Loe raamatut: «Ökologie der Wirbeltiere», lehekülg 14

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4.5 Elterliche Fürsorge

Eier und Jungtiere von Vögeln und Säugetieren benötigen Betreuung durch mindestens einen Elternteil (parental care). Die Fürsorge umfasst mannigfache Dienstleistungen wie die Zufuhr von Wärme und Nahrung oder Schutz vor Prädatoren und dient dazu, die Fitness der Nachkommen zu erhöhen (Clutton-Brock 1991; Smiseth et al. 2012). Für die Eltern manifestiert sich der benötigte Arbeitsaufwand aber wiederum als Kosten, die sich in verminderter Überlebensrate oder in verpassten Chancen für weitere Reproduktion niederschlagen können (parental investment; s. unten). Es sind also weiterhin trade-offs zur Fitnessmaximierung vonnöten (Alonso-Alvarez & Velando 2012; Kölliker et al. 2014). Dazu kommt jetzt, dass zwischen den Beteiligten Konflikte im Sinne unterschiedlicher Interessen bestehen, welche die trade-offs mitformen. Diese Konflikte können sich auf drei Ebenen abspielen: zwischen den Partnern (sexual conflict), zwischen Eltern und Jungen (parentoffspring oder interbrood conflict) sowie zwischen den Geschwistern (sibling oder intrabrood conflict). Welche Form und Intensität von elterlicher Fürsorge stattfindet und wie diese auf die Nachkommen verteilt wird, hängt in vielem von den ökologischen Gegebenheiten – oft dem Prädationsdruck – ab. Manche Aspekte sind wiederum phylogenetisch fixiert und Ausdruck der life history der betreffenden Art, andere hingegen können zeitlicher, räumlicher oder individueller Variation unterliegen. Individuelle Unterschiede kommen hier nicht zur Sprache, werden für Vögel aber beispielsweise von Williams T. D. (2012) ausführlich behandelt.

Phylogenetisch fixierte Muster

Grundsätzlich verhält sich die geleistete Betreuung umgekehrt proportional zur Gelege- oder Wurfgröße. Da Vögel und Säugetiere im Vergleich zu anderen höheren taxonomischen Gruppen wie Fischen, Amphibien oder Reptilien nur wenige Nachkommen pro Fortpflanzungsereignis produzieren, können sie den Jungen relativ viel Fürsorge zuteilwerden lassen. Modellrechnungen zeigen, dass die Evolution der elterlichen Fürsorge vor allem unter variablen Umweltbedingungen gefördert wurde, weil diese die Mortalität unbetreuter Eier oder Jungtiere ansteigen lassen würden, oder wenn die Mortalitätsrate der Adulten relativ hoch ist (Klug & Bonsall 2010; Bonsall & Klug 2011). Elterliche Fürsorge ist im Laufe der Evolution in verschiedenen Gruppen wohl mehrfach entstanden; die besonders aufwendige Form der Brutpflege bei Vögeln sowie Säugetieren muss sich in Koevolution mit der Endothermie entwickelt haben (Kap. 2.1). Vögel und die allermeisten Säugetiere unterscheiden sich jedoch voneinander im Entwicklungszeitpunkt, zu welchem die Nachkommen den Körper der Mutter verlassen. Alle Vögel sind ovipar, das heißt, sie legen Eier, die dann zur Entwicklung des Embryos der Zufuhr von Wärme bedürfen. Diese wird in den allermeisten Fällen mittels Bebrütung durch einen Altvogel transferiert (Ausnahmen s. Abb. 4.9). Durch Variation der Eigröße oder gewisser Inhaltsstoffe haben Vögel die Möglichkeit, die Fitness ihrer Nachkommen zu beeinflussen. Unter den Säugetieren sind die wenigen Arten der Kloakentiere ovipar. Alle anderen (Beutel- und Plazentatiere) sind vivipar, das heißt, die Embryonalentwicklung vollzieht sich im Körper der Mutter und die Jungen werden lebend geboren. Weshalb sich die verlängerte Aufenthaltszeit im Mutterleib entwickelt hat, ist Gegenstand verschiedener Hypothesen, unter anderem zu unterschiedlichen Fitnessauswirkungen auf Mutter und Jungtiere.

