Loe raamatut: «Theorie und Therapie der Neurosen», lehekülg 5

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II Neurosenlehre als System

1 Endogene Psychosen

Person und Psychose

1 Psychogenese bei Psychosen

1.1 Kryptosomatische Genese

Mit den folgenden Ausführungen soll eigentlich nichts Neues vorgebracht werden, sondern nur Altes neu geordnet und Neues Altem eingeordnet werden.

Wir haben kennengelernt die Einteilung menschlichen Krankseins nach den zwei Einteilungsprinzipien Symptomatologie und Ätiologie. Wir unterscheiden dann phänopsychische und phänosomatische Krankheiten – je nachdem, ob ihre Symptome psychische oder somatische sind – und, was die Ätiologie anlangt, somato- und psychogene Krankheiten. Diesem Einteilungsschema gemäß fällt die Psychose unter die phänopsychisch-somatogenen15 Krankheiten.

Die Somatogenese der Psychosen darf allerdings nicht nur querschnitthaft vorgestellt werden; vielmehr schließt sie, sobald eine Längsschnittbetrachtung vorgenommen wird, mit in sich ein auch die Heredogenese.

Ebenso wie die von der sogenannten, sich so bezeichnenden psychosomatischen Medizin zutage geförderten Zusammenhänge nicht genügen, um an der Somatogenese der „Erkrankungen im banalen Wortsinn“ zweifeln zu lassen, ebensowenig ändert der von K. Schneider gekennzeichnete „Skandal der Psychiatrie“ (siehe Seite 53) etwas an der prinzipiellen Somatogenese psychotischer Erkrankungen, und auch trotz all der im einzelnen noch zu besprechenden Einschränkungen halten wir an der somatischen Genese solcher Erkrankungen fest. Unter solchen „skandalösen“ Umständen steht freilich dem nichts im Wege, daß wir, damit das Kind einen Namen hat, von einer kryptosomatischen Genese sprechen.

Solche prinzipielle Somatogenese schließt vor allem eines nicht aus: eine partielle Psychogenese. Nur daß unter partiell strukturell verstanden werden muß, aber nicht additiv. Somatogenese und Psychogenese, die noch zu besprechende Noogenese und Soziogenese lassen sich nicht addieren. Worauf es ankommt, ist vielmehr der Stellenwert, der jeder einzelnen zukommt, und dieser Stellenwert ist in verschiedenen Dimensionen des Menschseins lokalisiert; denn auch die Psychose erstreckt sich in verschiedene Dimensionen des Menschseins hinein – und die Psychiatrie hat sie in all diese Dimensionen hinein zu verfolgen. Wir haben die einzelnen Elemente und Momente nicht zu addieren, sondern zu dimensionieren. Vor allem aber dürften wir eines nicht tun: sie kontaminieren – indem wir die einzelnen Dimensionen durcheinanderbringen. Dies aber geschähe durch Verwechslungen, die im folgenden besprochen werden sollen.

1.2 Wirkung und Ursache

Uns Psychiatern ist, was wir als „sekundäre Rationalisierung“ bezeichnen, ein wohlbekanntes Phänomen. Es begegnet uns beispielsweise, wenn ein paraphrener Patient die Halluzinationen des Körpergefühls, an denen er leidet, in irgendeiner Richtung deutet, sei es, daß er, wie in früheren Zeiten, sich für besessen hielt, etwa vom Teufel, sei es, daß er, wie in den letzten Jahrzehnten, von Hypnose sprach, unter deren Einfluß er zu stehen glaubte, oder sei es, daß er, wie so oft in den letzten Jahren, das Radar ins System seines Erklärungswahns einbezog. Aber wie oft sehen wir nicht auch, daß die Angehörigen unserer Patienten sekundär rationalisieren? Wir hören da beispielsweise davon, daß ein in Brüche gegangenes Verlöbnis an der schizophrenen Erkrankung einer Tochter Schuld trage, oder aber die mehr oder weniger exzessive Masturbation eines Sohnes an seiner Psychose. In all diesen Fällen kommt es zu einer Verwechslung von post und propter hoc, wobei jeweils übersehen wird, daß das jeweilige hoc selber und seinerseits effectus war.

