Loe raamatut: «Die schweren Jahre ab dreiunddreißig», lehekülg 3

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Wichtigmann Weihbreyschan
Wie ich einmal Diedrich Diederichsen war

ES WAR AN DIESEM ABEND IN BIELEFELD Mitte November, ich hing bei Kornfeld rum, dem Hardcore-Gitarristen, der sich als Hilfslehrer für Mathe verdingt und als Taxefahrer, um sein Trio zu machen, Mania Steifen, mit Hammel dem Stenz und Schlippi, der singt, als hätte er einen PR-Vertrag für Pfanni-Knödel unterschrieben, so, als hätte er unentwegt etwas Weiches, Zerdrücktes und Nachgiebiges auf den Stimmbändern, zwischen Zunge und Gaumen und im Rachenraum; tropfnass waren wir durch die Gegend gelaufen, hatten im Mint, einem Treff der lokalen anpassungswilligen Oberschülerschaft, Pool gespielt, ich war Paul Newman gewesen in The Hustler, Haie der Großstadt auf ostwestfälisch, wie mit der Pocket-Kamera fotografiert, aber egal, die Kugeln liefen und nichts konnte mich aufhalten, nicht der weinerlich aus den Lautsprechern quäkende Morrissey und nicht die Sticheleien von Müller und Steini, die rauchend herumstanden und bedächtig am Malzwhisky zippten und die jetzt, nach einem kurzen Abstecher zu Müller, der noch eine Flasche spanischen Brandy in die kommenden Stunden zu investieren sich bereitgefunden hatte, bei Kornfeld einliefen, um den Abend angemessen zu komplettieren, abzurunden, ihm gleichsam Würze, ja eine Geschichte einzuhauchen; gemeinsam berauschte man sich noch einmal am Erlebten, an Kieseritzkys Lesung aus dem Buch der Desaster am Nachmittag in der Alten Spinnerei im Rahmen einer Bielefelder Literaturoffensive – in Berlin sagt man Irrenoffensive – sich nennenden Kulturveranstaltung mit Kleinkindern, schlechter Musik und Hausmeister, mehr noch aber am anschließenden Essen im Syrtaki, einem Fressgriechen in der Bleichstraße, wo Kieseritzky Wachtel, eine einzelne Wachtel orderte und sie auf eine Weise verspeiste, die stark an seinen just noch vorgelesenen Satz »Cunnilingus ist wie Schafehüten: dunkle, einsame Arbeit« erinnerte; »Aaah, mein kleines Wachtelmädchen«, lächelte ächzend der zartgliedrige Mann, packte den gebratenen Hühnervogel bei den Beinstümpfchen und schlug das Gebiss mittlings, im Schritt quasi, hinein, doch Dichter sind so, sonderlich, etwas abseitig, aber im Grunde nett, man liest und hört das ja immer wieder und so eben auch hier; zum Wiedereintauchen ins Gewöhnliche folgte das schon erwähnte Billard, das Schwenken der Queues, das Herausfummeln von Fluppen aus zerknautschten Packungen, Anlecken und In-die-Mundwinkel-wandern-Lassen, das Zusammenkneifen der Lider, die kurze Konzentration vor dem Stoß, das sachte Klack-Klack der Kugeln, Rituale des Boden-unter-die-Füße-Kriegens allesamt, und jetzt, Bielefeld lag schon und pennte maßvoll-zufrieden, kam das Absacken, das Nachschmecken, das Interpretieren, die Analysis in Kornfelds Hütte, wo es endlich Musik gab, die diese Bezeichnung verdiente, Jello Biafra musste ran, Lard, »Hör dir das an«, stieß augenleuchtend Kornfeld hervor, »der Mann ist ein Gott«, und du-duff-du-duff- duff zuckte der Schenkel, hämmerte der Kopf auf und nieder, Schneidezähne gruben sich in die Unterlippe, »der Mann ist ein Gott, seit den Dead Kennedys zieht der das durch, der Mann ist sowas von gut...« – »... jaja, ich weiß schon, ein Gott«, fuhr ich Freund Kornfeld nun schneidend in die elegische Laberparade, »kannst du nicht endlich mal aufhören mit diesem verspießerten individualistischen Künstlerkrams, sieh den Mann doch mal in seinem soziokulturellen Kontext«, blaffte ich den einigermaßen verblüfften Gitarristen an, »diese Heldenverehrung ist doch sentimental und beliebig, du musst den Mann in seiner Funktion begreifen, das geht doch gar nicht gegen ihn, im Gegenteil, der Mann ist ja wichtig als Musiker und mit seinem Alternative Tentacles-Label, aber doch nicht, weil er genial ist, sondern wegen seiner Funktion!