Vergleicht man hingegen den Entwicklungsstand der Vögel beim Schlüpfen untereinander und jenen der Säuger bei der Geburt, so findet man analog zwei Strategien, die phylogenetisch determiniert sind. Nesthocker (altricial) machen einen kürzeren Teil der Entwicklung im Ei oder Mutterleib durch und sind bei der Geburt nackt und hilflos, haben zum Teil verschlossene Augen und Ohren und verfügen noch nicht über eine funktionierende Thermoregulation. Beispiele sind Meeresvögel, Greifvögel, Tauben oder Singvögel, bei Säugern Beuteltiere, Nager oder Carnivoren, also vorwiegend Arten, deren Junge an geschützten Orten (schlecht zugänglichen Nestern, Höhlen und Bauen) zur Welt kommen. Die anschließende Entwicklungsgeschwindigkeit ist bei höhlenbrütenden Vögeln geringer als bei Jungvögeln in offenen Nestern, offenbar als Folge des Unterschieds im spezifischen Prädationsdruck (Bosque & Bosque 1995). Nestflüchter (precocial) hingegen sind bei Geburt schon so weit entwickelt, dass sie sich selbstständig bewegen, bald selbst Nahrung suchen und ihre Körpertemperatur weitgehend selbst halten können. Bei Vögeln sind dies etwa Enten- und Hühnervögel oder Watvögel, die alle am Boden brüten, bei Säugern Huftiere, Meerschweinchen und Hasen, die ihre Jungen ebenfalls frei setzen. Trotz ihrer phylogenetischen Fixierung reflektieren die Strategien also ökologische Rahmenbedingungen und damit zusammenhängende Eigenheiten der life histories. Interessant sind Vergleiche dort, wo sich innerhalb einer Ordnung einzelne Familien in den Strategien unterscheiden, weil man so die meisten übrigen Einflussgrößen des Bauplans konstant halten kann (Kappeler 2012). Dies ist beispielsweise bei Hasentieren (Hasen sind Nestflüchter, Kaninchen sind Nesthocker) und Nagetieren (Mäuse, Ratten und viele weitere sind Nesthocker, Meerschweinchen, z. B. Cavia magna, sind Nestflüchter) der Fall. Meerschweinchen produzieren im Vergleich zu anderen kleinen Nagern nur wenige und nach langer Tragzeit weit entwickelte Junge, was ein Merkmal einer langsamen life history darstellt. Allerdings sind die Jungen dann schnell geschlechtsreif, in Übereinstimmung mit der schnellen life history anderer Nagetiere. Diese ungewöhnliche Merkmalskombination hängt mit der speziell hohen Adultsterblichkeit zusammen, die offenbar die Entwicklung schneller Geschlechtsreife förderte (Kraus et al. 2005). Generell begünstigt, wie oben schon erwähnt, hohe Mortalität im Adultstadium die Investition in elterliche Fürsorge.

Beteiligung der Geschlechter an der Jungenbetreuung

Die Betreuung der Jungen kann durch beide Geschlechter (biparental), allenfalls in verschiedener Intensität, oder durch das Weibchen respektive das Männchen allein (uniparental) erfolgen. Dass sich die Geschlechter im großen Ganzen in höchst unterschiedlichem Maße an der Fürsorge für die Jungen beteiligen, hat mit dem erwähnten trade-off zwischen Fitnesserhöhung der Nachkommen und den eigenen Fitnesskosten zu tun, die sich über die verminderte zukünftige (residuelle) Reproduktion definieren. Der amerikanische Evolutionsbiologe Robert Trivers (*1943) führte dazu das Konzept des elterlichen Investments (parental investment) ein, das jegliches Brutpflegeverhalten bezeichnet, das eigene zukünftige Fitnesskosten zugunsten der Fitness der Nachkommen mit sich bringt. Zudem zeigte er die Interessenkonflikte zwischen den Eltern auf (Trivers 1972). Die Konflikte drehen sich um die Fragen: «Wer leistet die Betreuung?» und «Wer leistet wie viel Betreuung?» (Wedell et al. 2006; Lessels 2012).

Man hat mit spieltheoretischen Ansätzen zeigen können, dass die phylogenetischen Einschränkungen (zum Beispiel die Laktation der Weibchen), die Unsicherheit der Männchen bezüglich ihrer Vaterschaft sowie geschlechtsspezifische life histories zu evolutionär stabilen Strategien (ESS) führen, welche die unterschiedlichen Muster in der Beteiligung der Geschlechter generieren. Pionier solcher Untersuchungen war der britische Biologe John Maynard Smith (1920–2004). Neuere Modelle betonen sehr die Rolle geschlechtsspezifischer life histories, indem hohe Mortalitätsraten die Investition eines Geschlechts in die Jungenfürsorge fördern und starke Anisogamie (Kap. 4.1) deshalb die stärkere Beteiligung der Weibchen als der Männchen fördert (Kokko & Jennions 2008, 2012; Klug et al. 2013). Da die Bedürfnisse der Jungen ebenfalls berücksichtigt werden müssen, ergibt sich schließlich etwa folgendes Szenario: Kann ein Elternteil die Brut verlassen, ohne die Fitness der Jungen zu sehr auf das Spiel zu setzen, und gewinnt er dabei weitere Möglichkeiten zur eigenen Fortpflanzung, so kommt es zu uniparentaler Fürsorge. Hingegen sind beide Eltern in die Betreuung involviert, wenn der nötige Aufwand die Kapazität eines Elters übersteigt oder keine weiteren Paarungsgelegenheiten winken.