Um nur beim letzten Beispiel zu bleiben: daß exzessiv onaniert wurde, war keine Ursache, sondern bereits die Auswirkung der Erkrankung. Es handelt sich, mit anderen Worten, nicht um ein pathogenes, vielmehr um ein pathognomonisches Faktum. Aber eigentlich dürften wir Psychiater diesbezüglich keine Steine werfen, denn wir selbst sind ebenfalls nicht immer ganz freizusprechen von der Tendenz zu sekundärer Rationalisierung; denn wie oft spielt nicht auch uns selbst unser kausales Bedürfnis einen Streich? Im besonderen sind es die in pathogener Hinsicht inkriminierten und viel zitierten psychischen Traumata, Komplexe und Konflikte, die vielfach eben nicht pathogen, sondern nur pathognomonisch zu werten sind. Daß psychische Traumata und Komplexe überhaupt auftauchen oder daß jemand seinen Konflikten nicht gewachsen ist, gehört bereits in den Bereich der Symptomatologie, aber nicht der Ätiologie der betreffenden Psychose.

Nehmen wir uns als Beispiel die endogene Depression vor! Wie wir andernorts nachzuweisen versuchten, wird bei ihr die dem Menschen so eigentümliche Spannung zwischen Sein und Sollen in überhöhtem Maße erlebt und erfahren. Was der Patient in seinem Sein seinem Sollen schuldig bleibt, nimmt er unter die vergrößernde, verzerrende Lupe seiner endogenen Depression. Der Abstand des Seins vom Sollen wird erlebt und erfahren, als ob er ein Abgrund wäre. Aber an sich ist die Spannung zwischen Sein und Sollen – die Daseinsspannung, wie wir sie auch nennen –, an sich ist der Abstand des Seins vom Sollen unaufhebbar und unabdingbar: solange der Mensch bei Bewußtsein ist, bleibt sein Sein seinem Sollen etwas schuldig. Es ist keineswegs so, als ob diese überhöhte Daseinsspannung, dieser zu einem Abgrund vertiefte Sollensabstand die endogene Depression entstehen ließe (im Sinne von Pathogenese); vielmehr läßt die endogene Depression den Abgrund erscheinen (im Sinne von Pathognomie). Nicht die Daseinsspannung macht den Menschen krank; sondern die Krankheit endogene Depression läßt den Kranken dieser Spannung verzerrt und vergrößert gewahr werden.

Und was ist die endogene Depression an sich? Sie bleibt trotz alledem etwas Somatogenes – eine „Somatose“. Und zwar läßt sie sich vielleicht am treffendsten charakterisieren als vitale Baisse. Es mag aber auch statthaft sein, von einer Ebbe des „Biotonus“ (Ewald) zu sprechen.

Wie ist es nun, wenn bei Ebbe ein Riff sichtbar wird? Trotzdem wird wohl niemand die Behauptung wagen, das Riff sei – die Ursache der Ebbe; umgekehrt: durch die Ebbe wird es erst bloßgelegt. Aber ist es denn anders mit dem Abgrund zwischen Sein und Sollen? Wird nicht auch er nur sichtbar, nur bloßgelegt durch die endogene Depression – durch diese vitale Ebbe? So gilt denn: so wenig die Ebbe durch ein Riff, das da auftaucht, verursacht wird, so wenig wird eine Psychose durch ein psychisches Trauma, durch einen Komplex oder einen Konflikt verursacht.

Um beim Gleichnis von der Ebbe zu bleiben: nimmt die Ebbe zu, so gewinnt das Riff an Ausdehnung. Analoges zeigt sich bei der vitalen Ebbe, endogene Depression genannt.

So ist uns eine endogen-depressive Patientin bekannt, die im Ersten Weltkrieg aushilfsweise, eingerückte männliche Kollegen ersetzend, Postangestellte geworden war und Jahrzehnte später, gelegentlich einer endogen-depressiven Phase anamnestisch angab, sie hätte damals einen ganzen Postsack gestohlen. Nun kommt bekanntlich Realschuld in den wahnhaften Selbstvorwürfen endogen-depressiver Patienten kaum jemals vor. Tatsächlich ergab näheres Befragen, daß sich der Diebstahl auf einen alten, leeren Postsack – ohne Poststücke! – bezog. Daß der Patientin dieses minimale Delikt überhaupt einfällt, ist bereits Auswirkung der endogenen Depression, nicht aber Ursache. Weder die große subjektive noch die kleine objektive Schuld waren in diesem Falle pathogen; sie waren nur pathognomonisch.