«, heulte ich nun beinahe schon auf den immer kopfschüttelnd-entgeisterter mich aus kalten Augen anstarrenden Kornfeld ein, »da iss was dran«, orakelte Müller mit vager Handbewegung in die Runde, »lass den Mann reden«, aber Kornfeld schenkte ihm keinerlei Beachtung, sondern sich einen Brandy ein und warf mir nur ein verächtliches »Du hast doch wohl total das Rad ab!« hin, griff zum abgestellten Glas, das sich aber bereits Steini gegriffen und einverleibt hatte, der begütigend auf Kornfeld einsprach, »Lass doch, er meint das doch gar nicht so, er meint das doch ganz anders«, was wiederum mich in höchste Enragiertheit – in solchen Angebervokabeln dachte und formulierte ich mittlerweile schon, so weit war es mit mir gekommen – versetzte, »Wohl!« schrie ich, »Genauso mein’ ich das und keinen Deut anders!«, »Na dann«, seufzte Steini, zuckte wie resigniert die Achseln und nahm erneut das von Kornfeld wiedergefüllte Glas, während der nur »Das Letzte, das Allerletzte!« geradezu ausspie, und immer noch wullackte Jello Biafras Musik, auf die schon lange keiner mehr hörte, außer Müller vielleicht, der mit pendelndem Kopf auf Kornfelds IKEA-Couch hockte, was aber evtl. auch als ein Zeichen seiner Unentschiedenheit und seines Vermittelnwollens gedeutet werden konnte, geschenkt, ich war nun nicht mehr zu bremsen, ich war der Spex-Mann, ich hatte sie drauf, die Termini des Wichtigwichtig, die Diktion des Hipsters, die Code- und Passwords des Dabeiseins, »Haha«, funkelte ich Kornfeld jetzt geradezu dämonisch an und stieß ihn zur Seite, eilte an sein riesiges Plattenregal und schaute ihm beckmesserisch ins Auge, »und wo sehe ich hier die Musik des Ghettos, häh? Na, wo? Kein HipHop? Und wo ist der Reggae?«, begann ich die Platten aus den Ständern zu zerren und hinter mich zu schleudern, gierend nach Negermusik, ich, Diedrich Diederichsen, D.D. bzw. Dee Dee, das Crossover aus Quintenzirkel und Sozialkundeleistungskurs, der Guru der hornbrillentragenden bürgerlichen Jugend, der Klassensprecher auf Lebenszeit, ich war der Mann, der mit Buddha persönlich frühstücken ging, täglich, haha, und ich hatte einen stream of consciousness, mein Gott, hatte ich einen stream of consciousness, »Rastaman Vibration, ah ah positive« röhrte ich, händeflirrend und hüft (»hip!«)-schwingend, mit geschlossenen Augen mich wiegend, »de angrieh man is an angrieh man« jodelnd, zeitweilig ein schrilles »Hippieesk! Hippieesk!« oder auch bloß »positive vibration« einflechtend, unterlegt von Jello Biafra, guttural auf Kornfeld ein; der wandte sich schaudernd ab, griff zum x-ten Male zum natürlich von Steini stoisch bereits in sich versenkten Schnaps, während Müller, ganz gegen seine Gewohnheit, sehr entschieden in eine durch das Ende der Platte entstehende Pause fest, ja wie gegossen hineinsprach: »Reggae ist, neben Blasmusik und Rassentrennung, das Widerlichste, das die Menschheit je ersann«, und ich schrie, das sei jetzt kein »Dissing« mehr, sondern zum »Raven«, jawohl, und das tat ich dann auch, konvulsivisch, ekstatisch und ruckzuckend, in einem Schwall aus heißen sauren Bröckchen direkt auf Kornfelds bedauerlicherweise auch noch von seiner Mutter handgeknüpften Teppich, und das nahm mir irgendwie meine gute, meine souveräne Position, regelrecht schlapp machte ich, Kornfeld führte mich dann zur Taxe und meinte, er nähme es mir »nicht krumm«; ich war viel zu apathisch, um ihm zu widersprechen, auf dem Weg musste der Fahrer zweimal halten, die Diederichsen-Reste wollten nicht drinbleiben und schwappten in den Straßengraben, und zu Hause, in meinem alten Jugendzimmer, blätterte ich, es ging mir schon wieder gut genug dazu, in älteren Spex-Nummern:

»Gleich draußen vor den ratternden, expressionistischen Straßenbahnen in der rachitischen, ruinösen rheinischen Nacht«, oh Gott, das hatte ich geschrieben, ich, Diedrich Diederichsen, und ich fragte mich, wieso dann nicht gleich »rachitischen, ruinösen rheinischen Racht?«, stöhnend las ich weiter, »schlage ich die Kapuze über Kopf und Kragen zusammen ...« und es dämmene mir, dass, wenn’s Kapüzchen und der Kragen / überm Kopf zusammenschlagen und – pfffhhhh – heiße Luft entweicht, das nicht am Kragen liegt und nicht an der Kapuze, und leer und getröstet schlief ich endlich ein und hielt den Rand eine ganze, ganze Nacht lang.

1991

Johnny Thunders u.a.

SAMSTAG, 27.4.1991, KOLLEGE WILLEN ruft an, ob ich schon gehört hätte, Johnny Thunders ist tot, ich sage nee, hätt’ ich noch nicht. Mir fällt das 88er Konzert im Berliner Loft ein, Thunders völlig fertig, kann kaum stehen vor heroinbedingter Abgewracktheit, neben mir zwei auf Hardcore getrimmte Fischgesichter, »»Mann ey, vielleicht kratzt er heute ab, ey«, oh ja, und dann wären sie live dabeigewesen und könnten ihrer miesen Existenz einen Schuss Maggi-Würze geben; dieselbe Sorte trieb es im selben Jahr in die Konzerte von Chet Baker im Quasimodo, Jazzfettsäcke, die darauf warteten, dass der ausgemergelte Mann vor ihren Augen authentisch und dekorativ zusammenbräche; dasselbe, ebenfalls 1988, bei den Geburtstagsauftritten von Wolfgang Neuss in der UFA-Fabrik, ausverkauft, Gerangel und Gemotze an der Kasse, »ach Scheiße, der krepiert eh bald, dann kann ich’s mir auf Video ankucken«,«, und er krepierte dann ja auch termingerecht für den Videoten nur ein halbes Jahr später; und noch mal, im selben Jahr 1988 in derselben UFA-Fabrik, ein Auftritt der Drei Tornados, 45° Celsius auf der Bühne, Tornado Klotzbach kippt um, Herzinfarkt, wird hinter die Bühne geschleppt, in die Garderobe, ein Arzt aus dem Publikum behandelt ihn notdürftig, und nur knapp zehn Minuten später Geklopfe an der Garderobentür, tja äh, was denn jetzt wäre, drucks, aber es wäre doch erst eine halbe Stunde gewesen, und wie das denn jetzt aussehen würde mit dem Eintrittspreis – all das von Menschen, die sich als links, underground und sonstwie prima begreifen und immer bereit sind, für die gute Sache ihre Unterschrift zu geben.

Johnny Thunders hat den Voyeuren ein Schnippchen geschlagen und ist, wie vor ihm Chet Baker und Wolfgang Neuss, standesgemäß allein abgetreten. Holger Klotzbach ist wieder sehr lebendig, da haben die Aasfresser Pech gehabt, aber Nikki Sudden soll es sehr schlecht gehen.

Und die, denen einer fehlt, weil Johnny Thunders nicht mehr da ist, setzen sich in eine Ecke, legen »Checkin out in your last Hotel« von Herman Brood oder »»So alone« von Thunders auf und sind dann: allein. Und traurig. Und halten den Rand.