Bei Vögeln beteiligen sich in 90 % aller Arten beide Geschlechter, wobei in dieser Zahl 9 % mit kooperativem Brüten (s. unten) eingeschlossen sind. In 8 % erbringt das Weibchen die Fürsorge allein, und nur in 1 % der Fälle das Männchen. Das restliche Prozent entfällt auf Arten mit Brutparasitismus (Kap. 4.5) und die in Abbildung 4.9 vorgestellten Großfußhühner (Cockburn 2006). Trotz der hohen Rate der Beteiligung durch das Männchen liegt der größere Teil der Last meist dennoch beim Weibchen. Lässt es die Nahrungsversorgung zu, dass nicht beide Partner füttern müssen, so verlässt meist das Männchen die Brut. Arten ganz ohne Beteiligung des Männchens bei der Jungenfürsorge sind oft Nestflüchter, für die der Betreuungsaufwand gering ist, oder Nesthocker, die sich auf ein ergiebiges Nahrungsangebot verlassen können, wie tropische Frugivore und Samenfresser (Clutton-Brock 1991; Temrin & Tullberg 1995). Allerdings findet man bei manchen (nestflüchtenden) Watvogelarten männliche Brutpflege.

Bei den Säugetieren leisten die Weibchen in jedem Fall Fürsorge, in 95 % der Arten allein; die Männchen beteiligen sich in 5 % der Arten, übernehmen die Betreuung aber nie allein (Clutton-Brock 1991). Zu den Artengruppen mit Beteiligung des Männchens gehören vor allem gewisse Carnivoren (Hundeartige, Schleichkatzen, Hyänen) und ein Teil der Nagetiere (Trillmich 2010). Das starke Überwiegen der Fürsorge durch Säugetierweibchen hängt mit der Versorgung der Jungen mit Milch zusammen, die soweit bekannt ausnahmslos vom Weibchen allein geleistet wird (Kunz & Hosken 2009). Laktation hilft, Junge bei unregelmäßig schwankendem Nahrungsangebot regelmäßig füttern zu können (Dall & Boyd 2004). Die Dauer der Laktation schwankt zwischen wenigen Tagen bei manchen Robben, die extrem nährstoffreiche Milch produzieren, und bis zu drei Jahren bei Hominiden. Männchen beteiligen sich vorwiegend bei Nesthockern an der Fürsorge und können erst nach der Entwöhnung bei der Fütterung mithelfen. Sie übernehmen auch andere Betreuungsaufgaben. Bei manchen Caniden interagieren Männchen mehr mit den Jungen als Weibchen, etwa bei Spiel und Körperpflege (Kleiman 2011).

Bei biparentaler Fürsorge reduziert sich der Geschlechterkonflikt auf die Frage, wie viel Betreuung der einzelne Partner leisten soll. Viele Experimente haben geprüft, wie solche Konflikte ausgehen. Vögel füttern häufig nicht mit maximaler Intensität und können ihren Einsatz steigern, wenn der Partner den seinen reduziert oder ausfällt. Um sich aber dagegen abzusichern, dass der Partner sein Investment zugunsten einer zusätzlichen Beziehung zurückhält, kompensiert der andere dann nur unvollständig – gerade so, wie spieltheoretische Berechnungen vorhersagen (Harrison F. et al. 2009). Männchen sollten, ebenfalls gemäß Vorhersage, ihren Betreuungsaufwand reduzieren, wenn sie Zweifel an der Vaterschaft bei einzelnen Jungen der Brut hegen. Die empirischen Befunde stützen die Erwartungen, soweit sie die Hilfe bei der Bebrütung betreffen (Abb. 4.10). Hingegen fallen die Befunde bezüglich der Fürsorge für die Jungen nach dem Schlüpfen gemischt aus, wofür es viele mögliche Gründe gibt (Alonzo & Klug 2012). In einem Experiment an Blaumeisen (Abb. 4.6), bei dem die Anwesenheit eines weiteren Männchens vorgetäuscht wurde, reduzierte das ansässige Männchen darauf jedoch seinen Betreuungsaufwand wie erwartet (García-Navals et al. 2013). Die Arbeitsleistung der Elternteile muss sich aber nicht immer gegenläufig ändern: Wenn die Bettelrufe der Jungen größeren Nahrungsbedarf signalisieren, können auch beide Partner ihren Einsatz steigern.