1.3 Verursachung und Auslösung

Auch abgesehen von der soeben besprochenen Umkehrung des Verhältnisses zwischen Wirkung und Ursache verfällt die Psychiatrie nicht selten dem Fehler, den Unterschied zu vernachlässigen zwischen echter psychischer Ursache einerseits und bloßer psychischer Auslösung andererseits. Krankheiten, die vom Seelischen her (eben nicht eigentlich verursacht, sondern bloß) ausgelöst sind, verdienen nicht die Bezeichnung psychogen, vielmehr handelt es sich um eine Pseudopsychogenese.

Nun ist es eine Trivialität, darauf zu verweisen, daß psychische Erkrankungen, und so denn auch Psychosen, etwa durch Aufregungen ausgelöst werden können. Nur daß hierbei mit zu berücksichtigen wäre, daß derlei Aufregungen nicht etwa bloß ängstlicher Natur sein müssen: nicht nur ängstliche, sondern auch freudige Erregungen können eine psychische Erkrankung ins Rollen bringen. So oder so: es handelt sich jeweils um eine Art psychischer Streß-Wirkung. Auf der anderen Seite darf jedoch nicht übersehen werden, daß nicht nur durch dergleichen extreme Belastungen, sondern auch durch Entlastung – zumal eine plötzliche Entlastung – ein im Sinne von Auslösung vom Psychischen her zu veranschlagender pathogener Faktor mit eine Rolle spielen mag. Ich erwähne in diesem Zusammenhang bloß die charakteristischen Situationen der Entlassung aus KZ-Haft oder Kriegsgefangenschaft.16

Es gehört jedoch zum Wesen psychotischer Erkrankungen, daß sie unter Umständen einer Auslösung gar nicht erst bedürfen. Und weil gerade von KZ-Haft die Rede war: Uns ist ein Patient bekannt, der im Lager Dachau an einer Manie erkrankte, nach seiner Entlassung jedoch, trotz der freudigen Überraschung einer ungemein günstigen Emigrationschance, im Sinne einer melancholischen Phase schwer depressiv wurde. All dies spricht nur für die schlechthinnige Schicksalsunabhängigkeit echter Psychosen – oder, wenn man so will: für die Schicksalhaftigkeit psychotischer Prozesse selbst. Diesbezüglich haben ja die statistischen Untersuchungen von J. Hirschmann zur Genüge die relative „Umweltstabilität“ der Psychosen, ja auch von Neurosen klargestellt.17

Schließlich ist ja die Auslösbarkeit psychotischer Erkrankungen – ohne daß von Ursächlichkeit die Rede sein dürfte! – eine wohlbekannte und anerkannte Tatsache im somatischen Bereich: wir erinnern an die typische Auslösbarkeit psychotischer Zustandsbilder durch somatische Interkurrentien wie Typhus abdominalis18 oder Commotio cerebri.19 Aber nicht nur dies: nicht nur derartige pathologische, sondern auch physiologische Vorgänge kommen als auslösende Faktoren aus dem somatischen Bereich in Betracht. So sei nur erwähnt, daß die Pubertät doch eine typische zeitliche Prädilektionsstelle für den Ausbruch schizophrener Schübe darstellt (dermaßen typisch immerhin, daß diesem Umstand die Erkrankung ja den alten Namen Dementia praecox verdankt), während für endogen-depressive Phasen als wohl typischeste zeitliche Prädilektionsstelle das Klimakterium erwähnenswert ist. Beide – Pubertät und Klimakterium – bedeuten soviel wie eine Auslösung vom Endokrinium her; dennoch wird keinem einfallen, etwa die endogene Depression schlechterdings als eine endokrine Erkrankung hinzustellen.

Es ist selbstverständlich, daß gerade im Falle klimakterisch ausgelöster endogener Depressionszustände eine gleichzeitige Auslösung auch vom Psychischen her in Frage kommt: Wir denken an die Torschlußpanik und an die existentielle Bilanz – die Bilanz dessen, was einem das Leben und was einer dem Leben schuldig geblieben ist; fällt diese existentielle Bilanz wenn auch nur scheinbar und subjektiv negativ aus, dann handelt es sich freilich, wenn man so will, weniger um die psychische Auslösung einer endogendepressiven Psychose als vielmehr um die Kombination einer endogenen, psychotischen mit einer psychogenen, neurotischen Depression.