1991

Wie ich einmal Scorpions-Sänger Klaus Meine war

ICH WAR NIE KATHOLISCH, aber ich muss etwas beichten. Es war Sonntag, der 25. August 1991. Mit den Freunden und Kollegen Goldt und Weimer hatte ich in der Hamburger Kowalski-Redaktion bis zur Ausjemerjeltheit jeschuftet (»Mulde« machen), gegen drei Uhr früh hatten wir – Feierabend!!! – ein Lokal aufgesucht und zügig diverse durstlöschende Biere getrunken, woraufhin Herr Goldt auf dem Tisch herumkrabbelte und sich auch sonst eher zoologisch benahm, bis Herr Weimer und ich ihn nach guter alter Vater-Mutter-Art ins Alternativhotelbettchen verklappten, und dann waren Herr Weimer und ich noch in eine Normalokneipe Beim Grünen Jäger eingekehrt, fünf, halb sechs war es mittlerweile, außer Holsten gab es eine Musiktruhe, in die stopfte ich ca. 27 Mark hinein oder vielleicht auch 270 und drückte 300 oder 30.000 mal im Wechsel den »Shoop Shoop Song« von Cher – »If you wanna know if he loves you so it’s in his kiss – that’s where it is« –, so wunderbar wie wahr, und, nicht leicht geht es mir über die schamzerbissene Lippe, »Wind of Change« von den Scorpions. Noch nicht einmal die Ausrede, ich hätte nur die anderen Gäste, die Idioten, ärgern wollen, kann ich anführen – außer dem Wirt, Marcus Weimer und mir war niemand da, nein, einfach so, ohne Not, ohne Androhung von Folter o. dergl. drückte ich etwa 3.000.000 mal die Hymne der Greise jeden Alters, das Lied, das so platt ist, wie man die Scorpions dafür hauen müsste, »where the children of tomorrow share their dreams ...« jaulte ich, es war schrecklich, eine Mixtur aus Faszination und Ekel, ja, ich gestehe: Ich sang die definitive Arschkriecher-Ballade, ich war Klaus Meine, der windelweichste Mensch der Welt noch vor Gorbatschow.

1991

In der Nachbarschaft

VORMITTAGS GEGEN ELF BETRITT MAN das Postamt in der Skalitzer Straße. Im Eingang kauert wie an jedem Vormittag ein junger Mann von vielleicht 25 Jahren. »Kleingeld?« ächzt er; sein Gesicht ist voll pfennigstückgroßer, offener, nässender Wunden. Zwei große Hunde liegen bei ihm, und so muss der junge Mann den Lebensunterhalt für drei zusammenbetteln. Ist das klug von ihm? Oder folgt er nur dem Gesetz, das besagt: Je größer das persönliche Elend, desto höher die Anzahl der Haustiere, die man daran zu beteiligen hat?

Zum Köter jedenfalls hat der Kreuzberger Lumpenproletarier dasselbe schmierig-sentimentale Verhältnis wie der Normalspießer, der seinen fetten Dackel, Wanst übern Trottoir, hinter sich herschleift: tierlieb wie einst der Führer sind sie beide.

Über viele Zerstörte steigt man hinweg beim Rundgang durch die Nachbarschaft, und wenn auch klipp und klar ist, dass man auf der Seite der Marginalisierten steht und, auch wenn sie nerven, nicht gegen, sondern für sie Partei ergreift, so wäre es doch manchmal hilfreich, wenn man sie dabei nicht hören, sehen und riechen müsste. Patrick Süskind und Christian Dior jedenfalls könnten aus dem Bezirk Kreuzberg zwei Spitzenparfums destillieren: Iltîs und Alcôl.

Die Nachbarschaft ist aufgegebenes Gebiet mit aufgegebenen Menschen darin. Kiez haben vor »Erfahrungshunger« (Salman Rutschky) strotzende, sich selbst für links, fortschrittlich, alternativ und gut drauf sowieso haltende Leute solche Quartiere immer wieder genannt, Kiez, das klingt nach dem ganz echten wahren Leben, das ist Zille oder eben auch bloß Zwille sein Milljöh, hier kann man vergessen, dass man aus Schwäbisch Hall stammt, und sog. Lebensgefühl, gern auch Authentizität genannt, abgreifen von Leuten, die das selbst nie so nennen würden, und wenn man den kleinen Erfahrungshunger zwischendurch gestillt hat, kann man weiterziehen und in anderen Stadtteilen den ganz und gar unurbanen Ringelkiez mit Anfassen spielen.