Abb. 4.9 Großfußhühner bebrüten ihr Gelege nicht selbst, sondern lassen es im sandigen Boden durch die Bodenwärme ausbrüten, oder sie schichten wie das australische Thermometerhuhn (Leipoa ocellata) Laubstreuhaufen auf und bedecken diese mit Sand. Die Wärme wird in diesem Fall durch die Vergärung der Blätter erzeugt, wofür das Männchen täglich mit dem Umschichten von Material beschäftigt ist. Junge Großfußhühner sind vom Zeitpunkt des Schlüpfens an selbstständig und haben keinen Kontakt zu den Eltern, sie sind «superprecocial» (Starck & Sutter 2000).

Eltern-Kind- und Geschwisterkonflikte

Weil die Fortpflanzung für die Eltern mit Fitnesskosten verbunden ist, entstehen auch Interessenkonflikte zwischen ihnen und den Nachkommen. Jedes Jungtier fordert maximale Betreuungsleistung für sich selbst, etwa durch Bettelverhalten (Vögel) oder indem es an die mütterliche Milchquelle drängt (Säugetiere). Die Eltern hingegen können oder wollen nicht den maximalen Einsatz geben, um ihre residuelle Reproduktion nicht zu kompromittieren. Die Grundlagen zum Verständnis dieses Konflikts und auch jenem zwischen den Geschwistern lieferten die Arbeiten des britischen Biologen William D. Hamilton (1936–2000) zur genetischen Analyse sozialer Evolution, die Robert Trivers auf die Jungenfürsorge anwandte. Hamiltons Konzept der Gesamtfitness (inclusive fitness) betrachtet die Häufigkeit der eigenen Allele in der nachfolgenden Generation. Diese werden nicht nur durch die eigene Reproduktion weitergegeben, sondern auch durch Verwandte. Auf diesem Konzept rund um Verwandtenselektion (kin selection) baut die Erklärung für die Existenz altruistischen Verhaltens auf, also von Verhaltensweisen, welche die Fitness von Artgenossen auf Kosten der eigenen Fitness erhöhen (s. unten). Ähnlich erklärt sich auch der scheinbare Widerspruch, dass Eltern ihrem Nachwuchs Ressourcen vorenthalten, wenn doch die Nachkommen die Fitness der Eltern verkörpern. Hier ist die Fitness nicht auf der Ebene des Individuums repräsentiert, sondern auf der Ebene der Gene, wo egoistische Strategien konkurrieren können (Dawkins 1976).


Abb. 4.10 Bei vielen Singvogelarten übernimmt das Männchen etwa 50 % der Bebrütung des Geleges, wenn es davon ausgehen kann, dass seine Vaterschaft für alle Eier gesichert ist (im Bild ein Breitschnabelmonarch, Myiagra ruficollis). Andernfalls sinkt sein Beitrag am Aufwand mit zunehmendem Anteil von fremdbefruchteten Eiern. (Achtung: Die Skalen für den Anteil an der Bebrütungszeit und jenen der fremdbefruchteten Eier sind unterschiedlich transformiert). Abbildung neu gezeichnet nach Matysioková & Remeš (2013).

Entscheidend bei den Berechnungen ist der Verwandtschaftsgrad, der (als Verwandtschaftskoeffizient r ausgedrückt) bei monogamer Reproduktion zwischen Eltern und Jungen und zwischen zwei Geschwistern in derselben Brut oder demselben Wurf je 0,5 beträgt. Der Koeffizient eines Jungtiers mit sich selbst ist 1,0. Das bedeutet, dass aus seiner Sicht die empfangene Fürsorge doppelt so viel zählt wie für den gebenden Elternteil, aber auch doppelt so viel, als wenn die Fürsorge einem Geschwister in der gegenwärtigen oder einer zukünftigen Brut zugutegekommen wäre. Ein Jungtier sollte also unter Selektion stehen, von den Eltern die Versorgung mit Ressourcen zu erreichen, welche die Eltern lieber für spätere Fortpflanzung zurückhalten - denn für sie sind alle (eigenen) Jungen gemäß Verwandtschaftsgrad gleichwertig. Zudem sollte sein Verhalten dahin gehend selektiert sein, dass es auf Kosten der Geschwister einen überdurchschnittlichen Anteil der Fürsorge erhält, was ein Ausdruck des Geschwisterkonflikts ist. Beim Bettelverhalten von Vögeln haben Experimente gezeigt, dass die Intensität eine genetische Basis hat, dass zu intensives Betteln kostspielig ist und dass jene Jungen am besten fahren, welche die Intensität an die Erwartungen der Mutter anpassen (Hinde et al. 2010). Die Kosten von zu intensivem Bettelverhalten haben auch dazu geführt, dass Betteln in der Regel ein ehrliches Signal ist (honest begging), das den eigenen Hungerzustand richtig kommuniziert. Eine ausführlichere Darstellung dieser Zusammenhänge und weiterer Konsequenzen liefern zum Beispiel Mock & Parker (1997), Trillmich (2010), Davies N. B. et al. (2012), Kappeler (2012), Kilner & Hinde (2012) sowie Roulin & Dreiss (2012).

