen. Wenn ich zurück denke, wird mir ganz schwarz vor Augen, wenn ich annehme, was für Zeiten schon hinter mir liegen.»22 Das Bébé Emma Weissert kam am 2. Juni 1871 in Basel zur Welt.23 Damals arbeitete Lina in der Bollerei und riskierte, dass jemand den Klatsch nach Zürich trug, mit katastrophalen Folgen für ihr eigenes Renommee.
1874 starb das kleine Mädchen an einer Lungenentzündung. «Wahrlich ein grosses Glück für Mutter und Kind; es ist traurig, dies zu sagen, aber es ist eben doch so.»24 Nun wollte sich Emma vom Geliebten trennen, der in seiner Wut keinen Spass verstand. Zornig forderte er nicht nur seine Geschenke zurück, sondern verlangte auch die Rückerstattung des Betrags, den er für das Kindbett ausgelegt hatte, selbst das Reisegeld, «womit das arme Mädchen von München nach Basel fuhr, um ihre Schande dort zu verbergen».25 In ihrer Verzweiflung suchte Emma Hilfe bei einem Anwalt, der sie beruhigte. Als der Bursche drohte, «er wolle nicht bürgen, dass es noch ein Unglück absetze, sobald er Emma antreffe»,26 flüchtete sie erneut zu Schwester Pauline und Schwager nach Basel.
Inzwischen hatte Emma einen braven Herrschaftskutscher kennengelernt, dem sein Patron jedoch die Ehe verbot. Emma nähte den ganzen Tag, verdiente aber nicht genug, um etwas auf die Seite zu legen. Endlich hatte der Patron ein Einsehen und erlaubte seinem Kutscher im Mai 1876 die Heirat.27 Als Lina zehn Jahre später auf der Durchreise in München ihre Schwester besuchte, war sie beeindruckt von deren stattlicher Erscheinung, sie kam ihr «wie eine Statue vor … so schön und gescheit schaute sie mich an».28 Materiell gelangten Emma und ihr Mann nie auf einen grünen Zweig. Bei finanziellen Engpässen mussten Lina und Eugen Huber unterstützend einspringen. Diese selbstverständliche Verwandtenpflicht führte nach Hubers Tod sogar zu Unstimmigkeiten unter seinen Erben. Trotz Hubers Wohlwollen blieb der Makel ihrer Jugendsünde an Emma haften. 1916 litt sie an einer Augenkrankheit und gelangte an ihren Schwager in Bern. «Sie mag gefehlt haben wie sie will, jetzt ist sie eine einsame Seele, der ich gerne die nötige Unterstützung zuwende»,29 kommentierte er. Emma Köhler-Weissert überlebte alle Verwandten ihrer Generation, sie starb am 18. Mai 1924 in München.30
Während Huber in ein enges verwandtschaftliches Netz eingebunden war, pflegte Lina im Lauf ihres Lebens nur mit ihrer Schwester Emma und der Tochter ihrer Schwester Pauline einen lockeren Kontakt. Onkel, Tanten, Vettern oder Cousinen spielten in ihrem Leben keine Rolle. Erklärt sich das mit ihrem frühen Wegzug aus Heilbronn? Oder wollte Huber, dass sie sich auf seine eigene Familie konzentrierte? Die Antwort ist nicht überliefert.