Die Dagebliebenen strunkeln fatalistisch weiter, Bierbüchse in der Hand, autistisch von der Straßenecke aus die Welt kommentierend. Gern liegt Erbrochenes herum in der Nachbarschaft, Einwegspritzen sowieso. Und doch gibt es Tünsel, die raunen inmitten von Junkies und Leuten, die auf offener Straße einen ganzen Pansen an ihre drei stinkenden Riesentölen verfüttern, noch immer mythisch-mystisch von Kreuzberg!, verkleiden sich stundenlang und aufwendig vorm Spiegel als autonom, was ja eigentlich ein schönes Wort ist: unabhängig; geradezu zwanghaft wird der Kopf umfunktioniert zum Ständer für eine Demm dirty Fatlocks, ah!-Frisur, ein paar dekorative Risse in Hose und Jacke, einen Lappen um den Schädel gewickelt, und fertig ist der »Mensch in der Revolte« (Camus). In kleinen Schrebergärten kann man dann simulieren, was zu sein man sich woanders nicht traut, kann per Dekret eine Fläche von z.B. 40 Quadratmetern zur patriarchatsfreien Zone o.ä. erklären und diese frisch erklommene erschwindelte Höhe dann bis aufs Blut verteidigen. Mit Ku-Klux-Clean-Gesinnung kann man verfügen, dass die Gesetze der Welt auf meine persönliche Straße keinerlei Anwendung finden, und am Halleschen Tor endet der Horizont.

Wer aber nicht berufsmäßig in der Nachbarschaft wohnt, muss mehr sehen und mehr ertragen. In der U-Bahn gibt sich die Kaskade der Schnorrer die Klinke in die Hand. »Ich heiße Horst und bin HIV-positiv«, mümmelt einer, den Blick gesenkt; kaum hat er seinen Vers aufgesagt und seine Münzen eingesammelt, betritt ein neuer Kunde den Waggon: »Hallo! Ich bin der Klaus und obdachlos!« geht er seinen Job auf die forsche Tour an; groß ist die Komik der Situation und entsprechend das Gelächter, jener »Klaus« aber hat seinen Vorgänger nicht mitgekriegt und reagiert sauer: »Hey! Das ist nicht lustig! Aber ich hasse es zu betteln, und deshalb singe ich euch ein Lied. Ich habe es in meiner Muttersprache geschrieben. My mother was a gipsy, my father was a gigolo«, beginnt er jetzt mit starkem deutschen Akzent und in schneidendem Diskant zu schreien, »now she’s a famous doctor« geht es weiter, und an der nächsten Station wird er von einem Puppenspieler abgelöst. Schön wäre es, wenn all diese Kameraden gegen viel Geld im Cabaret Wintergarten aufträten, wo André Heller und Bernhard Paul mit der von ihnen ständig beschworenen »Phantasie, Magie und Poesie« das machen, was Hitler und Stalin mit Polen gemacht haben.

Nach einer kleineren Reise endlich am Flughafen Tegel angekommen, kann man sich amüsieren, indem man ankommende Inlandsmaschinen abpasst und die Passagiere betrachtet: identische Männer mit identischen gestreiften Hemden, identischen dunklen Anzügen, identischen Aktenkoffern und identischem Gesichtsausdruck; ob sie alle aus ein und demselben Reagenzglas stammen? Häufig werden diese Irrläufer der Evolution von Frauen abgeholt, die ihrerseits wieder einen identischen Eindruck machen. Oft schon habe ich mich gewundert, wie diese Menschen einander überhaupt erkennen, wie also immer das jeweils zusammengehörende Paar auch zusammenfindet. Selbst langes Grübeln blieb fruchtlos, bis die Erkenntnis blitzartig kam: Nein! Sie erkennen und finden sich gar nicht. Es nimmt einfach jede Frau irgendeinen dieser Männer mit nach Hause, ein Unterschied ist weder für sie noch für ihn feststellbar, die Verständigung klappt problemlos, die Codes sind identisch, die Bedürfnisse auch, und auch Geschlechtsverkehr, Wochenende und, Angestelltenvokabel Nr. 1, Jahresurlaub laufen reibungslos ab, egal, wer am Flughafen wen erwischt hat, funktioniert garantiert und überall, in Berlin, Frankfurt, München oder Düsseldorf.

