Das Geheimnis der Schatten

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Das Geheimnis der Schatten
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Die erwachte Welt





Das Geheimnis der Schatten



- Der Jäger -





von



Viktoria Vulpini




1 Prolog





Eine fast gänzlich heruntergebrannte Kerze erhellte den niedrigen Raum, in dem er saß. Seine Hand lag schwer auf der hölzernen Kiste, für die er bereit gewesen war alles zu opfern - inklusive seines eigenen Lebens. Sein Blick fiel auf die schwächer werdende Flamme, die schon bald ausgehen würde und ewige Dunkelheit würde sich über diesen Raum und ihn selbst senken. Die Augen wurden ihm schwer und er war ganz sicher, wenn er sie schloss, würde er sie nie wieder öffnen.



Ein letztes Mal noch ging er alles durch. Egal was geschah, man würde die Truhe und seine Überreste erst in einigen Jahrzehnten finden, dieser ganze Raum würde solange verborgen bleiben, dafür hatte er noch gesorgt. Danach würde das Schicksal entscheiden müssen, ob dies alles seinen Gegnern in die Hände fiele oder dem nächsten Wächter, der auf der Seite des Lichts stand.



Bewusst ruhig schloss er die Augen, er schob das Unvermeidliche schon viel zu lange auf. Der Punkt, an dem er noch irgendetwas hätte tun können, war seit einigen Stunden überschritten. Für ihn gab es nur noch eine Sache zu tun, sich der letzten, großen Frage zu stellen, der sich niemand verweigern konnte.




1 Kapitel 1





Deutlich zeichnete sich die Gestalt auf dem beleuchteten Hof ab. Langsam und offenbar sehr mühevoll humpelte die Gestalt quer über den Hof und hielt auf die alte Scheune zu. Auch in der Küche, in der Vanessa am Fenster stand und das merkwürdige Treiben auf ihrem Hof beobachtete, war es dunkel. Trotz der unheimlich wirkenden Szene überkam sie eine Woge der Erleichterung. Schon gestern war ihr die Gestalt aufgefallen, die mitten in der Nacht über ihren Hof schlich, doch bisher hatte sie sie noch nie genau sehen können. Aus diesem Grund stand sie schon seit Stunden in der dunklen Küche und wartete, um dem Treiben nun ein für alle Mal auf den Grund zu gehen. Wirkliche Angst verspürte Vanessa keine. Vermutlich handelte es sich nur um einen Landstreicher, so etwas kam hier in der Gegend schon einmal vor.



Erst als die Gestalt in der alten Scheune verschwunden war, gab sie ihren Beobachtungsposten auf. Die Erleichterung hatte noch immer die Oberhand und dominierte alle anderen Gefühle. Sie hatte die Gestalt gestern wirklich gesehen, sie hatte sie sich nicht nur eingebildet. Schnell schüttelte sie den Kopf, um den Gedanken wieder los zu werden. Sie würde sich nun nicht mehr länger den Kopf darüber zerbrechen. Fakt war, hier war ein Fremder auf ihrem Hof und das würde sie nicht dulden.



Mit dem festen Entschluss, den Eindringling zur Rede zu stellen und anschließend zu vertreiben ging sie in den Flur. Immer noch ohne das Licht einzuschalten zog sie sich schnell ihre Turnschuhe an, nahm die Jacke von der Garderobe und bewaffnete sich mit einer Taschenlampe, die immer neben ihrem Schlüssel am Schlüssel-Bord hing. Den Schlüssel ließ sie in ihre Tasche gleiten und verließ das Haus.



Es war schon weit nach Mitternacht. Der Himmel war eine einzige grauschwarze Masse, durch die der Mond nur hin und wieder sein fahles Licht warf. Die Luft war klar, sauber, kühl und roch nach Regen. Sie vertrieb fast augenblicklich die schleichende Müdigkeit, die unbemerkt in ihre Knochen gekrochen war. Für einen Moment blieb sie lauschend stehen, atmete die frische, klare Luft ein und genoss die Stille, dann setzte sie sich in Bewegung um den Eindringling zu stellen.