Fragen wir uns, worin denn letztlich und eigentlich der Unterschied besteht zwischen Ursache und Auslösung, so ist in einem Sinne auch die Auslösung eine Ursache, wenn auch nicht die Hauptursache, vielmehr sozusagen eine Nebenursache. Eine Nebenursache in diesem Sinne ist aber nicht nur die Auslösung, sondern auch, was man gemeiniglich Bedingung nennt. Etwas bedingen heißt ja ebenfalls noch nicht etwas bewirken und verursachen. Nun gibt es bekanntlich sogenannte notwendige und hinreichende Bedingungen, und wir können sagen: Während sich die Hauptursache als hinreichende Bedingung auffassen läßt, ist demgegenüber die Auslösung – sofern auch sie sich als Bedingung subsumieren läßt – als Nebenursache nicht nur keine hinreichende, sondern auch nicht einmal eine notwendige Bedingung; für sie müßten wir vielmehr den neuen Terminus prägen: (bloß) mögliche Bedingung!

1.4 Psychische Pathogenese und psychische Pathoplastik

1.4.1 Thematische Pathoplastik

Im weitesten Wortsinn psychogen sind Inhalte – zum Beispiel die Inhalte von Wahnideen: eine Tatsache, die ja längst schon konzediert wird bzw. auf der seit langem insistiert wird. Jedenfalls geht in solch weitem Sinne psychogenes Material in die Thematik wahnhafter Ideen ein.

Es ist das Verdienst der Psychoanalyse, daß sie den solcherart in die Thematik wahnhafter Gedankengänge eingehenden Faktoren analytisch nachgeht, nicht ohne die Absicht, sie bis ins Infantile zurückzuverfolgen. Mit Recht; denn es versteht sich von selbst, daß sich das Individuum als Zeitgestalt, die es ist, buchstäblich ent-faltet und aufrollt im Leben, das da abrollt, so daß erst ein Überblick über das abgelaufene Leben einen Einblick gewährt ins Individuelle, ins Individuum als solches.

Individuelle Pathoplastik. Aber dies gilt eben nicht bloß etwa vom Pathologischen: auch schon normalerweise präponderieren diese oder jene Bewußtseinsinhalte – je nach der Individualität. Und im Falle späterer Erkrankung pflegen wir von diesen immer schon präponderierenden Bewußtseinsinhalten in ihrer Gesamtheit zu sprechen als von der prämorbiden Persönlichkeit. Um sie als Thema kreist das Denken der Patienten – „wie die Nadel, die in der Rille einer Grammophonplatte steckenbleibt“, wie sich eine unserer Patientinnen so treffsicher ausdrückte. So kommt es, daß der eine Patient nicht loskommt von seiner Schuld, während es einem anderen Patienten weniger seine Schuld, seine moralische Schuld, angetan haben mag als vielmehr seine Schulden: seine finanziellen Schulden. In ersterem Falle haben wir es mit einem Versündigungswahn zu tun, im letzteren mit Verarmungsangst. Treten hypochondrische Wahnideen in den Vordergrund, so führt dies wieder zu Erkrankungsangst.

Kollektive Pathoplastik. Es ist nun selbstverständlich, daß die Wahl des Wahns, wie wir sie nennen möchten, nicht zuletzt abhängt von kollektivem Gedankengut, unter Umständen vom kollektivistischen Denken unserer Zeit. Und es ist in diesem Sinne, in dem sich füglich von einer Soziogenese innerhalb der Psychosenätiologie sprechen ließe. Es geschähe dies in einem paraklinischen Sinne – in einem Sinne also, in dem wir ja auch von kollektiven Neurosen zu sprechen das Recht haben. So hätten wir denn auch das Recht, von kollektiven Psychosen zu sprechen: sofern wir darunter nichts weiter verstehen als das Insgesamt soziogener und kollektiver Elemente und Momente, wie sie in die individuelle Psychose, in die Psychose in klinischem Sinne immer wieder sichtlich Eingang finden.

Sie aufzuspüren wäre Gegenstand einer Pathologie des Zeitgeistes. Die Psychosen selbst aber wären immer auch schon Ausdruck und – Spiegelung solcher Pathologie; denn nach der Zeit – nach dem Zeitgeist –, nach der Zeitgeisteskrankheit richten sich jeweils die prädominierenden Ideen – nach der Zeit richten sie sich jeweils, und mit der Zeit wandeln sie sich immer. Mit einem Wort: es kommt jeweils zu einem Dominanzwechsel der prädominierenden Ideen.