Und wie steht es um die empirische Evidenz für das Vorhandensein der genannten Konflikte? Für den Eltern-Kind-Konflikt sind sie schwierig nachzuweisen. Das Auftreten von aggressiven Verhaltensweisen bei familiären Disputen ist noch kein Beleg für einen evolutionären Konflikt, solange nicht unterschiedliche Fitnesskonsequenzen für die beteiligten Parteien nachgewiesen sind (Kilner & Hinde 2012). Solche hat man aber beispielsweise bei einer sich selbst überlassenen Population von Soayschafen (Ovis aries), einer frühen Form von domestizierten Schafen (Abb. 7.18), gefunden. Selektion über die Fitness der Mutter favorisierte größere Würfe (Zwillinge statt ein Junges), während die Fitness von Jungtieren größer war, wenn sie als Einzelkind geboren wurden (Wilson A. J. et al. 2005a). Das oben genannte Beispiel der vererbten Bettelrufintensität bei Vögeln zeigt zudem, dass Eltern-Kind-Konflikte auch in Koadaptation münden können.

In den meisten Fällen muss die Frage nach dem evolutionären Konflikt aber offenbleiben, etwa bei dem Problem des besten Zeitpunkts der Entwöhnung, der vom Weibchen aus gesehen früher stattfinden sollte als aus der Perspektive des Jungtiers. Oft hat das Jungtier gar keine Einflussmöglichkeit, und die Entwöhnung erfolgt bei manchen Arten im vom Weibchen vorgegebenen Zeitrahmen (Trillmich 2010). Experimente an Zebrafinken (Taeniopygia guttata), in deren Nestern man Junge verschiedenen Alters austauschte, zeigten hingegen, dass die Altvögel die Jungvögel stets bis zum Erreichen des Flüggewerdens fütterten (Rehling et al. 2012). Auch nach dem Ausfliegen versorgen viele Vögel ihre Jungen noch einige Zeit weiter mit Nahrung, doch können die Eltern bei Beginn einer Folgebrut dieses Investment vorzeitig beenden; die als Folge leicht erhöhte Sterblichkeit der Jungen wird wohl durch die Vorteile einer frühen Zweitbrut für die Fitness der Eltern überkompensiert (Naef-Daenzer et al. 2011). Bei großen und langlebigen Vögeln wie Gänsen oder Kranichen mit nur einer Jahresbrut und langfristigem Zusammenhalt der Partner erstreckt sich die Jungenfürsorge oft noch über die Zugzeit bis zum Ende der Aufenthaltszeit im Winterquartier (Abb. 4.27). In sozialen Systemen wie bei Primaten sind günstige Effekte der mütterlichen Präsenz auf Töchter und Söhne sogar nach deren Geschlechtsreife schon seit einiger Zeit bekannt. Neuerdings hat man ähnliche Wirkungen auch bei Huftieren gefunden (Andres et al. 2013).

Geschwisterkonflikte sind etwas einfacher identifizierbar, besonders wenn sie mit dem Tod von Jungen (siblicide), in der Regel von Nachgeborenen, enden. Meist findet der Konflikt aber lediglich im Rahmen von exploitation competition (Kap. 8.1) statt, indem die Jungen etwa durch die Intensität des Bettelverhaltens um die Zuteilung der Nahrung konkurrieren. Tätlichkeiten mit letalem Ausgang kommen als Folge von nicht vorhersehbaren Schwankungen in den Nahrungsressourcen vor, da die Brut- oder Wurfgrößen oft auf die optimale Versorgungslage ausgerichtet sind. Bei Säugetieren kann das Opfer das Junge eines nachfolgenden Wurfs sein, wenn das ältere aufgrund schlechter Nahrungsversorgung noch nicht entwöhnt ist, wie das bei zwei Arten von Ohrenrobben der Galapagosinseln nachgewiesen ist (Trillmich & Wolf 2008). In der Regel sind es aber einzelne Junge innerhalb desselben Wurfs oder der Brut, die umkommen, nachdem sich aufgrund von Dominanzverhältnissen Unterschiede in der Körpergröße herausgebildet haben (Abb. 4.11). Besonders bei größeren Vögeln wie Tölpeln (Sulidae) oder Pelikanen (Pelecanus) kommt es oft auch zu aktiver Tötung des kleineren durch das größere Geschwister (Kainismus). Dieser Aspekt wurde im Zusammenhang mit der «Versicherungshypothese» in Kapitel 4.4 bereits angesprochen. Bei manchen großen Greifvögeln ist dieser Vorgang praktisch obligat (obligate siblicide), bei den genannten Meeresvögeln hingegen oft nur fakultativ, indem er von der Nahrungsversorgung abhängig ist. Da diese Arten schon bei der Ablage des ersten Eis zu brüten beginnen, schlüpfen die Jungen zeitlich gestaffelt, was die Dominanzverhältnisse von Anfang an festlegt.