Furcht empfand Vanessa keine, wenn sie wollte, dass der Eindringling verschwand, würde sich jemand darum kümmern müssen und wenn sie das nicht tat, dann hätte sie nur die Wahl die Polizei zu verständigen und die würden ihr ganz sicher nicht auf den Hof kommen. Eigentlich bezog sich diese Abneigung nicht einmal nur auf die Polizei sondern auch auf andere Behörden und wenn sie ganz ehrlich war, dann überhaupt auf andere Menschen. Die restliche Menschheit konnte ihr gestohlen bleiben. Dieser Hof hier war ihre persönliche kleine Oase der Ruhe, weit weg von allem und jedem und so sollte es auch bleiben.



Mit einigen raschen und fest entschlossenen Schritten erreichte sie die Scheune und schaltete die Taschenlampe ein, bevor sie die Tür öffnete. Die Scharniere der Tür gaben ein grausames Ächzen und Quietschen von sich, dann konnte sie in die Scheune hineinleuchten. Im Lichtkegel der Lampe tanzte der Staub und das Licht selbst enthüllte das heillose Chaos, welches hier immer noch herrschte.



Zwischen alten Möbeln standen Kartons und Kisten. Hier oder da lag ein alter Ballen Stroh herum, Spinnennetze waren zwischen den Möbeln aufgespannt und hatten zum Teil eine beeindruckende Größe erreicht. Es roch streng nach Moder und anderen Dingen, die sie nicht genau benennen konnte.



Der Anblick ärgerte sie. Dieses Chaos hätte schon vor fast einem Jahr entsorgt werden sollen, das zumindest hatte der Vorbesitzer des Hauses ihr hoch und heilig versprochen, bisher allerdings hatte sich nichts getan. Wenn man es recht bedachte, passte dieses Verhalten ganz genau zu ihrer Meinung über Menschen. Verlassen konnte man sich nur auf sich selbst. Der aufflammende Ärger verrauchte recht schnell wieder, als sie sich in Erinnerung rief, dass in einer Woche alle gesetzten Fristen abgelaufen waren und sie das Zeug dann einfach entsorgen konnte.



Ihr Blick folgte dem hellen Kegel, den die Taschenlampe in die Dunkelheit warf, doch mehr als den schon bekannten Müll, der sich hier auftürmte, bekam sie nicht zu sehen.



„Hallo?” Vanessa kam ihre eigene Stimme seltsam laut und schroff vor. Nur leises Rascheln und dann ein Quieken war zu hören. Ratten, das wäre ihre nächste Mission, sobald der Müll hier raus war. Die kleinen Tierchen fühlten sich in der Scheune pudelwohl und dachten gar nicht daran von selbst zu verschwinden.



„Hallo! Ich weiß dass Sie hier sind, zeigen Sie sich gefälligst!” Die Antwort war die Selbe wie bei ihrem ersten Versuch auch schon. Stille, leises Rascheln, ab und zu ein leises Fiepen und der Wind der durch einige undichte Stellen pfiff. Nicht ein Geräusch war zu vernehmen, welches hier nicht hingehört hätte und ganz langsam stieg Ärger in ihr auf, aber auch Furcht. Sollte sie sich den Schatten vielleicht doch nur eingebildet haben? Sollte es wieder losgehen? Eilig schüttelte sie den Kopf. Nein, sie hatte ihn gesehen - mehrfach! Bevor sie akzeptieren würde, dass es wieder los ginge, würde sie diese verdammte Scheune auf den Kopf stellen und wenn es sein müsste auch in jeden Karton und hinter jeden Schrank sehen.