So wissen wir, daß die typische larvierte endogene Depression in den zwanziger Jahren für gewöhnlich maskiert war unter dem Bilde skrupulöser Zwangsvorstellungen, während sie heute mit vorwiegend hypochondrischen Angstvorstellungen einhergeht, unter einem phobischen Bilde verläuft und aus diesem Grunde unter der diagnostischen Etikette Vegetative Depression läuft. Wen wundert es, daß in solch einer Zeit das endogen-depressive Denken seltener um das Thema der Schuld des Menschen kreist als vielmehr um die vordergründigen Inhalte der leiblichen Gesundheit und der beruflichen Arbeitsfähigkeit.20, 21

1.4.2 Stilistische Pathoplastik

Persönliche Pathoplastik. Psychische Pathoplastik – und in diesem (aber eben auch nur in diesem) Sinne „Psychogenese“ – macht sich nun nicht nur in thematischer Hinsicht auf das jeweilige Wahnthema, sondern auch in stilistischer Hinsicht, im Hinblick auf den gesamten „Lebensstil“ (A. Adler) bemerkbar und geltend, und worauf es uns in erster Linie ankommt: – auch dieser Daseinsstil der prämorbiden Persönlichkeit läßt sich bis ins psychotisch Karikierte hinein verfolgen.

In dieser Hinsicht verdanken wir vieles nicht bloß der Individualpsychologie von A. Adler; sondern nicht minder hoch ist zu werten, was L. Binswanger mit seiner Daseinsanalyse zur Stilanalyse der Psychosen beigetragen hat. Nicht ohne daß es dem Kenner auffiele, wie sehr die Daseinsanalyse einer Ontologisierung der individualpsychologischen Lehre von der „tendenziösen Apperzeption“ gleichkommt.

Personale Pathoplastik. Über alles Individuelle und Persönliche hinaus läßt sich nun aufweisen, daß die Psychose mehr ist als eine bloße Krankheitsart: immer ist sie auch eine Weise und Möglichkeit des Menschseins. Bezüglich der endogenen Depression hat deren spezielle Existenzanalyse22, wie bereits angedeutet wurde, ergeben, daß die endogene Depression an sich, als Morbus nicht mehr und nicht weniger vorstellt als eine vitale Baisse; der Mensch aber, der sie hat: was ist er – als was hat gerade die Existenzanalyse, die allgemeine Existenzanalyse, ihn hingestellt? Als Wesen, das für sein Sein vor seinem Sollen verantwortlich ist. Vorhin haben wir gehört, daß diese Daseinsspannung vom endogen-depressiven Menschen auf eine spezifische Weise überhöht erlebt und erfahren wird. Nun, die vitale Baisse für sich würde nicht mehr und nicht weniger erzeugen als ein Gefühl der vagen Insuffizienz; aber daß sich der betreffende, von dieser Krankheit betroffene Mensch nicht bloß verkriecht wie ein waidwundes Wild, sondern daß er seine Insuffizienz als Schuld erlebt, gegenüber seinem Gewissen oder gegenüber seinem Gott – all dies liegt schon nicht mehr am Morbus endogene Depression, ist vielmehr der Beitrag des Menschen zur Krankheit, entspricht und entspringt einer Auseinandersetzung zwischen dem Menschlichen im Kranken und dem Krankhaften am Menschen. Es geht weit hinaus über die bloße vitale Baisse, über eine Psychosomatose; womit wir es zu tun haben, ist vielmehr eine Zutat der Person, etwas Personales und als solches etwas Transmorbides; denn die Person ist eine geistige und als solche jenseits von gesund und krank.

2 Existenzanalyse der Psychosen

Das Personale an der Psychose aufzuzeigen und aufscheinen zu lassen ist das Anliegen der Existenzanalyse. Sie versucht, den Fall transparent zu machen auf den Menschen hin, das Krankheitsbild transzendieren zu lassen auf ein Menschenbild zu. Das Krankheitsbild ist nämlich ein bloßes Zerr- und Schattenbild des eigentlichen Menschen – dessen bloße Projektion in die klinische Ebene hinein, und zwar aus einer Dimension des Menschseins heraus, die wesentlich jenseits von Neurose und Psychose gelegen ist, und in diesen metaklinischen Raum hinein geht die Existenzanalyse auch den Phänomenen und Symptomen neurotischen und psychotischen Krankseins nach.