In Düsseldorf, wo ich 1987 drei Monate lang in einer sog. Agentur für Kommunikation, einer Werbeagentur also, als Juniortexter arbeitete, betraten einmal drei schwere Herren von der Firma Frenzel das Konferenzzimmer und heckten gemeinsam mit uns Werbestrategen eine Kampagne aus. Einer der drei Sauerkonservenmogule brachte die Sache auf den Punkt: »Das ist doch unsere Frage: Wie ist die Gurke? Ist sie fein? Ist sie herb?«

Wie ist die Gurke? Ich habe nie aufgehört, mich das zu fragen.

1992

Klartext von Klarname Meyer
Till Meyer war Stasi-Mitarbeiter Na und?

WIE BITTER FÜR DIE TAZ-KOLLEGEN: Da hat man die Stasi im Haus gehabt, und die zeigte sich desinteressiert. Ließ einen quasi rechts liegen, schnüffelte, spitzelte und denunzierte nicht und forschte nichts aus, weil – jeder (Ex-)tazler weiß das – es in der taz nichts Unerforschtes gibt. Durch Till Meyers Selbstenttarnung via Spiegel-TV jetzt die eigene Bedeutungs- und Harmlosigkeit noch mal aufs Brot gelegt zu bekommen, tut weh, und entsprechend groß ist das Geschrei. Gewohnt betroffen wird von der »Natter am Busen«, von Undankbarkeit und Verrat geweint, wo man doch selbst so gütig war, dem Ex-Terroristen »eine Resozialisierungschance« einzuräumen - ach ja, Undank ist der Welten Lohn, buhuhu.

Ärger noch aber als die bloße Tatsache der Stasi-Mitarbeit kommt die chronisch Tiefbestürzten Till Meyers Haltung an: Einfach und klar, ohne sich zu winden, ohne Selbstmitleid steht er da: »Non, je ne regrette rien!« Warum auch: Till Meyer ist kein Spitzel und kein Denunziant wie zum Beispiel Anderson, der Dreigroschendichter, oder Wollenberger, der mit der Wanze im Schwanze in seine Frau hineinhorchte. Meyers Weigerung, jetzt auf dem Bauch liegend um Verständnis und Gnade zu winseln, wird ihm als »Stalinismus«, »Beton im Kopf« und so weiter ausgelegt von Leuten, die jahrelang ihre politischen Jugendsünden mit verbohrtem Hass auf die DDR abgearbeitet haben, um doch noch im Schoße beziehungsweise Arsche der Gesellschaft anzukommen – »je suis arrivé, hehe!«

Menschen ohne Würde und ohne Stolz präsentieren sich derzeit täglich, zeigen mit dem erigierten Finger auf sich selbst und ihre ehemaligen Mitstreiter, behaupten, von nichts gewusst zu haben oder zur Stasi-Mitarbeit gezwungen worden zu sein, ein halbes Volks betreibt kollektiv die Vernichtung der eigenen (politischen) Biographie und macht sich, als Folge dieses erbärmlichen Vorgangs, zur blinden Manövriermasse: gebrochene Figuren, mit denen man machen kann, was man will.

Auf den Stühlen der Päpstlichkeit nehmen schlechte Schriftsteller wie Jürgen Fuchs die Beichten ab; Bärbel Bohley, die so malen kann wie Stephan Krawczyk singen, betreibt die Talkshow als Existenzform, und Wolf Biermann, der politisch in der Nähe jeder Fernsehkamera steht, macht für den Spiegel Klamauk im Hause Gauck und ernennt sich dreimal täglich zum Heine von heute.

In dem Schleim aus Christlichkeit, Schuld und Sühne und medialer Wichtigtuerei wirkt Till Meyers klares Bekenntnis zur Stasi befreiend – es hätte für meinen Geschmack ruhig noch eine Nummer selbstbewusster ausfallen können.

1992