„Letzte Chance! Sie zeigen sich freiwillig oder ich lasse Sie von der Polizei hier gewaltsam herausholen!“ Ihre Verärgerung war deutlich zu hören, aber das störte sie nicht. Sie würde sich sicher nicht auch noch bemühen freundlich zu sein. Wieder geschah nichts; Zweifel loderten auf in ihr. Was wenn hier niemand war? Sie wollte nicht darüber nachdenken. Wollte diese Möglichkeit nicht in ihrem Leben haben. Schon fast erleichtert nahm sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich Geräusche wahr, die definitiv nicht zu den hier üblichen Lauten gehörten. Bewegung. Ein leises Ächzen das gefolgt wurde von schlurfenden Schritten. Sofort schoss ihr die berühmte Zombieserie The Walking Dead durch den Kopf. Die Kulisse würde passen, die Geräusche auch, nur die Kameras fehlten. Ein fataler Gedanke. Nicht dass sie Angst gehabt hätte vor irgendwelchen Monstern, doch es säte erste Zweifel an ihrem Vorhaben. Ihr Mut schrumpfte zusammen und wenn sie ganz ehrlich war, wollte sie nun doch lieber weglaufen. Jetzt, in genau diesem Moment, wäre es ihr sogar egal gewesen, wenn sie sich die Gestalt doch nur eingebildet hätte, aber für einen Rückzieher war es nun ein wenig spät.



Sie hörte deutlich, dass der Eindringling nicht mehr weit entfernt war und hoffte inständig, dass er harmlos sein mochte. Das Bild eines besonders hässlichen Zombies kam ihr in den Sinn und war nicht sehr hilfreich, um Ruhe zu bewahren. Dann sah sie eine Hand, die sich an einem der Schränke festhielt. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Der Hand folgte eine Gestalt. Ein Mann in zerlumpten, dreckigen Kleidern, der schützend eine Hand vor das Gesicht hielt um sich vor der blendenden Lampe zu schützen. Der Mann mochte Mitte zwanzig sein, Anfang dreißig vielleicht, das war schwer zu sagen. Zumindest wirkte er relativ normal und lebendig. Er hatte dunkelbraunes, kurzes Haar, das eine Spur zu lang war um noch als ordentlich durchzugehen. Soweit sie das beurteilen konnte, war er gut gebaut und obendrein noch einen guten Kopf größer als sie selbst. Der größte Teil seines Gesichts war durch seine Hand verborgen, so dass sie nicht viel davon sah.



Passend zu dem was sie schon wahrgenommen hatte, als der Mann den Hof überquerte, war er auch jetzt langsam und humpelte heftig. Neben dem Schrank blieb der Mann stehen, ein Verhalten, das Vanessa durchaus recht war.



„Bitte, ich bin in ein oder zwei Tagen weg. Rufen Sie nicht die Polizei, ich werde Ihnen nichts tun, mich Ihnen nicht nähern und Sie auch nicht bestehlen.” Die Stimme des Mannes war leise, es klang erschöpft und kraftlos. Die ganze Art wie er es sagte, überraschte sie und ließ sie erschauern. Als sie nicht sofort reagierte, fügte er müde hinzu: „Ich kann nicht mehr weiter - bitte.“



Vanessa senkte die Lampe ein wenig, denn noch immer blendete sie den Mann damit. Auch der Mann ließ den Arm sinken und nutzte ihn lieber um sich am Schrank mit beiden Händen festzuhalten. Müde Augen richteten sich auf sie. Braune, sanfte Augen in einem leichenblassen Gesicht, das noch die Spuren einer Schlägerei trug.



Die Überraschung hatte ihr die Sprache verschlagen. Erwartet hatte sie etwas anderes. Natürlich war ein Landstreicher nie ein schöner Anblick, aber dieser Mann hier sah noch viel schlimmer aus, als alles was sie sich hätte vorstellen können. Erst jetzt fielen ihr die dreckigen Verbände auf, die hier und dort unter der Kleidung hervor lugten und die dunklen Flecken, bei denen es sich wohl um getrocknetes Blut handelte.

 



Mit leiser werdender Stimme versuchte er es noch einmal: „Ich werde Ihnen nichts tun, lassen Sie mich einfach nur ein oder zwei Tage hier bleiben. Ich kann wirklich nicht mehr weiter.”