In diesem Raume nun entdeckt sie etwas und erweckt sie etwas. Was sie entdeckt, ist eine unversehrte und unversehrbare Menschlichkeit; ihrer auch noch hinter aller neurotischen Zerrüttung und psychotischen Verrückung ansichtig zu werden, will uns die Existenzanalyse lehren.23

Wie anderweitige unbewußt gewesene Inhalte, so können auch solche im Sinne unbewußter Religiosität gerade in der Psychose und durch sie ins Bewußtsein emporgehoben werden. So kann denn auch Echtes und Ursprüngliches in der Psychose manifest werden, während es in der Normalität latent blieb, verdeckt und verborgen von Durchschnittlichkeit und Alltäglichkeit.

Im allgemeinen aber bleibt es selbstverständlich nach wie vor dabei: daß ein funktionstüchtiger psychophysischer Organismus die Bedingung dafür ist, daß sich menschliche Geistigkeit entfalte. Nur daß darüber nicht vergessen werden dürfte, daß das Psychophysikum, sosehr es solche Geistigkeit bedingen mag, dennoch nichts bewirken, solche Geistigkeit nicht erzeugen kann. Darüber hinaus sollte nicht übersehen werden, daß es jeweils der psychophysische Organismus allein ist, der da affiziert wird – etwa im Sinne psychotischer Erkrankung. Immerhin kann eine psychophysische Funktionsstörung bewirken, daß sich die hinter dem psychophysischen Organismus und, wie wir noch hören werden, irgendwie auch über ihm stehende geistige Person nicht zum Ausdruck bringen, nicht entäußern kann: dies ist es – nicht mehr und nicht weniger als dies – was die Psychose für die Person bedeutet. Auch bei R. Allers lesen wir: „Die Krankheit verhindert die Person an ihrer Selbstentäußerung“, und der Autor verabsäumt es nicht, in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß dies auch gilt „bei schweren Defektzuständen, etwa bei hochgradiger, durch mangelhafte Entwicklung des Gehirns begründeter Idiotie oder bei weit fortgeschrittener Demenz infolge von Zerstörung des Gehirns“.

Menschlicher Geist ist auf die Dienstbarkeit seines Leibes angewiesen; ja, mehr als dies: dieser Leib kann seinen Dienst auch aufkündigen – ich habe in analogen Zusammenhängen und in Anlehnung an die Potentia oboedientialis von einer „Impotentia oboedientialis“ (Dimensionen des Menschseins, Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie I, 186, 1953) gesprochen.24

Sobald und solange ich der geistigen Person nicht gewahr werden kann, deshalb, weil die Psychose sie eben verbarrikadiert und meinen Blicken entzieht – ebensolange kann ich selbstverständlich auch nicht therapeutisch an sie heran, und ein Appell muß scheitern. Daraus ergibt sich, daß ein logotherapeutisches Vorgehen nur in klinisch leichten bis mittelschweren Fällen von Psychose in Betracht kommt.

2.1 Sinndeutung und Sinnfahndung

Bekanntlich unterscheidet man zwischen Sinnfindung und Sinngebung. Der Versuch einer Sinndeutung der Wahnbildung, von dem vorhin die Rede war, ließe sich als Sinnfindung verstehen. Nur dürfen wir nicht vergessen, daß es sich bei der Deutung einer Wahnbildung um die Deutung eines Sinnes für mich als Arzt handelt, und wir hätten zu fragen, ob es auch einen Sinn gibt, den die Psychose in sich birgt, nicht für mich als Arzt, sondern für den Patienten selbst. Unseres Erachtens hat die Psychose tatsächlich auch einen Sinn für den Patienten selbst, aber dieser Sinn ist nicht gegeben, sondern er wird gegeben, der Psychose gegeben vom Patienten selbst: der Kranke ist es, der seiner Krankheit den Sinn zu geben hat. Zunächst hat er ihn zu suchen, hat er nach ihm zu fahnden.