Abb. 4.11 Siblizid wurde bei Tüpfelhyänen (Crocuta crocuta) im Serengeti-Nationalpark, Tansania, in 9 % der Zwillingswürfe festgestellt; die Definition erfasste alle Todesfälle, die auf Aggressivität durch das stärkere Jungtier zurückzuführen waren, nicht nur direkte Tötungen. Die Rate stieg bei zunehmender Nahrungsverknappung und abnehmender Wachstumsgeschwindigkeit der Jungen an. Der Tod des Geschwisters bewirkte wieder schnelleres Wachstum bei den überlebenden Jungen, da die Mütter ihr Investment anschließend nicht verringerten (Hofer & East 2008).

Vogeleltern greifen in der Regel in die tätlichen Auseinandersetzungen nicht ein. Man kann daraus schließen, dass die Brutreduktion auch für die Fitness der Eltern förderlich ist, weil die als «Versicherung» für den Verlust der Erstgeborenen produzierten Jungen nun nicht gebraucht werden. Offenbar dient die Asynchronie beim Schlüpfen genau diesem Zweck (Forbes et al. 1997). Säugetiere hingegen intervenieren oft zugunsten von schwächeren Jungen (Trillmich 2010). Unterschiede in der Art von Geschwisterkonflikten zwischen Vögeln und Säugetieren sind teilweise dadurch bedingt, dass sich bei den Säugetieren durch Austragen und Säugen eine engere Beziehung zwischen Mutter und Jungtier ergibt (Hudson & Trillmich 2008). Zudem werden die Jungen nicht asynchron geboren und sie haben über die Zitzen in stärkerem Maße gleichwertigen Zugang zur Nahrung als junge Vögel (Mock & Parker 1997).

Es kommen aber zwischen Geschwistern nicht nur Konflikte vor. Auch Formen von Kooperation und Verständigung zwischen Geschwistern sind bei Säugetieren wie Vögeln nachgewiesen. Möglicherweise sind sie viel häufiger, als es den Anschein hat, einerseits weil die nahe Verwandtschaft altruistisches Verhalten lohnt und eigene Aggressivität auch kostenintensiv sein kann (Roulin & Dreiss 2012).

Kooperative Fürsorge und Helfer

Das Fortpflanzungsverhalten muss nicht nur im Zeichen von Konflikten stehen; es bietet sich auch Gelegenheit für Kooperation – beide gehen oft Hand in Hand. Als Kooperation ist ein Verhalten definiert, das einem anderen Artgenossen zum Vorteil gereicht. Entstehen einem kooperierenden Individuum dabei Fitnesskosten, so spricht man auch von Altruismus. Nicht alle Formen engen Zusammenlebens bei der Fortpflanzung sind aber kooperativ. Viele Arten leben und brüten lediglich in Sozialverbänden, wie manche Huftiere oder koloniebrütende Vogelarten, ohne sich aber an der Betreuung fremder Jungen zu beteiligen. Bei anderen Arten kommt es zur gemeinsamen Fürsorge (communal breeding oder care), wenn Weibchen mit eigenen Jungen fremde Jungtiere mitbetreuen. Bekannt sind etwa Kindergärten (crèche) bei koloniebrütenden Meeresvögeln: Ab einer gewissen Größe verlassen die noch nicht flüggen Jungen ihr Nest und schließen sich in Gruppen zusammen, die von einigen Altvögeln begleitet sind; jedes Junge wird aber von den eigenen Eltern gefüttert. Bei Säugetieren, die in engen Verbänden leben wie beispielsweise Löwen (Panthera leo), kann es auch zum gegenseitigen Säugen kommen. Solche reziproken Verhaltensweisen erweisen sich dann als Vorteil, wenn beim Tod eines Weibchens deren Junge vom anderen Weibchen adoptiert werden.