Vanessa bemühte sich ihre Gefühle und Eindrücke unter Kontrolle zu bekommen. Sie war zutiefst schockiert und war sich absolut nicht sicher, was sie nun machen sollte. Immer noch den Blick starr auf den Mann gerichtet, versuchte sie ihren alten Plan auf diese Situation anzupassen, was aber nicht so wirklich gelingen wollte. Demnach blieb sie einfach bei ihrem ursprünglichen Vorhaben: Der Mann musste hier fort. Sie konnte ihn nicht hier bleiben lassen, sie hatte mehr als genug eigene Probleme und war einfach nicht im Stande noch mehr zu ertragen. Noch bevor sie jedoch dazu kam zu antworten, sah sie den Mann leicht schwanken. Dann brach er einfach zusammen. Als wäre plötzlich alle Spannung aus seinem Körper gewichen, gaben seine Beine nach und er schlug schwer auf dem Boden auf, wo er reglos liegen blieb.



Ihr Herz begann zu rasen. „Scheiße!”, ging es ihr durch den Kopf. Ohne wirklich darüber nachzudenken bewegte sie sich eilig auf ihn zu und ging neben ihm in die Hocke. Sie streckte die Hand nach dem Mann aus um ihn auf den Rücken zu drehen, doch sie zögerte für einen Moment.



Erst nach einigen weiteren Atemzügen packte sie den Mann vorsichtig an der Schulter und drehte ihn um. Frisches Blut sickerte aus einer kleinen Wunde am Kopf, die er sich beim Aufprall zugezogen haben musste. Er atmete, das ließ Vanessa aufatmen, doch gleichzeitig nahm sie die unnatürliche Hitze wahr, die sie durch die Kleidung an seiner Schulter spürte. Vorsichtig berührte sie die Stirn des Mannes, die feucht war und so heiß, dass sie schon fast erschrocken die Hand zurückzog. Sie musste einen Notarzt rufen. Dieser Mann musste so schnell wie möglich versorgt werden. Ihre erste Einschätzung, dass es ihm nicht sonderlich gut ging, war wohl maßlos untertrieben gewesen.



Es verstrichen weitere Sekunden, in denen sie zögerte, doch dann gab sie sich einen Ruck und machte Anstalten sich zu erheben. Doch weit kam sie damit nicht. Die Hand des Mannes packte plötzlich ihren Arm. Ein spitzer Schrei entfuhr ihr. Der Schreck lies Vanessa nach hinten ausweichen. Doch der Griff des Mannes war kraftlos, so dass sich die Hand leicht abschütteln lies und Vanessa zur Sicherheit noch ein paar Schritte Abstand gewinnen konnte. Immer noch pochte ihr Herz wie wild und ihre Beine waren sich einig, dass Weglaufen eine gute Idee wäre. Vermutlich hätte sie dem Drang auch nachgegeben, wenn der Mann irgendeine Anstalt gemacht hätte wieder aufzustehen. Doch der Mann machte keine Anstalten das auch nur zu versuchen, geschweige denn ihr zu folgen. Er lag immer noch erschöpft auf Boden, atmete schwer und nur sein Blick folgte ihr.



„Sagen Sie keinem, dass ich hier bin.” Seine Stimme klang müde, doch Vanessa meinte noch etwas anderes in ihr zu hören: Furcht.



Immer noch pochte ihr Herz wie wild und der Drang einfach davonzurennen wurde nicht kleiner. Wieso konnte sie zwar selbst nicht so genau sagen, aber sie wollte nur noch raus aus dieser merkwürdigen Situation.