Nun erinnern wir uns daran, daß die Existenzanalyse nicht nur etwas zu entdecken, sondern auch etwas zu erwecken bestrebt ist. Was sie entdeckt, ist die unversehrte und unversehrbare Menschlichkeit. Es sind nun drei Existentialien, die menschliches Dasein als solches, als menschliches (nicht nur charakterisieren, sondern) konstituieren: Geistigkeit, Freiheit und Verantwortlichkeit. Und sobald die Existenzanalyse versucht, Geistigkeit auch noch im psychotischen Dasein zu entdecken, bemüht sie sich, auch noch in ihm Freiheit und Verantwortlichkeit zu erwecken.

Tatsächlich eignet auch noch dem psychotischen Dasein ein Freiheitsgrad – Freiheit gegenüber der Überwältigung durch die Psychose – und ein letzter Rest von Verantwortlichkeit: Verantwortlichkeit für die Bewältigung der Psychose – für die Gestaltung des Schicksals, Psychose genannt; denn dieses Schicksal ist noch immer gestaltbar und erst zu gestalten.

2.2 Ekphorieren und appellieren

Die Existenzanalyse ekphoriert eine unversehrte und unversehrbare Geistigkeit, die auch noch hinter der Psychose steht, und sie appelliert an eine Freiheit, die auch noch über der Psychose steht: die Freiheit, sich mit der Psychose auseinanderzusetzen – so oder so: sei es sich ihrer erwehrend – sei es mit ihr sich versöhnend. Mit anderen Worten: die Existenzanalyse, sofern sie Psychotherapie ist bzw. sobald sie Logotherapie wird, ekphoriert nicht nur das Geistige, sondern sie appelliert auch an dieses Geistige – sie appelliert an eine geistige Trotzmacht. Wobei uns bewußt ist, wie sehr der Ausdruck appellieren in den Augen der zeitgenössischen Psychiatrie ein Greuel sein mag. Aber hat nicht W. von Baeyer25 gesagt: „Die ärztliche Pädagogik der Irren appelliert an Freiheit und Verantwortlichkeit“? Hat nicht J. Segers gesagt, daß „bestimmt moralischer Mut dazu gehört, an eine verantwortliche Freiheit zu appellieren“, daß „wir aber in der Anstalt diese Stufe erreichen müssen“? Hat nicht E. Menninger-Lerchenthal darauf hingewiesen, daß „die Melancholie manchmal nicht vordringt bis zum Kern der Persönlichkeit, in dem deren Grundhaltung verankert ist“? Unseres Erachtens kann auch noch der im Sinne einer endogenen Depression leidende Mensch qua geistige Person dieser Affektion des psychophysischen Organismus trotzen und sich so aus dem organismischen Krankheitsgeschehen heraushalten. Tatsächlich haben wir es bei der endogenen Depression mit einer psychophysischen Affektion zu tun; denn Psychisches und Physisches sind bei ihr gleichgeschaltet, parallelgeschaltet. Hand in Hand mit der psychophysischen Depression gehen somatische Anomalien der Menstruation, der Sekretion des Magensaftes oder dergleichen mehr. Der Mensch ist endogen-depressiv mit dem Magen, mit Haut und Haaren, mit Leib und Seele, aber eben nicht mit dem Geist. Vielmehr ist es der psychophysische Organismus allein, der affiziert wird, nicht jedoch die geistige Person, die ja als solche, als geistige, gar nicht affiziert zu werden vermöchte. Ob ceteris paribus der eine Mensch sich von seiner endogenen Depression distanziert, während sich der andere in diese Depression fallen läßt, liegt nicht an der endogenen Depression, sondern an der geistigen Person. Und so sehen wir, wie dem psychophysischen Parallelismus ein psychonoëtischer Antagonismus gegenübersteht. Ihn gilt es aufzurufen.

2.3 Daseinsanalyse der Psychosen

Die Daseinsanalyse von L. Binswanger behält die Möglichkeit eines solchen Aufrufs und Appells viel weniger im Auge. Nur daß dies nicht zu ihren Ungunsten in die Waagschale einer vergleichenden Beurteilung von Daseinsanalyse und Existenzanalyse fallen muß. Ist doch das Anliegen der Daseinsanalyse gar kein psychotherapeutisches; zumindest behauptet M. Boss: „Die Daseinsanalyse hat nichts mit psychotherapeutischer Praxis zu tun.“ Während die Existenzanalyse der Behandlung von Neurosen zu dienen versucht, ist es das Verdienst der Daseinsanalyse, zum Verständnis von Psychosen beigetragen zu haben. (In diesem Sinne ist die Daseinsanalyse der Existenzanalyse gegenüber nicht konträr, sondern komplementär.)