Kooperation respektive Altruismus bei der Jungenfürsorge ist dadurch definiert, dass Individuen anderen bei der Betreuung der Jungen helfen und selbst zeitweise bis ganz auf eigene Reproduktion verzichten (Übersichten bei Cant 2012, 2014). Kooperatives Brüten führt damit zu ungleicher Verteilung der Reproduktion auf die adulten Mitglieder der Gruppe (reproductive skew; Hager & Jones 2009); oft ist die Fortpflanzung innerhalb der Gruppe auf je ein dominantes Weibchen und Männchen beschränkt. Typischerweise sind die Gruppenmitglieder nahe miteinander verwandt (Hatchwell 2009). Derartige Fortpflanzungssysteme sind bei etwa 9 % der Vogelarten bekannt und verteilen sich über zahlreiche Familien (Cockburn 2006). Bei Säugetieren kommen sie nur bei etwa 2 % der Arten vor und konzentrieren sich bei Hundeartigen (Canidae), Mangusten (Herpestidae), Krallenaffen (Callithrichidae) und verschiedenen Familien innerhalb der Nagetiere (Lukas & Clutton-Brock 2012).

In eusozialen Gesellschaften ist die Arbeitsteilung unter den Individuen lebenslang fixiert. Diese weit gehende Form der kooperativen Fortpflanzung ist anders als bei Insekten bei Vertebraten sehr selten und auf afrikanische Nagetiere in der Familie der Sandgräber (Bathyergidae) beschränkt, die in Trockengebieten komplett unterirdisch leben und sich von Geophyten ernähren. Je nach Definition sind zwei, der Nacktmull (Heterocephalus glaber; Abb. 4.12) und der Damara-Graumull (Fukomys damarensis), oder auch einige weitere Arten eusozial (Burda et al. 2000). In der klassischen Form beim Nacktmull pflanzt sich in jeder Kolonie nur die Königin mit einem Männchen fort, die dazu sogar morphologische Anpassungen entwickelt hat, während die meisten übrigen Individuen lebenslang von der Reproduktion ausgeschlossen bleiben. In den meisten kooperativen Fortpflanzungssystemen ist der reproduktive Altruismus jedoch nicht permanent oder irreversibel, wenn auch die Unterschiede zur Eusozialität zu einem gewissen Maß graduell verlaufen. Man bezeichnet diese als Helfersysteme, weil es vor allem jüngere Adulte sind, die einem dominanten Paar bei der Aufzucht der Jungen helfen. Oft handelt es sich bei diesen um jüngere Geschwister der Helfer, da die Verwandtschaftsgrade innerhalb der Gruppe hoch sind.


Abb. 4.12 Die Eusozialität der Nacktmulle (im Bild ein adultes Individuum!) ist wohl aus einer Kombination verschiedener Ursachen entstanden, die soziale Komponenten (Inzestvermeidung aufgrund des hohen Verwandtschaftsgrades der Individuen), limitierte Abwanderungsmöglichkeiten und geklumptes Vorkommen der Nahrung umschließen, wodurch die Kosten von Dispersal und eigener Fortpflanzung für die Tiere zu hoch werden (Faulkes & Bennett 2001, 2009).

Die Frage, weshalb Individuen auf eigene Fortpflanzung verzichten und stattdessen Artgenossen helfen, deren Junge aufzuziehen, erschien lange als ein evolutionsbiologisches Rätsel. Die Theorie der kin selection (s. oben) lieferte dann eine Antwort: Helfer steigern die eigene Gesamtfitness, da ihre Arbeit der Fitness von Verwandten zugutekommt. Tatsächlich fördert die Mithilfe den Bruterfolg bei vielen Vögeln massiv, doch gleichzeitig steigt für die Helfer das eigene Mortalitätsrisiko. Auch bei den intensiv untersuchten Erdmännchen (Suricata suricatta, Abb. 3.10) zeigte es sich, dass etwa die Mithilfe rangniederer Individuen den Fortpflanzungserfolg des dominanten Paares ansteigen ließ. Insgesamt greift die Erklärung über die inclusive fitness aber zu kurz, denn Hilfe kommt oft auch Nichtverwandten zugute (Clutton-Brock 2002). Bei kooperativ brütenden Vogelarten sind sogar in 45 % der Arten nicht verwandte Helfer beteiligt (Riehl 2013).

Offensichtlich können sich für die Helfer selbst Vorteile ergeben, die aber je nach Artengruppe, sozialen und ökologischen Bedingungen differieren. Ein wichtiger Aspekt ist die Vermeidung von Inzest, der bei Arten mit reduzierter Möglichkeit des Dispersals eine Rolle spielt, etwa bei den bereits erwähnten Nacktmullen. Auch der Mangel an freien Territorien in saturierten Habitaten kann kooperatives Brüten fördern. Wenn abwanderungsbereite Vögel keine Chance haben, ein eigenes Territorium zu besetzen, bleiben sie im Elternrevier; mit der Beteiligung an der Aufzucht der jüngeren Brut «erkaufen» sie sich die Bleibeberechtigung und können auf die spätere Übernahme des Reviers hoffen. Die Wahrscheinlichkeit zu bleiben steigt dabei mit zunehmender Qualität des Elternreviers. Arten mit längerer Ontogenie mögen bei der zukünftigen Betreuung eigenen Nachwuchses auch auf die Erfahrung angewiesen sein, die sie als Helfer sammeln konnten. Und schließlich ist es bei manchen Säugetieren schon die vergrößerte Gruppengröße, die allen Beteiligten – Dominanten wie Helfern – unverzichtbare Vorteile bringt, etwa in der Abwehr von Prädatoren oder konkurrierender Nachbarsgruppen (Clutton-Brock 2002; Trillmich 2010).