Der Fremde blieb einfach liegen, es schien ihm schon schwer zu fallen, bei Bewusstsein zu bleiben. Er sah unglaublich müde aus und es schien fast so, als wäre der Grund dafür, dass er dem Drang zu schlafen nicht einfach nachgab, auch nur die nackte Angst. Was mochte diesem Mann wohl zugestoßen sein? Gab es hier womöglich noch eine andere Gefahr von der sie nichts ahnte? Dieser Gedanke lähmte sie für einige Augenblicke, doch dann schüttelte sie ihn ab. Vermutlich war er aufgrund des Fiebers nicht mehr so ganz zurechnungsfähig. Das klang nur logisch und beruhigte sie wieder ein wenig.



„Ich werde einen Krankenwagen rufen.” Ihre Stimme zitterte hörbar und spiegelte damit ziemlich deutlich ihre eigene Nervosität und Verunsicherung wieder. Sie löste den festen Griff um die Taschenlampe ein wenig und registrierte, dass ihre Hände feucht waren. Doch ihre eigenen Reaktionen waren nicht vergleichbar mit dem puren Entsetzen, das sich bei diesen Worten auf dem Gesicht des Mannes ausbreitete. Er stöhnte auf und versuchte dann tatsächlich wieder auf die Beine zu kommen. Sie wich einen weiteren Schritt vor dem Mann zurück, doch das wäre nicht notwendig gewesen. Der Mann bemühte sich zwar nach Kräften aufzustehen, aber es gelang ihm einfach nicht.



Es war ein grausamer Anblick mit anzusehen wie jemand, in ganz offensichtlicher totaler Verzweiflung und panischer Furcht, versuchte auf die Beine zu kommen und dies aber einfach nicht mehr schaffte. Dies löste in ihr schon fast Entsetzen aus. Für einen Moment starrte sie den Mann nur an. Sie war sich sicher: Dieser Mann brauchte einen Arzt, sonst würde er unweigerlich hier sterben oder ein paar Meter weiter irgendwo anders. Noch niemals zuvor hatte sie einen Menschen gesehen, der so dringend Hilfe gebraucht hatte, wie dieser hier.



Nur wenige Momente verstrichen, bevor der Mann seine Versuche schwer atmend wieder aufgab. „Ich bitte Sie, tun Sie das nicht.” Es war kaum mehr als ein Flüstern und er schien quasi alle Hoffnung verloren und sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben. Vanessa fühlte sich bei diesen Worten, als habe man ihr soeben einen großen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gegossen.



Sie blieb reglos stehen und ließ den Blick erneut über den Mann gleiten, doch ihre Gedanken waren nicht bei dem was sie sah, sondern sie waren bei diesen Worten. Ich bitte Sie, tun sie das nicht, waren ihre Worte gewesen. Ihre letzten Worte an einen Arzt, zu einem Zeitpunkt, bevor sie den Glauben an die Menschen verloren hatte. Bevor man sie ihrer Freiheit beraubt hatte. Es war nur zu deinem Besten, dass beteuerte man auch heute noch. Vielleicht glaubten die Menschen das ja wirklich, ihre Bekannten, ihre Verwandten und die Ärzte. In ihren Augen war es aber das Schlimmste, was man ihr hatte antun können. Erinnerungen an die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit und die unzähligen Tränen in den langen, einsamen Nächten stiegen in ihr auf und lähmten sie. Für einen Moment war sie wieder dort, in dem kleinen Raum, der so lange ihr zu Hause gewesen war. Eisige Kälte breitete sich in ihrem Körper aus und ließ sie erschauern.



Mühsam kämpfte sie die Erinnerung nieder und mit ihr die Gefühle, die in ihr tobten. Mühevoll holte sie sich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Sie hatte geschworen niemals so etwas zu tun. Niemals wollte sie einen Menschen zu etwas zwingen einfach nur, weil sie glaubte es wäre das Beste. Niemals wollte sie so handeln. Allein die Vorstellung sorgte dafür, dass ihr übel wurde. Ihr Blick glitt noch einmal über die Gestalt. Sie war im Begriff ihren Schwur zu brechen. Sie war dabei über den Kopf dieses Mannes hinweg, ja schlimmer noch, gegen dessen ausdrücklichen Willen, etwas zu tun. Einen Moment fragte sie sich, ob der Zustand des Mannes diese Situation hier nicht zu etwas völlig anderem machen würde, doch die Antwort fiel ihr leicht. Vermutlich würde der Rest der Welt das anders sehen, aber für sie war das kein Grund. Selbst die Wahl das Leben nicht weiterführen zu wollen, war eine Wahl, die freie Menschen haben sollten.