Um dieses Verständnisses willen muß die Daseinsanalyse die Einheitlichkeit des In-der-Welt-Seins (M. Heidegger) anpeilen, während die Existenzanalyse die Mannigfaltigkeit in dieser Einheit hervorkehren, die Einheitlichkeit dimensional aufgliedern muß in die Mannigfaltigkeit von Existenz und Faktizität, von Person und Organismus, von Geistigem und Psychophysikum, um überhaupt an die Person appellieren und die Trotzmacht des Geistes aufrufen zu können. Wenn sie wie die Daseinsanalyse die geistige Person in einem noopsychophysisch neutralen Dasein aufgehen ließe – an wen sollte ein solcher Appell und Aufruf dann adressiert werden? Der Adressat wäre unbekannt. Wessen Trotzmacht sollte dann aufgerufen werden? Gegen wessen Scheinmacht sollte sie ausgespielt werden? Wo in diesem Menschenbild zwischen der geistigen Person und dem organismischen Krankheitsgeschehen nicht mehr unterschieden werden könnte. Der endogen-depressive Mensch könnte sich nicht mehr von sich selbst distanzieren. Er wäre einheitlich endogen-depressiv, denn der psychotische Mensch, dessen Nun-einmal-so-und-nicht-anders-in-der-Welt-Sein zu erhellen die Daseinsanalyse so erfolgreich und verdienstvoll bemüht ist, wird durch diese Weise des In-der-Welt-Seins so sehr durchstimmt und durchwaltet, der psychotische Mensch ist so durch und durch befangen in seiner Weise des In-der-Welt-Seins, daß von einer Infiltration, Imbibition und Diffusion solchen Daseins durch die Psychose gesprochen werden müßte. Daseinsanalytisch gibt es für den psychotischen Menschen kein Heraus aus der psychotischen Haut des Nun-einmal-so-und-nicht-anders-in-der-Welt-Seins.

Haben wir eingangs den Geltungsbereich der Psychoanalyse abgegrenzt, was ihren Anspruch anlangt, zum Verständnis des Psychogenen an den Psychosen beizutragen, so erinnern wir uns nun daran, daß sich die Psychoanalyse selbst versteht und bezeichnet als dynamische Psychologie; demgegenüber würde der Daseinsanalyse eine Psychologie entsprechen, die sich als statische kennzeichnen ließe, während die Logotherapie, beiden gegenüber, als appellative Psychotherapie charakterisiert werden müßte. Für die Logotherapie ist ein biologisches Faktum wie die Psychose trotz alledem noch lange kein biographisches Faktum; denn während die Daseinsanalyse ja die Einheit in der Mannigfaltigkeit „Leib-Seele-Geist“ anpeilt, peilt die Logotherapie, umgekehrt, die Mannigfaltigkeit in und trotz der Einheit des Menschseins an, und zwar den Geist in einem fakultativen Antagonismus zur Leibseele, den wir – im Gegensatz zum psychophysischen Parallelismus (der ein obligater ist) – als psychonoëtischen Antagonismus bezeichnet haben. Die These der Logotherapie von der Schicksalhaftigkeit der Psychose ist für sie selbst, für die Logotherapie, keine fatalistische. Zwar anerkennt sie, innerhalb der Psychosengenese, keine echte, vielmehr nur Pseudo-Psychogenese, nämlich psychische Pathoplastik; dennoch anerkennt sie eine strikte Indikation zur Psychotherapie auch bei Psychosen, selbstverständlich nur im Rahmen simultaner Somatotherapie.

3 Logotherapie bei Psychosen

Wir haben gehört: Psychogenese gibt es innerhalb der Psychosengenese nur im Sinne psychischer Pathoplastik; weiters haben wir gehört, daß es – in diesem Sinne – auch Noogenese gibt, also auch eine Pathoplastik vom Geistigen her. Nun versteht es sich von selbst, daß es dort, wo es eine Pathoplastik vom Geistigen her gibt, auch eine Psychotherapie vom Geistigen her geben muß – auch bei Psychosen. Als Psychotherapie vom Geistigen her aber versteht sich selbst ex definitione, was wir Logotherapie nennen. Hier ist der Ort, wo Existenzanalyse in Logotherapie umschlägt.

Tasuta katkend on lõppenud.