Brutparasitismus

Eine Möglichkeit, bei den Fitnesskosten der Jungenfürsorge zu sparen, besteht darin, die Jungen von fremden Eltern aufziehen zu lassen, entweder der eigenen oder einer anderen Art. Diese Form parasitischen Verhaltens wird als Brutparasitismus bezeichnet und erfordert beim Brutparasiten ungewöhnliche Anpassungen, die evolutionsbiologisch von großem Interesse und entsprechend gut untersucht sind (Feeney et al. 2014). Brutparasitismus erfordert zunächst, dass die Wirte getäuscht werden müssen. Die Strategie zieht aber auch das Risiko nach sich, dass der Schwindel auffliegt und die Wirte die fremden Jungen entfernen, denn sie ziehen aus deren Aufzucht keinen Nutzen. Die notwendigen Täuschungsmanöver sind offenbar für Säugetiere zu schwierig, vermutlich weil die Weibchen ihre Jungen ab der Geburt über den Geruch erkennen. Jedenfalls sind bisher keine Fälle von Brutparasitismus bei Säugetieren bekannt geworden, wohl aber solche von Adoptionen. Vögeln steht hingegen die Möglichkeit offen, Eier in unbewachte fremde Nester zu platzieren. Die erfolgreiche Täuschung der Wirte bedingt, dass das Ei den Wirtseiern ähnlich genug ist und dass das schlüpfende Junge vom Wirt als eigenes akzeptiert wird.

Etwa 1 % der Vogelarten sind obligate Brutparasiten, das heißt, sie legen ihre Eier stets in Nester anderer Arten. Die Strategien sind unabhängig voneinander siebenmal entstanden (Payne 2005), davon dreimal bei Kuckucken (Cuculidae) und je einmal bei Enten, Honiganzeigern (Indicatoridae), gewissen Finken und Stärlingen (Icteridae). Die Kuckucke stellen die meisten brutparasitischen Arten, auch wenn ein Teil von ihnen selbst brütet, während bei den Honiganzeigern, soweit bekannt, alle Arten parasitieren (Short & Horne 2001). Obligate Brutparasiten unterscheiden sich aber voneinander in der Virulenz des Umgangs mit den Eiern oder Jungen des Wirts, und damit in den Kosten für den Wirt (Spottiswoode et al. 2012). Die Kuckucksente (Heteronetta atricapilla) legt anderen Entenarten ein Ei zu und verursacht damit nur geringe Mehrkosten beim Brüten, weil sich das Junge bald nach dem Schlüpfen selbstständig macht. Einige Kuckucke und Kuhstärlinge fügen ein Ei dem Wirtsgelege zu und zerstören allenfalls ein Wirtsei. Da ihr Junges dann mit den Wirtsgeschwistern zusammen aufwächst, ergeben sich für den Wirt zusätzliche Investmentkosten. Oft verhungern einzelne seiner eigenen Jungen aufgrund der kompetitiven Überlegenheit des Parasiten. Andere Brutparasiten entfernen jedoch die Eier oder Jungen des Wirts, sodass sie die gesamte Fürsorge der Wirtseltern monopolisieren können (Abb. 4.13). Für den Wirt resultiert ein Totalverlust der Brut, der häufig in derselben Saison nicht mehr durch ein Ersatzgelege wettgemacht werden kann (Spottiswoode et al. 2012). Fakultativer Brutparasitismus ist unter den Vögeln etwa doppelt so häufig wie obligater Parasitismus und kommt gehäuft bei Koloniebrütern oder Nestflüchtern vor, besonders bei Enten. Parasitiert wird normalerweise bei Individuen der gleichen oder einer nahe verwandten Art, indem selbst brütende Individuen zusätzliche Eier in Nachbarnester legen. So steigern sie ihren reproduktiven Ausstoß, ohne die entsprechenden Zusatzkosten selbst in Kauf zu nehmen, und erzielen positive Fitnesskonsequenzen (Lyon & Eadie 2008). Fakultativer Brutparasitismus ist wenig virulent, da es für den Wirt höchstens zum Verlust von einem oder wenigen Eiern kommen kann, eigene Junge aber nicht umgebracht werden.

Tasuta katkend on lõppenud.

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