Hier her, ans Ende der Welt, weit ab von allen Menschen, die sie einmal kannte, war sie nicht ohne Grund geflohen. Ja, es war eine Flucht gewesen, weg von dem scheinheiligen Getue, weg von den Menschen, denen sie ihr Vertrauen geschenkt und die es mit Füßen getreten hatten.



Ein gemurmeltes, kaum noch verständliches „Bitte!”, holte sie schließlich wieder aus der Vergangenheit und ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. Noch einmal zögerte sie kurz, doch dann hatte sie eine Entscheidung getroffen und näherte sich dem Mann erneut, der nun wirklich keine Gefahr darzustellen schien. Die fiebrig glänzenden, braunen Augen blieben starr auf sie geheftet.



„Sie scheinen sehr krank zu sein, ich bin kein Arzt…”, Vanessas Stimme zitterte immer noch leicht und sie zuckte hilflos die Schultern. Es schien fast so als würden die Worte eine zentnerschwere Last von dem Mann nehmen, sie konnte quasi sehen, wie die verkrampften Muskeln sich etwas entspannten.



„Ich brauche nur etwas Ruhe.” Es war nur ein erschöpftes Murmeln. Die Art wie er das sagte, die Art wie er reagiert hatte, schienen ihr Recht zu geben. Sie hatte die richtige Wahl getroffen. Es war seine Entscheidung, nicht ihre und sie würde sich nicht anmaßen über irgendjemand anderen zu bestimmen.



„Meinen Sie, sie schaffen es rüber ins Haus?” Der Mann schien nicht recht zu glauben was er hörte, vielleicht dachte er, er würde halluzinieren. Sie hatte nicht weiter darüber nachgedacht und das wollte sie auch nicht. Es gab nicht viel von Wert in ihrem Haus, er schien nicht gewalttätig zu sein und selbst wenn er es war, war er in dem Zustand nun wirklich keine ernste Bedrohung. „Ich kann Sie schlecht in diesem Zustand hier liegen lassen. Es wimmelt hier nur so von Ratten. Es ist eiskalt und dieser Schuppen hier ist zugig und bietet quasi keinen Schutz vor der Feuchtigkeit.” Sie war selbst erstaunt, wie fest ihre Stimme plötzlich klang.



Der Blick des Mannes spiegelte dessen Verwirrung wieder. Doch in seinen Augen war auch eine Spur Skepsis und Misstrauen zu entdecken. Diesen wilden Mix an Gefühlen kannte sie nur zu gut. Anderen Menschen konnte man nun mal einfach nicht vertrauen.



Zehn Minuten später hatte sie es geschafft, den Mann die wenigen Schritte zu ihrem Haus und dort in die Stube zu bringen. Es war ihr ein Rätsel, wie sie das geschafft hatte. Der Mann war erstaunlich schwer gewesen. Zumindest hatte er sich alle Mühe gegeben ihr zu helfen. Nun saß er total erschöpft da und wartete darauf, dass sie fertig wurde die Couch umzubauen und eine Decke darüber zu legen. Auch das Glas Wasser nahm er dankbar an und leerte es.



„Legen Sie sich ruhig hin, ich werde ihnen noch einen fiebersenkenden Tee machen.” Mit diesen Worten und ohne auf eine Antwort zu warten ging sie in die Küche.



Schnell war der Tee gekocht, ein paar Brote geschmiert und das alles auf ein Tablett gepackt. Doch der Mann war währenddessen offenbar auf der Couch eingeschlafen, aber selbst im Schlaf wirkte er angespannt und unruhig. Einen Moment beobachtete sie die schlafende Gestalt. Dann holte sie von oben eine Decke, die sie über den Mann ausbreitete.



Obwohl er ganz offensichtlich total am Ende war, wachte er direkt wieder auf, doch er blickte sie nur kurz aus müden Augen an, bevor diese wieder zufielen und er wieder einschlief.





Noch einen Moment blickte sie auf den fremden Mann auf ihrer Couch hinab, bevor sie sich in die Küche zurückzog und ihn in Ruhe weiterschlafen ließ. Unentschlossen räumte sie eine Tasse in die Spülmaschine und wischte mit einem Lappen über die Oberflächen. Sie wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Sie war aufgekratzt und ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie schaltete das Licht in der Küche aus und setzte sich ans Fenster, um hinaus in den Hof zu sehen.



Ihre Gefühle und Gedanken waren wirr. Unsicher darüber, ob sie nun froh sein sollte, dass der Schatten keine Einbildung gewesen war oder nicht blickte sie in die spiegelnde Scheibe. Das Glas spiegelte sie matt wieder. Ihre hellen, blauen Augen wirkten irgendwie stumpf und dunkel. Die blonden Haare, die sie zu einem losen Pferdeschwanz gebunden trug sahen in der Fensterscheibe dunkel und irgendwie dreckig aus. Ihr Gesicht wirkte ebenfalls alt und fleckig, obwohl sie wusste, dass sie mit ihren gerade einmal 22 Jahren, noch keine Altersanzeichen im Gesicht hatte. Das einzig wirklich Reale, das ihr die Fensterscheibe zeigte, war die große, tiefe Falte, die sich auf ihrer Stirn gebildet hatte. Ein Teil von ihr war immer noch erleichtert und scherte sich nicht weiter um die Probleme, die diese Realität ihr nun bescherten. Der andere Teil machte sich heftige Sorgen gerade weil es real war. Da war ein sehr realer, fremder Mann in ihrem Wohnzimmer und zu allem Überfluss wirkte er unruhig, schon beinahe wie auf der Flucht. Wie sollte man diese Panik in seinen Augen sonst interpretieren? Die Idee behagte ihr ganz und gar nicht, denn vor wem könnte man hierzulande schon auf der Flucht sein? Doch eigentlich nur vor der Polizei. Kopfschüttelnd schob sie den Gedanken beiseite, es brachte nichts ihn weiter zu verfolgen, wenn sie es täte, würde sie nur noch unruhiger werden und das würde niemandem etwas bringen. Vielleicht gab es ja auch eine ganz harmlose Erklärung, die ihr nur noch nicht eingefallen war.

 



Draußen wurde das Wetter rasant schlechter, immer seltener lugte der Mond durch die schweren, dunklen Wolken und der Wind gewann deutlich an Kraft. Nach fast einer Stunde entschloss sich Vanessa noch einmal nach dem fremden Mann zu sehen und danach würde sie versuchen selbst ein wenig zu schlafen.



Sie erhob sich von ihrem Stuhl und verließ die Küche, durchquerte den Flur und betrat die Stube. Zu ihrer Überraschung saß der Mann aufrecht da und schien zu lauschen. Seine Züge waren angespannt, konzentriert und er sah schon wieder aus, als würde er gleich weglaufen wollen. Seine braunen Augen richteten sich auf sie. Misstrauen war in ihnen zu sehen.



„Ich denke, es wird heute Nacht noch ein Gewitter geben, das Wetter hat sich extrem verschlechtert.” Es war der Versuch ihn etwas zu beruhigen. Wie auf ein Stichwort heulte der Wind draußen auf und ein loser Ast wurde gegen das Fenster geweht. Es klang schon teilweise ziemlich merkwürdig, wenn der Wind draußen die alten Bäume zum Knarren brachte und gegen die Fensterscheiben hämmerte. In ihrer ersten Nacht allein im Haus, hatte es auch so gestürmt, sie erinnerte sich noch sehr gut daran, dass sie kein Auge zubekommen hatte.



Doch ihre Worte schienen den Mann nicht zu beruhigen. „Trinken Sie den Tee, der wird Ihnen gut tun.” Vanessa goss ihm etwas von dem dampfenden Tee ein, der nach Salbei und Kamille roch und setzte sich auf das kurze Ende der L-förmigen Couch.



Ein wenig zögerte er, doch dann griff er nach dem Becher und trank vorsichtig davon. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Für einen Moment entspannten sich auch seine Gesichtszüge ein wenig, doch das hielt nicht lange an. Seine steigende Nervosität war plötzlich wieder da. Vanessa verstand nicht, was in ihm vor sich ging. Hatte er vielleicht doch irgendein krummes Ding vor?



Seine Muskeln waren angespannt und er wirkte wieder irgendwie leicht abwesend. Es war vielleicht keine so dumme Idee ihn einfach in Ruhe zu lassen, doch genau in diesem Moment erklang ein ohrenbetäubendes Schrillen. Vanessa stieß einen erschrockenen Laut aus und ihr Herz blieb einen Moment stehen bevor es losraste.



Natürlich kannte sie dieses Geräusch. Es war die alte, mechanische Klingel, die im Flur angebracht war. Dieses Ding war praktisch wenn sie oben war, doch wenn man sich im Erdgeschoss aufhielt, war diese Klingel einfach nur viel zu laut. Auch der Mann war heftig zusammengefahren und starrte Vanessa nervös an.



Vanessa packte all ihren Mut zusammen und erhob sich. Ein Blick auf die Uhr, die an der Wand hing, fachte die Wut, die in ihr aufstieg, noch an: Es war kurz vor drei Uhr morgens!



Langsam erhob sie sich. „Ich schau mal wer da ist und jage ihn zum Teufel.” Ihre Stimme bebte noch leicht und der Schreck saß ihr noch tief in den Gliedern. Je mehr der Schreck aber langsam nachließ, desto mehr stieg in dieser Zeit ihr Groll gegen den Störenfried an. Wer in aller Welt mochte morgens um drei die Dreistigkeit besitzen bei ihr zu klingeln? Kopfschüttelnd und total verärgert beeilte sie sich dann zur Tür zu kommen. Das Letzte was sie wollte war, dass diese verfluchte Klingel gleich noch einmal loslegte. Sie schaltete das Licht in der Stube reflexartig aus und trat hinaus in den Flur, von wo aus sie schon durch die Haustür mit den Glaseinsätzen jemanden stehen sehen konnte. Neben der Tür, dort wo die Treppe zum ersten Obergeschoss lag, war ein kleines Fenster, dass sie kippte um mit den nächtlichen Störenfrieden zu sprechen. Zusätzlich nahm sie das Telefon, das auf der Kommode stand und wählte die Notrufnummer; den Daumen ließ sie über dem Rufknopf verweilen. Sicher war sicher und wenn hier irgendetwas schief ging wollte sie nicht unvorbereitet sein.



„Wer sind Sie und was wollen Sie?“ Ihre Stimme klang unfreundlich, genervt und wenig begeistert. Sie hatte auch nicht vor, an dieser Tonlage noch etwas zu ändern, sollte ruhig jeder mitbekommen, wie wenig erfreut sie über diese Störung war.



„Wir sind auf der Suche nach einem entflohenem Häftling, ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“, antwortete der Mann etwas unfreundlich.



In ihren Ohren klang das, als wäre sie in einem wirklich schlechten Film gelandet. Irgendwie weigerte sie sich das Gehörte wirklich ernst zu nehmen. Vor allem deshalb, weil sie sich fragte, wie es sein konnte, dass der Mann in ihrer Stube seit mindestens zwei Tagen schon hier war, aber erst heute jemand kam, noch dazu mitten in der Nacht und obendrein sollte man doch wohl meinen, dass man von einem entflohenen Häftling etwas gehört hätte. Objektiv war diese Einschätzung natürlich nicht, wenn sie wirklich einen entflohenen Häftling suchten, dan